Lohnabstandsgebot
Das Lohnabstandsgebot bezeichnete eine bis zum 31. Dezember 2010 gültige gesetzliche Regelung in § 28 Absatz 4 SGB XII a. F. Sie besagte, dass bei Haushaltsgemeinschaften von Ehepaaren mit drei Kindern (sog. Alleinernährerfamilie mit drei Kindern) die Regelsätze der Sozialhilfe unter den erzielten monatlichen durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelten unterer Lohn- und Gehaltsgruppen in einer entsprechenden Haushaltsgemeinschaft mit einer alleinverdienenden vollzeitbeschäftigten Person bleiben. Einzelheiten zu Bemessung und Aufbau der Leistungen ergaben sich aus der Regelsatzverordnung der zuständigen Bundesminister.
Im Zuge der verfassungskonformen Neugestaltung der "Hartz IV"- Regelbedarfe durch das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) sind § 28 Absatz 4 SGB XII und die Regelsatzverordnung mit Wirkung zum 1. Januar 2011 ersatzlos entfallen. [1]
Bedeutung
Mit dem Lohnabstandsgebot sollte der strukturellen Gefahr vorgebeugt werden, dass der aus Steuermitteln finanzierte Regelbedarf der Sozialhilfe zu einem höheren verfügbaren Einkommen führt als der Einsatz der eigenen Arbeitskraft bei Vollzeittätigkeit ("Arbeit soll sich lohnen." "Wer arbeitet, soll mehr haben als jemand, der nicht arbeitet.").
Es setzt damit das (untere) Einkommen in Relation zu dem Niveau steuerfinanzierter Sozialleistungen und schafft einen positiven Anreiz, Arbeit aufzunehmen, da sich diese buchstäblich "auszahlt". Inwiefern auch andere arbeitsmarktpolitische Instrumente, insbesondere die Nicht-Aufnahme von Arbeit zu sanktionieren (siehe dazu unten "Kritik") verfassungsrechtlich, politisch oder moralisch vertretbar sind, soll hier nicht erörtert werden.
Mit Urteil vom 09.02.2010 [2] hatte das Bundesverfassungsgericht zur Herleitung und Bemessung existenzsichernder Sozialleistungen eine ausdrückliche und folgerichtige, transparente Regelung durch förmliches Parlamentsgesetz gefordert. [3] Diesen Anforderungen genügten die entfallenen Regelungen nicht.
Kritik
Das Grundgesetz gewährleistet zwar die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums, jedoch nicht die Zahlung eines festen Geldbetrages in bestimmter Höhe. Diesen zu ermitteln und zu konkretisieren, ist vielmehr Sache des einfachen Gesetzgebers. [4]
Diese Konkretisierung hat der Gesetzgeber in der sog. Hartz-Gesetzgebung der Jahre 2003 bis 2005 sowie den ab 2006 erfolgten Änderungen vorgenommen, insbesondere mit Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II ("Hartz IV").
Teil dieser Gesetzgebung, die insoweit die Agenda 2010 umgesetzt hat, war auch der konsequente Ausbau des Niedriglohnsektors.
Das hat dazu geführt, daß sich heute das Lohnabstandsgebot in bestimmten Marktsegmenten geradezu umgekehrt hat. Vielfach liegen die Regelsätze dort nicht mehr unterhalb der erzielbaren Nettoarbeitsentgelte, sondern umgekehrt liegen bestimmte Nettoarbeitsentgelte unter dem Niveau der Regelsätze. So verdienten im Jahr 2010 1,383 Millionen Menschen in Deutschland so wenig, dass sie als sogenannte Aufstocker zusätzlich Arbeitslosengeld II bezogen, um überhaupt das Existenzminimum zu erreichen.[5] Der "Anreiz", auch derart gering entlohnte Tätigkeiten anzunehmen, liegt dabei nicht zuletzt in der Androhung von Leistungskürzungen durch die Jobcenter bei Ablehnung "zumutbarer" Arbeit.
Strittig ist, ob und inwieweit ein gesetzlicher Mindestlohn auf dieses Missverhältnis reagieren soll. Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition von 2013 bejaht aktuell eine Lohnuntergrenze von 8,50 Euro.[6]
Davon unabhängig ist die Frage, ob der Gesetzgeber 2011 die Regelsätze verfassungskonform ermittelt hat und diese tatsächlich das "Existenzminimum" sichern.[7] Dazu ist erneut ein Prüfverfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig (Az.: 1 BvG 10/12 und 1 BvG 12/12).
Siehe auch
Literatur
- Bieritz-Harder, Renate: Menschenwürdig leben. Ein Beitrag zum Lohnabstandsgebot des Bundessozialhilfegesetzes, seiner Geschichte und verfassungsrechtlichen Problematik. Rostocker Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Berlin 2001. 302 S. ISBN 978-3-8305-0214-2
- sueddeutsche.de, 12. Oktober 2010: Wirtschafts-Nobelreis - Die Theorie zu Hartz IV
Einzelnachweise
- ↑ Andreas Pattar Synopse SGB XII: Fassung bis zum 31. 12. 2010 und Fassung seit 1. 1. 2011 (PDF; 548 kB)
- ↑ "Hartz IV-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts
- ↑ Stephan Rixen: Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik? "Hartz IV" auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts (PDF; 274 kB)
- ↑ "Hartz IV-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts
- ↑ Zahl der Hartz-IV-Aufstocker weiter gestiegen, Reuters, 13. Mai 2011
- ↑ spiegel-online.de, 28.11.2013: Yasmin El-Sharif Mindestlohn - 8,50 Euro für die Würde aufgerufen am 28. November 2013
- ↑ sueddeutsche.de, 12. Juli 2012: Entscheidung des Bundessozialgerichts; Neue Hartz-IV-Sätze sind verfassungsgemäß aufgerufen am 28. November 2013. SG Berlin Beschluß vom 25.04.2012 (Vorlagebeschluß an das Bundesverfassungsgericht): Verfassungsmäßigkeit verneint