Multiple Chemikalien-Sensitivität
Die Multiple Chemikalienunverträglichkeit - auch als multiple Chemikaliensensitivität, chemische Mehrfachempfindlichkeit, idiopathische Chemikaliensensitivität oder MCS von engl. Multiple Chemical Sensitivity bezeichnet - ist eine Krankheit, die mit Umweltfaktoren assoziiert wird. Sie wurde erstmals im Jahr 1948 von dem Allergologen Theron Randolph festgestellt.
Definition
Laut der Arbeitshypothese nach MR Cullen ist MCS eine erworbene Störung, die charakterisiert ist durch rezidivierende Symptome an mehreren Organsystemen. Verursacht wird MCS nach Cullen durch nachweisbare Expositionen mit verschiedenen chemischen Stoffen, die bei Dosen auftreten, die von der klassischen toxikologischen Dosis-Wirkung-Beziehung erheblich abweichen.
Folgende Kriterien nannte eine Studie des Robert-Koch-Instituts im Auftrag des Umweltbundesamtes im Jahr 2003 für das MCS:
- Initiale Symptome im Zusammenhang mit einer belegbaren Expositionssituation (jedoch ggf. auch einschleichender Beginn)
- Die Symptome werden bei der gleichen Person durch unterschiedliche chemische Stoffe bei sehr geringen Konzentrationen (auf die andere Personen im Allgemeinen nicht mit Gesundheitsbeschwerden reagieren) ausgelöst
- Die Symptome stehen mit der Exposition in erkennbarem Zusammenhang (Symptome durch Exposition reproduzierbar; Besserung bei Expositionskarenz)
- Die Symptome treten in mehr als einem Organsystem auf (nicht in allen Falldefinitionen gefordert)
- Es handelt sich um eine länger anhaltende („chronische") Gesundheitsstörung
- Die Beschwerden sind nicht auf bekannte Krankheiten zurückzuführen.
Symptome
- Leitsymptome: Chemikaliensensibilisierung, Geruchsempfindlichkeit, Kakosmie (Wahrnehmung übler Gerüche)
- Allgemeinsymptome: Müdigkeit, Leistungsminderung, Schlafstörungen
- uncharakteristische zentralnervöse Beschwerden: Kopfschmerzen, Verwirrtheit, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen
- neuropsychiatrische Störungen: depressive Verstimmung, Reizbarkeit, Entfremdungsgefühl, Konzentrationsstörungen
- periphernervöse Beschwerden: Gefühlsstörungen
- Atemwegsbeschwerden: Schleimhautreizungen von Nase und Mund, Luftröhren- und Lungenbeschwerden
- Magen-Darm-Beschwerden: Sodbrennen, Übelkeit, Appetitmangel, Stuhlunregelmäßigkeiten
- Herz-Kreislauf-Symptome: Herzrasen (Tachykardie)
- Hautstörungen: verschiedene Hautveränderungen
- rheumatologische Beschwerden: Gelenk- und Muskelschmerzen, Muskelschwäche.
Ursachen
Zu den Ursachen von MCS gibt es im Wesentlichen zwei Positionen:
- MCS als psychosomatische oder psychiatrische Störung z.B.: Massenhysterie, Depression, Zwangsneurose oder "Chemophobie".
Zahlreiche psychosomatisch orientierte Untersucher sehen die Symptome als Ausdruck einer Panikattacke oder das Krankheitsbild als eine Somatoforme Störung an. Dabei wird davon ausgegegangen, dass sich die Diagnose der Umweltbezogenheit ausschließlich auf die Überzeugung des Betroffenen, unabhängig vom objektiven Nachweis einer Exposition bezieht. Die klinische, umweltmedizinische, laborchemische Untersuchung erbringt nach dieser Auffassung keinen Nachweis einer Exposition, eines Kausalzusammenhangs zwischen Exposition und Ausmaß der Beschwerden und/oder von organisch begründbaren Erkrankungen, die die Beschwerden ausreichend erklären können. Es liegen zahlreiche Studien vor, die diese Auffassung bestätigen.
- MCS als arbeits- oder umweltbedingte Störung (mit möglicher genetischer Beteiligung), wie: Vergiftung, Entgiftungsstörung, Fehlfunktion von Nerven-, Immun-, Hormonsystem oder Atemwegen, Herabsetzung nervlicher Auslöseschwellen für Mißempfindungen, Schmerzen und Fehlfunktionen. Chemische Auslöser von MCS können u.a. Lösemittel, Pestizide, bestimmte Metalle und ihre Legierungen, Verbrennungsprodukte und andere Schadstoffgemische sein (Ashford/Miller 1998).
Behandlung
Laut den Erfahrungen des Fachkrankenhauses Nordfriesland können bei MCS hilfreich sein:
- Expositionsvermeidungs- bzw. minderungsstrategien
- Eliminations-/Rotationskost u.a.
- Behandlung und Supplementierung mit Mikro- und Makronährstoffen
- Hyposensibilisierung nach der modifizierten Millertechnik
- psychotherapeutische Unterstützung
Die Empehlung zur Expositionsvermeidung gilt nach der Auffassung anderer medizinischer Fachgesellschaften allerdings als obsolet und schädlich für den Patienten. Dies gilt auch für die Empfehlung zu spezieller Kost. Ziel anderer Behandlungen ist das genaue Gegenteil. Siehe Link in den Leitlinien.
Studien
- Die Studie des Umweltbundesamte (Link unter Weblinks) fand keinen charakteristischen MCS-Symptomkomplex bei den in den verschiedenen Zentren untersuchten Patienten. Die Studie kommt zu dem Ergebnis:" Der vorgebliche Syndromcharakter des MCS-Phänomens scheint sich demnach nicht am Beschwerdenspektrum festzumachen, sondern er beruht offenbar allein auf den in den Falldefinitionen genannten Kriterien (expositionsabhängige Symptome; multiple Symptomatik; multiple Exposition; geringes Expositionsniveau), letztlich also lediglich auf den subjektiv empfundenen und entsprechend von den Patienten berichteten Zusammenhängen zwischen Expositionen und Beschwerden, wobei die Beschwerden nicht weiter spezifiziert sind." (Seite 192) Weiter wurde festgestellt, dass MCS als eigenständiges Krankheitsbild einzustufen ist zu dem es noch erheblichen Forschungsbedarf gibt. Der Dissens ob MCS überwiegend somatisch oder psychogen bedingt sei würde zunächst noch weiter bestehen. Allerdings wurde bei der Mehrzahl der Patienten eine schwerere psychische Störung diagnostiziert, deren Beginn der Entwicklung des MCS um durchschnittlich 17 Jahre vorausging. Konsens herrschte dagegen darüber, dass MCS-Patienten einen hohen Leidensdruck haben.
- Eine deutsche Studie zum Zusammenhang von MCS und Beruf fand MCS-Betroffene stark überrepräsentiert in einigen gewerblichen Berufen mit hoher Schadstoffexposition, z.B. Laborpersonal, Drucker, Fußbodenleger, Maler/Lackierer.
- Eine schwedische Vergleichstudie von 15 Maler/Lakierern mit MCS mit Maler/Lakierern ohne MCS bei Konfrontation mit Lösungsmitteln unter Laborbedingungen ergab eine erhöhte Anzahl subjektiver Beschwerden bei den MCS Betroffenen. Objektiv war weder eine vermehrte Rötung der Augen, noch eine Veränderung der Nasenschleimhäute oder der Serumkortisonwerte feststellbar. Tendenziell zeigten die MCS Patienten einen Abfall des Prolaktinspiegels im Vergleich zur Kontrollgruppe. Der Prolaktinspiegel variiert bei Menschen allgemein unter Stressbedingungen. Die MCS Patienten zeigten im Vergleich zu den Kontrollpersonen deutlich höhere Anzeichen von Angst und Depression unabhängig von der Exposition. Antonis Georgellis, Birgitta Lindel, Anders Lundin, Bengt Arnetz, Lena Hillert, multiple chemical sensitivity in male paninters, a controlled provocation study, Int. J. Hyg. Environ. Health 206, 531 ± 538 (2003)
- Zum Vergleich mit den Umweltpatienten untersuchte man dort eine Kontrollgruppe in Alter und Geschlecht angeglichener, beruflich schadstoffexponierter Arbeitnehmer in der Halbleiterindustrie (Siemens AG München-Neuperlach). Im Unterschied zu den MCS Patienten fand man bei diesen Personen bei tendenziell höherer Chemikalienbelastung durch den Arbeitsplatz lediglich eine psychiatrische Morbidität von ca. 25%, was ungefähr der in der Normalbevölkerung entspricht. Vor allem die somatoformen Störungen spielten im Kontrollkollektiv im Gegensatz zu den MCS Patienten eine deutlich untergeordnete Rolle. S. Bornschein et al., 50 Jahre MCS – Alte Theorien und neuere Erfahrungen an einer universitären Umweltambulanz Umweltmed Forsch Prax 10 (6) 2005
- Eine amerikanische Studie mit 917 Befragten, die sich selbst als MCS-Betroffene sahen, berichtet über deren Erfahrungen mit 101 Therapiearten. Dabei schnitten eine schadstoffarme Umgebung und Chemikalienvermeidung sowie Beten als die drei hilfreichsten Maßnahmen ab. Eine schadstoffarme Umgebung und Chemikalienvermeidung empfanden 56,5% bzw. 56,2% als sehr hilfreich. 38% bzw. 38,6% stuften dies als etwas hilfreich ein und 4,7% bzw. 4,5% konnten dabei keinen Effekt feststellen. Beten empfanden 28,6% der Befragten als sehr hilfreich. 35,6% als etwas hilfreich und 34,4% als nicht hilfreich. Psychotherapeutische Maßnahmen, die darauf zielten die Erkrankung zu heilen empfanden 4,7% als sehr hilfreich. 15,5% als etwas hilfreich und 65,3% stellten dadurch keinen Effekt fest. Psychotherapie als unterstützende Maßnahme im Sinne von Coping bewerteten 17,3% als sehr hilfreich, 47,7% als etwas hilfreich und 24,1% als nicht hilfreich. (Vgl.: P.R. Gibson u.a.; 2003).
- Bei der Hyposensibilisierung nach der modifizierten Millertechnik steht der endgültige Nachweis der Wirksamkeit durch eine großangelegte placebokontrollierte Doppelblindstudie noch aus. Es überwiegen positive Berichte (z.B. Miller, 1977; Rapp, 1978; Scadding und Brostof, 1986; Boris, 1988; King et al., 1988a+b, King, 1992; Dixon 1999, Fox 1999) dem einige Studien mit negativen Ergebnissen gegenüberstehen (Caplin, 1973; Lehman, 1980; Jewett, 1990) Alle Studien weisen Mängel auf (z.B.: Fallberichte, kleine Fallzahlen, unklare Selektierung, keine Placebos, keine Blindung: vgl. King et al. (1984 und 1988)). (Vgl.: Klinische Erfahrungen in der Behandlung von MCSE. Schwarz 09/2004)
"Therapeutisch wird von den Anhängern dieser Hypothese neben (unspezifischen) immunmodulierenden Maßnahmen (z. B. Vitamin-C-Infusionen) vor allem eine sogenannte Provokations- Neutralisations-Therapie mithilfe verdünnter Substanzen, die unter die Haut gespritzt werden, empfohlen (Bertschler et al 1985). Ausreichende wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit dieser Methode existieren nicht. So konnte eine Arbeitsgruppe um Jewett in einer Doppelblindstudie an 18 Patienten mit nicht-allergischen Nahrungsmittelunverträglichkeiten keinen Effekt nachweisen (Jewett et al 1990)". S. Bornschein et al., 50 Jahre MCS – Alte Theorien und neuere Erfahrungen an einer universitären Umweltambulanz Umweltmed Forsch Prax 10 (6) 2005
- Im Rahmen der Münchener MCS-Studie wurde der Entzündungsfaktor Interferon Gamma als hochsignifikant bei der Analyse von MCS-Patienten im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe gemessen. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass sich MCS-Patienten in einer permanenten proinflammatorischen Reaktionslage unter anderem ihrer Lymphozyten durch Schad- und Reizstoffkontakte befinden. (Vgl.: Zeitschrift für Umweltmedizin; 2002/3)
- In einer Studie wurden 36 MCS Patienten mit 37 gesunden Kontrollpersonen verglichen. Alle atmeten im Wechsel normale Raumluft und ein Gemisch mit erhöhter CO2 Konzentration ein. Die MCS Patienten entwickelten unter CO2 gehäuft Panikattacken. CO2 ist keine Chemikalie sondern universell in der Atemluft aller Menschen vorhanden. Es ist bekannt, dass bei Patienten mit Panikattacken durch CO2 Atmung Panikattacken ausgelöst werden können. Die Autoren gehen davon aus, dass MCS ein Angstsyndrom sei und nur die Ursachenzuschreibung den Unterschied zu Angststörungen ausmacht. Poonai N, Antony MM, Binkley KE, Stenn P, Swinson RP, Corey P, and others. Carbon dioxide inhalational challenges in idiopathic environmental intolerance. J Allergy Clin Immunol 2000;105:358–63.
- Eine Verlaufsstudie der Umweltambulanz der Universität Gießen an 51 Patienten, die der Auffassung waren, dass sie unter umweltbedingten Beschwerden leiden, zeigte, dass diejenigen, die sagten, dass sie selbst oder ein Arzt ihnen die Diagnose eines MCS gegeben haben, eine deutlich schlechtere Prognose haben, als andere "Umweltpatienten" mit den selben Beschwerden. Die Autoren gehen davon aus, dass die Symptomattibution für die schlechtere Prognose verantwortlich ist. Die Diagnose MCS an sich verschlechtert also möglicherweise die Beschwerden. Auch viele andere Autoren gehen davon aus, dass ein sogenannter Noceboeffekt wesentlich für die Aufrechterhaltung der Beschwerden ist. Caroline E. W. Herra, et al, Int. J. Hyg. Environ. Health 207 (2004); 31 } 44
Weblinks
- [1] Die Deutsche Gesellschaft Multiple-Chemical-Sensitivity e.V.
- Handbuch Chemikalienunverträglichkeit
- [2] für fundierte Informationen rund um das Thema MCS und andere Umwelterkrankungen.
- [3] AWMF online - Leitlinie Psychotherapeutische Medizin: Somatoforme Störungen; Stand: 1999
- [4] Eine Literaturzusammenstellung aus neurologischer und psychiatrischer Sicht.
- [5] Studie des Umweltbundesamtes zu MCS
- [6] Multiple Chemical Sensitivity: A Spurious Diagnosis auf der Quackwatch Home Page
Literatur
- Andreas Bosch: Die Rettungsinsel; BoD GmbH, Norderstedt; Oktober 2003; ISBN 3833402245
- Beate Maria Schiele & Irmtraut Eder-Stein: Leben mit MCS. Betroffene berichten und raten. Ein Ratgeber zum Leben mit Multipler Chemischer Sensibilität.; BoD GmbH, Norderstedt; Februar 2002; ISBN: 3831129983
- Nicholas Ashford & Claudia Miller: Chemical Exposures; John Wiley & Sons Inc; 1998; ISBN: 0471292400