Heinrich Gehrke (Richter)
Heinrich Gehrke (* 14. Oktober 1939 in Berlin) war ein Richter am Landgericht Frankfurt am Main, der durch seine Tätigkeit als Vorsitzender Richter bei einer Reihe von Prozessen in Erscheinung getreten ist, die bei der Öffentlichkeit besondere Beachtung fanden.[1] Seine Urteile, Begründungen und Kommentare wurden durch Medien mehrfach kontrovers diskutiert. Seit seiner Pensionierung tritt er wiederholt in Talkshows des Deutschen Fernsehens auf.[2]
Werdegang
Kinderzeit
Heinrich Gehrke wurde als Sohn einer Werbegrafikerin und eines Architekten kurz nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges geboren. Die junge Familie wohnte zu dieser Zeit in Steinstücken am südlichen Stadtrand Berlins. Im Alter von fünf und sechs Jahren beobachtete er die alliierten Bomberverbände am nächtlichen Himmel, die in Richtung des Stadtzentrums einflogen. Vorzeitig abgeworfene Brandbomben trafen das kleine Haus der Eltern und deren Garten, so dass er schon früh beim Löschen der entstandenen Brände helfen musste. Im April 1945 erlebte er das Vorrücken der sowjetischen Panzertruppen direkt auf dem Grundstück seiner Familie. Die sowjetischen Soldaten erschossen die letzten noch lebenden Hühner, tanzten und sangen danach im Wohnzimmer der Familie, während sie dazu Wodka tranken.
Schule
Im September 1945 wurde er eingeschult, die Bedingungen waren angesichts der Nachkriegsverhältnisse behelfsmäßig. Die Schulhefte bestanden aus einseitig bedrucktem Altpapier, Kreide und Schultafeln gab es keine. Während der Berlin-Blockade wurde er zusammen mit seinem jüngeren Bruder unter der Klassifizierung „verhungerndes Berliner Kind“ mit einem US-amerikanischen Flugzeug, das von Kohletransporten für die Stadt verschmutzt war, für eine Zeitspanne von zehn Monaten nach Westerland auf die Nordsee-Insel Sylt ausgeflogen.
Im Jahr 1951 entschloss sich seine Familie zum Umzug in den sicherer erscheinenden Westen Deutschlands. In der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden besuchte Gehrke knapp zwei Jahre lang ein humanistisches Gymnasium. Mit der von seinen Mitschülern gesprochenen hessischen Mundart hatte er anfangs seine Schwierigkeiten, war er doch die Berliner Mundart gewöhnt. Im Herbst 1952 zog seine Familie nach Frankfurt am Main, wo er die Helmholtzschule, damals ein Realgymnasium, besuchte. Während er in Wiesbaden Latein lernen musste, kam es nun in der Frankfurter Schule für ihn darauf an, das von seinen dortigen Mitschülern bereits erlernte Englisch nachzuholen. 1959 legte er an der Helmholtzschule sein Abitur ab.
Studium
Nach der Ableistung seines Wehrdienstes bei der Bundeswehr studierte er zwischen 1960 und 1965 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main und an der Freien Universität Berlin Jura.
In Berlin lebte er während dieser Zeit erneut in Steinstücken, das jedoch nach dem Bau der Berliner Mauer zu einer Exklave geworden war, einem von der Mauer umschlossenen Gebiet, durch das Anwohner von West-Berlin aus nur mit einem Passierschein und nach Kontrolle durch die DDR-Grenztruppen gelangen konnten. Dort erlebte er eine Vielzahl dramatischer Fluchten aus der DDR nach West-Berlin mit.
Assistenzzeit
Im Jahr 1965 legte Gehrke in Frankfurt am Main sein Erstes Staatsexamen ab. Zwischen 1965 und 1973 war er zunächst Wissenschaftlicher Referent und danach Assistent am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte (MPIer) in Frankfurt am Main bei dem Nestor der Juristischen Fakultät, dem Zivilrechtler und Rechtshistoriker Prof. Drs. mult. Helmut Coing, der auch sein Doktorvater wurde. Sein Referendariat und sein Zweites Staatsexamen fielen ebenfalls in diese Phase (1966–1969). Das Thema seiner Dissertation "Die Rechtsprechungs- und Konsilienliteratur Deutschlands bis zum Ende des Alten Reichs" erforderte die Erfassung bis dahin unerforschter Rechtsprechung in Werken, die in alten Bibliotheken des deutschsprachigen Raumes zunächst gesucht und entdeckt werden mussten.
Von 1973 bis 1975 war er weiter am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte tätig und erarbeitete eine Reihe rechtshistorischer Publikationen zur Gesetzgebung und Jurisdiktion. So arbeitete er am „Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte“ mit.
Richter am Landgericht
1973 konnte Heinrich Gehrke sein berufliches Ziel verwirklichen und trat als Richter am Landgericht Frankfurt am Main in den Justizdienst des Landes Hessen ein. Seiner Überzeugung entsprechend wollte er zum Erhalt des Rechtsstaates beitragen, ohne von Anweisungen eines Vorgesetzten oder von Mandanten abhängig zu sein. Unabhängigkeit war für ihn eine Lebensmaxime. Unter dieser Prämisse gebe es für ihn keinen schöneren Beruf als den eines Richters, wie er einmal ausführte.[3]
Im Jahr 1979 wurde er zum Vorsitzenden Richter ernannt. Zunächst wurde ihm die Kammer für Pressesachen übertragen. Danach wechselte er zum Vorsitz einer Allgemeinen Großen Strafkammer. In diese Phase fielen Strafverfahren, die von der Öffentlichkeit stark beachtet wurden. Der erste dieser Prozesse gegen Redakteure der Bild-Zeitung wegen dubioser Methoden der Informationsbeschaffung (1980) endete mit einer Verurteilung.
Ein weiteres Strafverfahren aufgrund der ursprünglich von Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1931 stammenden Aussage „Soldaten sind Mörder“ führte zu einem mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung begründeten Freispruch, der auch im Bundestag kontrovers erörtert, letztlich aber vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde.[4][5] Gegen Gehrke kam es in der Folge zu einer Vielzahl persönlicher Beschimpfungen bis zu Morddrohungen.[6]
Nach seinem Wechsel zum Vorsitz einer Wirtschaftsstrafkammer leitete er das Strafverfahren gegen den „Baulöwen“ Dr. Jürgen Schneider.[7][8][9][10][11][12]
„Der ist tough und klug und lässt sich von keinem etwas vormachen.“
Ab 1998 hatte er als Leiter des Schwurgerichtes Fälle wie den Mordprozess gegen Monika Böttcher (Monika Weimar) oder den so genannten „OPEC-Prozess“ gegen den früheren Terroristen Hans-Joachim Klein und Rudolf Schindler zu verhandeln.[14][15][16][17][18][19][20][21][22] Der eigentliche Prozessgegenstand im OPEC-Verfahren drohte wegen des sehr prominenten Zeugen, des damaligen Bundesaußenministers Joschka Fischer (neben Daniel Cohn-Bendit und Matthias Beltz), in den Hintergrund des medialen Interesses zu geraten.
Pension
Auch nach seiner Pensionierung im Jahr 2004 bezog Gehrke immer wieder Stellung zu aktuellen Themen im Kontext der Rechtsordnung.[23]
Heinrich Gehrke ist mit einer Ärztin verheiratet, beide haben zwei Töchter, die als Rechtsanwältinnen tätig sind. Gehrke interessiert sich privat u. a. für Astronomie, Computing, Fotografie, Gartenarbeit, Geschichte, Heimwerken, Kultur, Internet.
Hörfunk und Fernsehen
Heinrich Gehrke wurde nach seiner Pensionierung häufig zu verschiedenen Themenkomplexen im Umfeld der Rechtsordnung befragt bzw. zu Diskussionsrunden eingeladen.[24][25][26][27]
Schriften
- Die Rechtsprechungs- und Konsilienliteratur Deutschlands bis zum Ende des Alten Reichs, Dissertation, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main 1972
- Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands: Charakteristik und Bibliografie der Rechtsprechungs- und Konsiliensammlungen vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Vittorio Klostermann, 1974, ISBN 3-465-01083-3
Einzelnachweise
- ↑ "Der Mann fürs Spekatakuläre". In: Der Spiegel, 22. Dezember 1999 auf: spiegel.de
- ↑ Kurzprofil Dr. Heinrich Gehrke auf: reinholdbeckmann.de
- ↑ Verein Ehemaliger Helmholtzschüler: VEH-Info 93 vom März 2004, S.4–7 (Interview von Dr. Hans Thiel mit Dr. Heinrich Gehrke) auf: hhsabi77.de (PDF-Datei, 242 KB)
- ↑ „BILD-Urteil: Harte Mahnung“. In: Die Zeit, 16. Januar 1981 auf: zeit.de
- ↑ „Das Anstößige“. In: Der Spiegel, 26. Januar 1981 auf: spiegel.de
- ↑ „Frankfurts Mann für schwere Fälle“. In: Der Spiegel, 19. Februar 2001 auf: spiegel.de
- ↑ "Der Richter des Baulöwen". In: Focus, 30. Dezember 1996 auf: focus.de
- ↑ Auszüge vom 1. Verhandlungstag im Prozeß gegen den Immobilienspekulanten Jürgen Schneider. In: Die Zeit, 4. Juli 1997 auf: zeit.de
- ↑ „Urteil im Schneider-Prozess“. In: Der Tagesspiegel. 23. Dezember 1997 auf: tagesspiegel.de
- ↑ „Schuldig, aber nicht allein“. In: Die Welt, 24. Dezember 1997 auf: welt.de
- ↑ „Dem Baulöwen die Mähne gestutzt“. In: Focus, 29. Dezember 1997 auf: focus.de
- ↑ „Stolz über das Vollbrachte“. In: Manager Magazin, 30. Juni 2007 auf: manager-magazin.de
- ↑ „Zu entschuldigen ist das gar nicht“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Juni 2009 auf: faz.net
- ↑ Heinrich Gehrke, der unduldsame Richter im dritten Weimar-Mordprozess: "Dann will ich das eben nicht wissen". In: Berliner Zeitung, 9. Dezember 1999 auf: berliner-zeitung.de
- ↑ „Zweifache Kindsmörderin Monika Böttcher ist frei“. In: Der Spiegel, 18. August 2006 auf: spiegel.de
- ↑ „Monika Böttcher frei“. In: Focus, 19. August 2006 auf: focus.de
- ↑ „Zur Wahrheit verpflichtet“. In: Focus, 15. Januar 2001 auf: focus.de
- ↑ „Außenminister Fischer sagt gegen Ex-Terroristen Klein aus“. In: Handelsblatt, 15. Januar 2001 auf: handelsblatt.com
- ↑ „Opec-Prozess: Richter Eigensinn“. In: Der Tagesspiegel, 15. Februar 2001 auf: tagesspiegel.de
- ↑ „Richter Heinrich Gehrke urteilt im Fall Fischer: Klare Worte und schwere Fälle“. In: RP Online, 19. Februar 2001 auf: rp-online.de
- ↑ „Richter vermutet politische Motive“. In: Der Spiegel, 19. Februar 2001 auf: spiegel.de
- ↑ „Hochgradig lächerlich“. In: Manager-Magazin, 20. Februar 2001 auf: manager-magazin.de
- ↑ „Ein Richter, der über die Grenzen seines Metiers herausblickt“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Oktober 2004
- ↑ Rechts-Extreme und ihre Opfer“. In: Der Spiegel. 28. Mai 2008 auf: spiegel.de
- ↑ "Das System hat sich nicht bewährt". In: Frankfurter Rundschau, 18. Juni 2008 auf: fr-online.de
- ↑ "Freispruch zweiter Klasse". In: Süddeutsche Zeitung, 1. Juni 2011 auf: sueddeutsche.de
- ↑ „Der Prozess gegen Anders Behring Breivik – gibt es eine gerechte Strafe für einen Massenmörder?“ ARD-Talkshow „Beckmann“, 19. April 2012 auf: daserste.de
Weblinks
- Literatur von und über Heinrich Gehrke im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Ausschnitt aus der Talkshow „Menschen bei Maischberger“, ARD, vom Mai 2011 auf: youtube.com, 5:12 Min.
- Heinrich Gehrke: Kritik am Kachelmann-Prozess. Aus: ZDF „heute“, 31. Mai 2011 auf: zdf.de, 3:54 Min.
- Der Prozess gegen Anders Behring Breivik. Aus: ARD-Talkshow „Beckmann“ vom 19. April 2012 auf: youtube.com, 1:14:45 Std.
Personendaten | |
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NAME | Gehrke, Heinrich |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Richter |
GEBURTSDATUM | 14. Oktober 1939 |
GEBURTSORT | Berlin |