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Brief an den Vater

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Der Brief an den Vater ist ein 1919 verfasster, nie abgeschickter, postum veröffentlichter Brief Franz Kafkas an seinen Vater. Der Brief ist ein bevorzugter Text für psychoanalytische und biographische Studien über Kafka.

Nachdem Kafka im Januar 1919 bei einem Kuraufenthalt in Schelesen Julie Wohryzek kennenlernt und sich einige Monate später mit ihr verlobt, reagiert sein Vater ungehalten auf seine neuen und unstandesgemäßen Heiratspläne. Es wird angenommen, dass dies der Auslöser für die Verfassung des Briefes zwischen dem 10. und 13. Novemer 1919 war. Die Hochzeit war ursprünglich für den November geplant, fand jedoch nicht statt. Der vordegründige Anlass war eine vergebliche Wohnungssuche.

Der Brief besteht im Original aus mehr als hundert handschriftliche Seiten, auf denen Kafka versucht, seinen Vaterkonflikt schreibend zu bewältigen. Viele seiner Lebensschwierigkeiten schreibt er der Wesensunvereinbarkeit zwischen sich und dem Vater zu. Der Brief endet mit der Hoffnung, dass durch ihn sich beide ein wenig beruhigen werden und Leben und Sterben leichter gemacht werden kann.

Analyse

Erläuterung der Briefform

Kafka hat Milena Pollak gegenüber den Brief als Advokatenbrief voller Kniffe bezeichnet. Der Brief ist eine schwer zu entwirrende Anklage-und Verteidigungsschrift in einem für die jeweiligen Personen: den Vater, Kafka selbst und auch für die nur am Rand auftretende Mutter.

Kafka hat sein ewiges Vater-Sohn-Thema in der formalen Logik der juristischen Rede und den Techniken der Literatur beleuchtet und dabei eine Art Lebensanalyse für sich erstellt. Insofern ist dieser Brief keine Literatur im eigentlichen Sinn.

Realitätsbezug und Subjektivität

Der Brief behandelt einerseits Realitäten aus Kafkas Leben. So werden nachprüfbare Fakten wahrheitsgemäß aufgeführt, wie die harte Kindheit des Vaters, die Probleme Kafkas mit seiner Teilhaberschaft an der Prager Asbestfabrik oder der Ausbruch seiner Schwester Ottla in die Arbeitswelt der Landwirtschaft.

Andererseits deckt sich die Darstellung der eigenen Person Kafkas kaum mit den Schilderungen sonstiger Quellen. Er schildert sein Schulleben als völlig überlagert von der Versagensangst. Mitschüler bezeichnen ihn aber - außer in Mathematik- als guten Schüler, der nie in Gefahr war, sitzen zu bleiben. Unter seiner Arbeit in der Arbeiter-Versicherungsanstalt leidet er und fühlt sich ihr nicht gewachsen. Seine Mitarbeiter aber loben ihn im Nachhinein als juristisches Vorbild. Er wird später sogar aufgrund seiner Leistungen zum Abteilungsleiter befördert. Kafka bezeichnet sich als geizig, er war es sicher nicht. Sein Verhältnis zu Frauen ist sprichwörtlich problematisch. Er sieht sich gehemmt, nicht anziehend und unterlegen. Tatsächlich war er mit seiner großen schlanken Gestalt und dem interessanten Kopf attraktiv, so dass er zunehmend mehr -nicht nur literarische- Bewunderinnen um sich scharte.

Die nachprüfbaren Tatsachen und die Sicht Kafkas driften offensichtlich auseinander. Sicher hat Kafka sich wirklich jenseits der Realitäten so minderwertig und angstbesetzt empfunden. Vielleicht ist es aber auch ein Advokatenkniff ein sich Anklagen und Kleinmachen, um die Schuld des anderen zu vergrößern.

Genau das gilt auch für das Hauptanliegen des Briefes, nämlich die Auseinandersetzung mit dem Vater. Dieses furchteinflösende, hemmungslos aburteilende, vitale Wesen Hermann Kafka, dem der Sohn Franz sich ausgeliefert sieht und mit dem er ständig innerlich ringt, wird von anderen u.a. Max Brod als normaler jüdischer Geschäftsmann, der menschenfreundlich und beschwingt mit beiden Beinen in seinem Geschäft steht.

Die subjektive Sicht Kafkas auf seinen Vater ist sozusagen sein besonderer Besitz, aus dem heraus sein literarisches Schaffen -so schmerzlich sich das auch gestaltet haben mag- erst möglich geworden ist.

Vorlage:Wikisource1

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