Goldene Zwanziger
Der Ausdruck Goldene Zwanziger (Jahre) bezeichnet für Deutschland den Zeitabschnitt zwischen 1924 und 1929.
Vorgeschichte 1918 bis 1923
Das Ende des ersten Weltkrieges hatte für das zivile Deutschland tiefreichende Erschütterungen gebracht: Hungersnot, Arbeitslosigkeit, Bettelei als einzige Existenzsicherung für verkrüppelte Heimkehrer aus dem ersten industrialisierten Krieg ohne heutige medizinische Möglichkeiten (Prothetik, Antibiotika, Schmerzmittel), Säuglingssterblichkeit mit 14% die höchste in Europa, Rachitis-Epidemien durch Vitaminmangel, Attentate auf führende Politiker wie Erzberger und Rathenau hervorgerufen durch Hasspredigten prägten das politische Klima am Anfang der Zwanziger Jahre in Deutschland. Eine zunehmende Inflation, die sich zu einer Hyperinflation im Jahr 1923 steigerte, Putschversuche wie der Kapp-Lüttwitz- und Hitler-Ludendorff-Putsch, nachfolgende Niederschlagungen von Massenstreiks (1920: Ruhraufstand im Ruhrgebiet, 1921: Märzkämpfe in Mitteldeutschland) mit Hilfe von Freicorps hinterließen hunderte von Toten. Von der Regierung finanzierte Streiks während der Ruhrbesetzung 1923 wurden der öffentlichen Meinung nur als groben Vereinfachungen plausibel.raute jördens
Besserungen ab 1924
Nach der Einführung der Rentenmark und dem zum Teil gelungenen Versuch, die Reparationszahlungen erträglich zu machen, setzte eine Phase wirtschaftlicher Aufwärtsentwicklung und politischer Beruhigung ein. Die politischen Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich konnten durch die Verträge von Locarno erheblich gemildert werden. Der überraschende Rapallo-Vertrag mit der Sowjetunion von 1922 hatte Deutschland zurück in die Weltpolitik gebracht. Der Beitritt Deutschlands in den Völkerbund 1926 trug ebenfalls zur politischen Beruhigung bei. In diesem Zeitraum entsteht eine allgemeine Entspannungsphase auf den politischen, aber auch wirtschaftlichen Ebenen. Dieses Phänomen ging von den USA aus. Sie wirkte sich jedoch schon nach kurzer Zeit auch positiv auf Deutschland, Frankreich und England aus.
Aber auch in den Bereichen Kunst, Literatur, Wohnungswesen, Lebenseinstellung, kam es zu zahlreichen Veränderungen. Allein 1925 bekamen 15 Deutsche den Nobelpreis. Auch im Kleinen war der Umschwung spürbar. In Preußen gab nicht mehr der Gardeoffizier den Ton an, wie noch 15 Jahre vorher, und die Berliner Staatsbibliothek war wichtiger geworden als die Wachablösung Unter den Linden.
Neue Medien
Kino
Die Universum Film AG (UFA), 1917 vom Generalstab unter Erich Ludendorff für die Massenbeeinflussung im Kriege gegründet, produzierte mit immensem Startkapital für den Frieden in Potsdam-Babelsberg. Stummfilm-Stars wie Harry Piel, Henny Porten und Asta Nielsen wurden im neuen Tonfilm, der von den Kinoorchester-Mitarbeitern u.a. mit Flugblatt- und Plakaten heftig bekämpft wurde, durch neue Stars wie Greta Garbo abgelöst. Angestelltenfilme, Militärklamotten, Western waren eher fiktive Genres. Realistischer ging es im Georg Pabst-Film Die freudlose Gasse zu, der die Inflationszeit beschrieb und in dem Greta Garbo mitspielte. Andere Stummfilm-Stars wie Charlie Chaplin, Buster Keaton und (Carl Schenstrøm und Harald Madsen, (Pat & Patachon, dänisch: Fyrtårnet und Bivognen) exportierten in die europäischen Kinos und schafften den Sprung in das neue Medium Tonfilm. Fritz Lang produzierte Die Nibelungen.
Radio
Radioapparate, die noch Detektoren genannt werden, haben nur wenige Familien und werden aus Kostengründen häufig selbst zusammengebaut. Telefunken baut preiswerte Kopfhörer, die bei Besuch noch auseinander geschraubt werden, damit jeder mithören kann. Richard Tauber ist Starinterpret einer im Radio übertragenen Operette. Musiksendungen, Autorenlesungen und Hörspiele erfreuen sich großer Beliebheit.
Berlin
In Berlin manifestierte sich das Lebensgefühl der Jungen an der Gedächtniskirche und Kurfürstendamm im Westen der Stadt. Dort entstanden am Ende der Stummfilmzeit die neuen Großkinos Capitol und Ufa-Palast - noch mit siebzigköpfigem Symphonieorchester in braunen Samtjacken - und machten den 'Floh-Kinos' Konkurrenz. Das gesetzte Alter spazierte Unter den Linden, wo Klappstühle für 5 Pfennig aus der Allee eine Kurpromenade machten, so z.B. Gerhart Hauptmann, der häufig im Hotel Adlon wohnte, oder Gustav Stresemann, der versonnen bei Spaziergängen mit seinem Stock im Sand grub. Der Straßenzug zwischen Nollendorfplatz und Olivaer Platz hingegen war Berliner Laufsteg für einen neuen Schick: mit Erika und Klaus Mann ein Tanz auf dem Vulkan. Max Reinhardt baute seine beiden eleganten Theater am Kurfürstendamm, eingerahmt von Tribüne und Renaissancetheater. Expressionisten wie Ernst Toller, Georg Kaiser, Carl Sternheim, Walter Hasenclever sorgten sowohl für Schreie auf der Bühne als auch für Schreie der Entrüstung und Begeisterung im Publikum. Der Berliner Broadway bot aber auch jede Menge Kleinkunst: Bars, Nightclubs, Weindielen, russische Teestuben, neue Ballhäuser, wie das Ambassadeur oder die Barberina sowie die kleinere Königin oder das demimondäne Riorita, in denen man nicht nur tanzen, sondern auch soupieren konnte. Neue Tänze wie der Charleston und der neue Jazz waren lange umstritten. Ehemalige Offiziere, nun arbeitslos verdingten sich als Eintänzer (Schöner Gigolo, armer Gigolo...).
Gesellschaftliche Umwälzungen
Durch den seit dem Krieg herrschenden Frauenüberschuß erobern sich Frauen neue Berufsfelder. Das Schlagwort die neue Frau wird für konservativ Eingestellte zum Schimpfwort. In dieses Bild ordnen viele auch die sinkende Geburtenrate ein. Frauen rauchen erstmals. Der Kubismus der künstlerischen Avantgarde verschreckt viele Bürger. Das Stück Im Dickicht der Städte von Bertolt Brecht wird von rechten Störern unterbrochen. Das Bauhaus verlässt 1926 Weimar nach Dessau, weil die konservative Landesregierung die Mittel gekürzt hat. 1926 erkennt Deutschland die Abtrennung von Elsaß-Lothringen an. 1926 wird der §218 geändert: Zuchthaus wird durch Gefängnis ersetzt und die Haftstrafen bei Schwangerschaftsabbruch verkürzt. In Düsseldorf findet mit der GESOLEI (Gesundheit, Soziales und Leibesübungen) die größte Messe der Weimarer Republik statt, kurz nachdem die französischen und englischen Truppen das Ruhrgebiet bzw. das Rheinland verlassen haben. Auf der GESOLEI fahren die ersten Autoscooter auf einem Rummelplatz. Der Reichspräsident Hindenburg der Reiches, welches auch als Zylinderrepublik verspottet wird, besucht den Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer.
Mode
Neu erfundene Stoffe wie die synthetische Faser ließen Seidenstrümpfe erschwinglich werden. Die Männer trugen Knickerbocker und Schiebermützen. Ähnlich elegant waren die so genannten Topfhüte der Frauen. Umstritten auch die Frisuren: Der neue, für viele aggressiv wirkende Bubikopf löste nur gegen hartnäckigen Widerstand der Elterngeneration die Schnecken mit Haarnadel ab. Friseure hatten sonntags offen. Die Frisuren der Männer waren streng nach hinten gekämmt, häufig mit Mittelscheitel. Der weniger formelle Stresemann löste den Frack bei offiziellen Anlässen ab.
Neue Formen der Kritik
Der Filmkritiker Ernst Blaß schrieb dort seine gefürchteten Kritiken, teilweise auf der Rückseite seiner Rechnung; manche fanden ihren Weg ins Berliner Tageblatt oder in den Querschnitt, der Zeitung des Kunsthändlers Alfred Flechtheim. In der Nelson-Revue am Kurfürstendamm tanzte Josephine Baker in rührender Unschuld mit Bananengirlanden um die Hüften: der Kurfürstendamm hatte Sex-Appeal. Die Dichter der Kabarett-Revuen waren Kurt Tucholsky, Walter Mehring, Marcellus Schiffer, die Komponisten Walter R. Heymann, Friedrich Hollaender, Rudolf Nelson, Theo Mackeben oder Mischa Spoliansky versorgten mit unerhörten Tönen. Diseusen traten auf im Club Bühne und Film, bei Schwanneke, Änne Menz, Trude Hesterberg oder im Jockey. Die Berlinerin Marlene Dietrich schaffte den Karrieresprung nach Hollywood während Reichskanzler und Minister der Weimarer Republik auf dem Presseball im Marmorsaal anderen Ehrengästen den Rang streitig machten: Nobelpreisträger, Hochschulrektoren, Direktoren der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Maler, Bildhauer und Dirigieten gaben sich ein Stelldichein.
Christopher Isherwood durchpflügt in seinen Büchern Mr. Noris steigt um und Goodbye to Berlin und live die Subkultur Berlins. Harold Nebenzal zeigt mit seinem Roman Cafe Berlin nur noch den Abglanz und Untergang zehn Jahren später. Politisch hatte sich seit 1919 viel geändert, nicht mehr das Dreistände-Wahlrecht Preußens, sondern Frauenstimmrecht und Frauenarbeit in den Rüstungsindustrien des Ersten Weltkriegs hatten zu einem neuen Frauenbild geführt: Greta Garbo verfilmte die berufstätige Frau als Schicksalskaleidoskop im Film Menschen im Hotel, geschrieben von Vicki Baum, die für Ullsteins Berliner Illustrierte arbeitete, als Kollegin neben Berühmtheiten wie Gerhart Hauptmann, Wilhelm Speyer und Bruno Frank.
Sport
Sport wurde zum Vergnügen der Massen. Propagandistisch begleitet von Zeitungskönigen wie August Scherl und den Brüdern Ullstein wurden Flugtage ein Renner. Ruderregatten, AVUS-Autorennen auf der ersten zweibahnigen Automobilstrecke Deutschlands mit steilster Nordkurve, Turnfeste und Sechstagerennen im Sportpalast zogen mehr Menschen an, als alle anderen Veranstaltungen vorher. Carl Diem veranstaltete große Sportfeste und war für den Sport das, was Wilhelm Bode bis 1929, als sein Katafalk mit großem Pomp in der Eingangshalle des Kaiser-Friedrich-Museums aufgebahrt wurde, für die Museumskunst gewesen war: der Organisator. Das Rhönrad wurde erfunden und eine neue, unerhörte Nacktkultur überzeugte mit ihrem Motto Licht und Luft nicht jeden. Boxen und Fußball wurden populäre Sportarten.
Ursachen und Wirkungen
Im weiteren Sinne veranschaulicht der Begriff Goldene Zwanziger Jahre den wirtschaftlichen Aufschwung der weltweiten Konjunktur, er bezeichnet aber auch die Blütezeit der deutschen Kultur und Wissenschaft. Beteiligt am Aufschwung der Konjunktur sind ebenfalls die hohen Kredite, die Deutschland damals aus dem Ausland, besonders aus den USA, erhielt. Deshalb wird unter anderem von einer Scheinblüte gesprochen, da diese Schulden ja auch irgendwann zurückgezahlt werden mussten. Nach dem zweiten Weltkrieg begrüßten sich Berliner häufig mit der Frage: Bist Du auch ein Zwanziger?, womit man die Gemeinsamkeit der Altersgruppe der um 1900 Geborenen unterstreichen wollte. Trotz dieser eigentlich guten Voraussetzung scheiterte die Absicherung des republikanischen Staates durch fehlende Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten. Hunger und Elend der letzten Kriegsjahre und die Finanzskandale von 1923 und 1929 schürten das Misstrauen zur Weimarer Republik in weiten Teilen der Bevölkerung. Der von Otto Braun fast das ganze Jahrzehnt regierte Teilstaat Preußen blieb zwar ein Hort der politischen Stabilität, dies reichte jedoch schließlich nicht aus, wie mit dem Preußenschlag sichtbar wurde.
Beendet wurden die "Goldenen Zwanziger" von der Weltwirtschaftskrise 1929, ausgehend vom Bankenkrach am Schwarzen Donnerstag der Wallstreet in New York. Soziale Spannungen brachen wieder auf und resultierten im Zeichen politischer Radikalisierung und von den Eliten unabgefedert zum Aufstieg des Nationalsozialismus.
Als ähnlicher Begriff existiert im US-amerikanischen Sprachraum der Ausdruck Roaring Twenties („stürmische Zwanziger“), der ähnliche Kultur- und Wirtschaftsphänomene bei anderen Rahmenbedingungen besonders in den USA fasst.