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Nadeschda Andrejewna Tolokonnikowa

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Nadeschda Tolokonnikowa während der Gerichtsverhandlung in Moskau (2012)

Nadeschda Andrejewna Tolokonnikowa (russisch Наде́жда Андре́евна Толоко́нникова; * 7. November 1989 in Norilsk, Sowjetunion) ist eine russische politische Aktivistin und Performancekünstlerin. Internationale Bekanntheit erlangte sie als Mitglied von Pussy Riot.

Leben

Tolokonnikowa hat an der Moskauer Lomonossow-Universität Philosophie studiert, ist Mutter einer Tochter (* 2008) und verheiratet mit dem Künstler und Politaktivisten Pjotr Wersilow.

Woina und Pussy Riot

Tolokonnikowa war von 2007 bis 2011 Mitglied des Woina-Kollektivs,[1] mit dem sie an zahlreichen öffentlichen, meist regierungskritischen Aktionen teilnahm. So versuchte sie mit anderen Aktivisten unter anderem den Prozess gegen den damaligen Direktor des Sacharow-Zentrums, Juri Samodurow, zu unterbrechen, indem sie im Gerichtssaal einen satirischen Song aufführten.[2] Im Jahr 2008 nahm Tolokonnikowa während ihrer Schwangerschaft mit ihrem Mann und anderen Woina-Mitgliedern an einer Gruppensexaktion im Biologischen Museum in Moskau teil, die gegen eine Initiative der russischen Regierung zur Steigerung der Geburtenrate im Land gerichtet war.[3][4]. 2011 nahm sie an einer Aktion der Woina-Gruppe teil, bei der sie mit anderen Aktivisten zahlreiche Polizistinnen im Dienst küsste.[5]

Tolokonnikowa Anfang Februar 2012 in Moskau

Im Vorfeld der russischen Präsidentschaftswahl von 2012 ist Tolokonnikowa seit Oktober 2011 ein aktives Mitglied von Pussy Riot und beteiligte sich an Putin-kritischen Performanceaktionen.[6] Zu weltweiter Aufmerksamkeit gelangte die Gruppe durch das sogenannte „Punk-Gebet“ gegen den russischen Patriarchen Kyrill I. und Wladimir Putin in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau am 21. Februar 2012.

Verhaftung und Verurteilung

Als Folge dieser Aktion wurde Tolokonnikowa zusammen mit Marija Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch in Untersuchungshaft genommen. Gegen die drei Aktivistinnen wurde Anklage wegen grober Verletzung der öffentlichen Ordnung (Rowdytum),[7] nach Paragraph 213 des russischen Strafgesetzbuchs erhoben. Nachdem ihren Anwälten nur sehr begrenzte Einsicht in die Anklageakten gewährt worden war, traten Tolokonnikowa und Aljochina in einen zweiwöchigen Hungerstreik.

Im Juli 2012 wurden die Ermittlungen beendet und offiziell Anklage erhoben. Am 17. August 2012 wurden sie wegen „Rowdytums aus religiösem Hass“ verurteilt, wogegen die drei Aktivistinnen am 27. August 2012 erfolglos Berufung einlegten.[8] Nadeschda Tolokonnikowa erklärte in ihrem Schlussplädoyer:

„Im Grunde genommen wird in diesem Prozess nicht über die drei Sängerinnen der Gruppe Pussy Riot verhandelt. Wäre es so, dann hätten die Vorgänge hier absolut keine Bedeutung. Dies ist eine Verhandlung über das gesamte Staatssystem der Russischen Föderation, das zu seinem eigenen Unglück in seiner Grausamkeit gegen die Menschen, seiner Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Ehre und Würde, so gern das Schlimmste zitiert, was in der russischen Geschichte je geschehen ist. Diese Imitation eines Gerichtsverfahrens kommt dem Muster der „Gerichtstroiken“ der Stalinzeit nahe.“[9]

Trotz anhaltenden Solidaritätskundgebungen nach der Verhaftung und Verurteilung, wurde in der russischen Öffentlichkeit der Auftritt von Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kirche mehrheitlich negativ und das Gerichtsurteil vorwiegend zustimmend beurteilt.[10]

Weltweit hingegen erfolgten gegen das Gerichtsverfahren und das -urteil Proteste von Menschenrechtsorganisationen, Politikern und Künstlern, darunter am 23. Juli 2013 ein offener Brief von 100 international bekannten Künstlern, der die Freilassung der Aktivistinnen forderte.[11]

Straflager

Die Strafe von zwei Jahren Lagerhaft hat Nadeschda Tolokonnikowa im Straflager IK-14 für Frauen in Mordwinien, rund 500 Kilometer entfernt von ihrer in Moskau lebenden Tochter, antreten müssen. „Ich erkenne meine Schuld nicht an und ich werde sie auch niemals anerkennen“, sie werde bis zum Ende gegen ihre Verurteilung kämpfen und ihren Fall wenn nötig vor den Obersten Gerichtshof des Landes bringen ... sie habe Prinzipien und werde diese verteidigen,[12] erklärte Tolokonnikowa, nachdem Ihr Gesuch vom April 2013 auf vorzeitige Haftentlassung in zweiter Instanz Ende Juli 2013 abgelehnt worden war.

Nach wiederholten Übergriffen von Mitgefangenen und Wachpersonal trat Tolokonnikowa am 23. September 2013 in einem neuerlichen Hungerstreik, auch aus Protest gegen die schlechten Haftbedingungen für sie und ihre Mitgefangenen, wie sie in einem offenen Brief erklärte.[13] Laut Tolokonnikowa werden die inhaftierten Frauen gezwungen, bis zu 17 Stunden am Tag zu arbeiten, sie hätte sich mehrfach beschwert und sei vom Gefängnisleiter mit dem Tod bedroht worden. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch beurteile Tolokonnikowas Vorwürfe als „extrem ernst und beunruhigend“.[14][15] Nachdem sich ihr Gesundheitszustand massiv verschlechtert hatte, wurde Tolokonnikowa am 29. September 2013 von der Krankenstation in das dem Haftlager angegliederte Krankenhaus verlegt.

Nach ihrer Rückverlegung in das Straflager IK-14, nahm Tolokonnikowa ihren Hungerstreik anfangs Oktober 2013 wieder auf. Die russische Strafvollzugsbehörde gab am 18. Oktober 2013 bekannt, dass Tolokonnikowa ihre zweijährige Haftstrafe bis März 2014 aufgrund ihrer „Beschwerden über Drohungen von Mitgefangenen und Wärtern“ in einem anderen Straflager verbüßen soll.[16][17] Pjotr Wersilow erwähnte am 2. November 2013 anlässlich einer Demonstration gegen die weitere Inhaftierung von Nadeschda Tolokonnikowa im Straflager IK-14, dass er seit 11 Tagen keinen Kontakt zu seiner Ehefrau gehabt habe.[18] Am 5. November 2013 wurde bekannt, dass Tolokonnikowa im Straflager IK-50 im sibirischen, mehr als 4000 Kilometer von ihrer Tochter entfernten Städtchen Nischni Ingasch untergebracht wurde,[19] ihre Familie mit ihr bislang aber noch keinen Kontakt gehabt haben soll.[20][21] Am 7. November 2013 hat Tolokonnikowas Verteidigerin die sofortige Freilassung beim Obersten Gerichtshof Russlands beantragt: „Wir verlangen die Aufhebung des Urteils“, wird Irina Chrounowa zitiert, „sie selbst wisse nicht genau, wo sich Tolokonnikowa befindet ... Für den Gefangenentransfer gibt es keine Fristen, es kann also lange dauern“. Amnesty International forderte einen Tag zuvor, dass Tolokonnikowas Familie „sofortig“ über Tolokinnowas Standort informiert werden soll, „wir befürchten, dass ihr eine Sanktion auferlegt wurde, weil sie sich beklagt hat“.[22]

Nachdem Tolokinnowas Ehemann zuletzt vor sechs Wochen und ihre Anwältin am 18. Oktober 2013 mit ihr gesprochen hatte, konnte Wersilow am 14. November 2013 mit seiner Ehefrau telefonieren und sich auf den Weg nach Nischni Ingasch machen. Ihre Tochter lebt in Moskau bei ihren Großeltern, malt Bilder für ihre Mutter oder entwirft Fluchtpläne, die sie ihr schickt.[23]

Überprüfung des Gerichtsurteils

Der Oberste Gerichtshof hat die Überprüfung der Urteile gegen die Inhaftierung von Maria Aljochina und Nadeschda Tolokinnowa angeordnet: Der im Urteil genannte Teilaspekt „Hass“ sei nicht ausreichend bewiesen worden, urteilte Russlands Oberster Gerichtshof und verwies das Urteil an das zuständige Moskauer Gericht zurück. Außerdem seien „weder das junge Alter der Angeklagten, noch ihre familiäre Situation oder die Gewaltfreiheit ihrer Taten berücksichtigt“ worden – Aljochina und Tolokonnikowa sind Mütter kleiner Kinder, womit nach russischem Recht ein Strafaufschub möglich gewesen wäre. „Zudem fehle ein stichhaltiges Motiv für die Anklage. Demnach stimmte auch die schriftliche Fassung des Urteils nicht mit dem im Gerichtssaal im August 2012 verlesenen Richterspruch überein.[24]

Für Tolokonnikowa und Aljochina ist die Anordnung des Obersten Gerichtshofs ein wichtiger Teilerfolg, nachdem der Justiz wiederholt politisch gesteuerte Willkür vorgeworfen wurde. Der russische Menschenrechtsbeauftragte, Wladimir Petrowitsch Lukin, der die Beschwerde beim Obersten Gericht namens der inhaftierten Aktivistinnen eingereicht hatte, und die Anwälte von Pussy Riot hoffen auf eine baldige Freilassung der Frauen.[24]

Begnadigung

Die Duma hat Mitte Dezember 2013 im Vorfeld der Olympischen Spiele in Sotschi über eine Amnestie für 25.000 in Russland Inhaftierte beraten, in deren Folge auch die Pussy Riot-Aktivistinnen ungeachtet der Überprüfung des Gerichtsurteils frei gelassen werden sollen.[24][25] Putin bestätigte im Rahmen einer Presse-Konferenz am 19. Dezember 2013 die Amnestie; wie schnell diese umgesetzt wird, ist derzeit nicht bekannt. „Sie können theoretisch noch heute herauskommen“, erklärte Irina Chrunowa, die Anwältin von Maria Aljochina und Nadeschda Tolokinnowa, vor Beginn von Putins Ankündigung. Die Angehörigen der beiden Aktivistinnen seien bereits zu den jeweiligen Straflagern gereist.[26] Offen bleibt die Frage einer Rehabilitierung aufgrund der vom Obersten Gerichtshof unterstützten Beschwerde und der Zürückweisung des erstinstanzlichen Urteils.

Commons: Nadeschda Tolokonnikowa – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Kerstin Holm, Frankfurter Allgemeine Zeitung (19. Januar 2012): Das Kunstkollektiv Woina: Wahre Kunst bedeutet Krieg, abgerufen am 27. September 2013.
  2. Christian Viveros-Faune, Art in America online (Ausgabe Juni 2012): The New Realism, abgerufen am 15. November 2013.
  3. The Daily Beast online (November 2013):Pussy Riot Member Ends Prison Hunger Strike After Falling Ill, abgerufen am 15. November 2013.
  4. Spiegel Online International: Interview with Pussy Riot Leader: 'I Love Russia, But I Hate Putin'
  5. Miriam Elder, globalpost.com (1. März 2011): Radical Russian art group shows love for the police, abgerufen am 15. November 2013.
  6. Bettina Sengling, Stern, Ausgabe 35/2012 (23. August 2012): Ikonen des Protestes.
  7. Bodo Mrozek, Frankfurter Allgemeine Zeitung online (23. August 2012): Unterdrückter Protest in Russland: Kurzer Prozess mit diesen Gammlern.
  8. Spiegel Online online (27. August 2012): Haftstrafe: Pussy-Riot-Punkerinnen legen Berufung ein, abgerufen am 30. September 2013.
  9. Frankfurter Allgemeine Zeitung (19. August 2012): Keine Reue – aus den Schlussplädoyers von Pussy Riot.
  10. Mark Adomanis, Forbes Magazine online (12. Juli 2012): What Do Russians Think About 'Pussy Riot?' The Answer Might Surprise You, abgerufen am 15. November 2013.
  11. Amnesty International: Über 100 internationale Künstler fordern Freilassung von Pussy Riot: Offener Brief von Adele, Bono, Madonna, Kate Nash, Yoko Ono, Radiohead, Bruce Springsteen, Sting, Die Toten Hosen und anderen, abgerufen am 28. September 2013.
  12. stern.de online (26. Juli 2013): Pussy Riot: Tolokonnikowa bleibt in Haft, abgerufen am 30. September 2013.
  13. Tages-Anzeiger online (27. September 2013): Vom Arbeitslager auf die Krankenstation, abgerufen am 27. September 2013.
  14. Die Zeit online: Pussy-Riot-Mitglied in Krankenhaus gebracht, abgerufen am 30. September 2013.
  15. Die Zeit online (27. September 2013): Nadeschda Tolokonnikowa: Sie behandeln uns wie Vieh, abgerufen am 28. September 2013.
  16. Abendzeitung München online: Pussy-Riot-Mitglied nimmt Hungerstreik wieder auf, abgerufen am 19. Oktober 2013.
  17. TAZ online: Pussy-Riot-Musikerin wird verlegt, abgerufen am 19. Oktober 2013.
  18. Zeit im Bild am Abend vom 3. November 2013 auf ORF 1.
  19. huffingtonpost.com (5. November 2013), in Agence France Presse: Nadezhda Tolokonnikova, Pussy Riot Member, 'Transferred To Siberia', abgerufen am 5. November 2013.
  20. Die Zeit online: Pussy-Riot-Mitglied in Krankenhaus gebracht, abgerufen am 30. September 2013.
  21. Bild online (7. November 2013): Pussy-Riot-Sängerin in Horror-Lager verlegt, abgerufen am 8. November 2013.
  22. 20 Minuten online (7. November 2013): Pussy-Riot sitzt im Straflager Nr. 50, abgerufen am 8. November 2013.
  23. Steven Geyer, Berliner Zeitung (14. November 2013): Pussy-Riot-Sängerin Nadeschda Tolokonnikowa: „Es war wie im Gulag“, abgerufen am 21. Dezember 2013.
  24. a b c Tages-Anzeiger online (12. Dezember 2013): Gericht muss Pussy-Riot-Urteile überprüfen, abgerufen am 12. Dezember 2013.
  25. Amnesty International Schweiz online (12. Dezember 2013): Putin: Nicht mit Olympia von Menschenrechtsverletzungen ablenken, abgerufen am 12. Dezember 2013.
  26. 20 Minuten online (19. Dezember 2013): Charmeoffensive vor Sotschi, abgerufen am 19. Dezember 2013.