Dauerheime für Säuglinge und Kleinstkinder in der DDR
Bei den Dauerheimen für Säuglinge und Kleinstkinder handelte es sich um Einrichtungen des Gesundheitswesens, die unter ärztlicher Überwachung bzw. unter ärztlicher Leitung standen. Es waren Einrichtungen, in denen gesunde Säuglinge und Kleinstkinder bis zum vollendeten 3. Lebensjahr ständig untergebracht waren (auch an Sonn- und Feiertagen). Sie unterstanden von 1951 bis 1990 der Aufsicht der zuständigen Abteilung Gesundheitswesen des Rates des Land- oder Stadtkreises.[1]
Diese Heime nahmen innerhalb der Normalheime in der DDR eine Sonderstellung ein. Neben Waisen und Sozialwaisen wurden auch Säuglinge sowie Kleinkinder aufgenommen und ständig untergebracht, deren Mütter alleinerziehend waren oder deren Eltern in Schichtsystemen[2] arbeiteten. Waisen und Sozialwaisen denen sich keine Adoptionsmöglichkeiten eröffneten, wurden nach Vollendung des 3. Lebensjahres in weiterführende Heime verlegt. Wurden Säuglinge und Kleinstkinder als gefährdet eingestuft, waren für die Anordnung der Heimerziehung seit 1969 die Organe der Jugendhilfe zuständig. Für die Durchführung der Heimerziehung waren die Organe des Gesundheitswesens verantwortlich. Sie sollten mit der Jugendhilfe zusammenarbeiten, wenn es u. a. darum ging, individuelle Erziehungsprogramme zu entwickeln.[3][4][5]
Entwicklung der Heime
Erbe, Neuanfang und Orientierung in der SBZ bzw. in der DDR (1945–1949)
Während der Nazizeit garantierte die Rassenideologie die „Reinheit des Blutes“ und unterschied damit „Gut“ von „Böse“. Sie verlangte Zucht, Ordnung, Disziplin, Sauberkeit und Gehorsam auch von den Heranwachsenden. Dies war das Erbe, das den Neubeginn für die Heimbetreuung bestimmte. Neue Strukturen mussten aufgebaut werden und kriegsbedingte Zerstörungen gingen auch an den Heimen nicht spurlos vorbei. Ohne Improvisation konnte eine notdürftige Versorgung vieler Kriegswaisen nicht aufrechterhalten werden. Eine konzeptionelle Neuorientierung war in den ersten Jahren schwierig. Man stützte sich in der Arbeit zunächst auf Konzepte aus der Weimarer Republik.
Für alle Heime, die der Zentralverwaltung für Volksbildung (dem späteren Ministerium für Volksbildung der DDR) unterstanden, bildeten die Befehle der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) die gesetzlichen Grundlagen.[6][7] In diesen Befehlen wurden Säuglingsheime nicht erwähnt. Ob es eine scharfe Trennung zwischen Säuglings- und Kleinstkindheimen gab, ist gegenwärtig noch nicht hinreichend erforscht. In den Statistiken der Deutschen Zentralverwaltung für Gesundheitswesen (DZVG) werden Säuglingsheime gesondert geführt. Die Altersbegrenzung in diesen Heimen lag bei zwölf Lebensmonaten.[8] Offen bleibt somit vorerst, ob die Fürsorge der Kleinstkinder (bis zum 3. Lebensjahr) der Zentralverwaltung für Volksbildung oder der DZVG unterstanden. Eine weitere gebräuchliche Praxis in dieser Zeit war es, Säuglings- und Kleinstkindheime Entbindungsstationen in Krankenhäusern anzuschließen.
Periode des forcierten Aufbaus und der Reformideen (1950–1960)

Trotz aller Bemühungen, in verlassenen oder konfiszierten Immobilien von Gutsbesitzern oder Fabrikanten Dauerheime einzurichten, fehlte es vielerorts an geeigneten Räumen. Oft wurden Baracken notdürftig hergerichtet. Auf dem 3. Parteitag der SED 1950 und mit Verabschiedung durch die provisorische Volkskammer am 27. September 1950 erfolgte der Ausbau der Heime im Rahmen des Fünfjahresplan der Volkswirtschaft planmäßig.[9][10] Mit diesem Gesetz war auch die Ausbildung von Säuglingspflegerinnen verbunden.[11]
Die Verabschiedung des Gesetzes über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau ging 1951 mit einer Umstrukturierung der Verwaltungen in den Ministerien und den unteren Verwaltungsebenen einher.[12] Die „Abteilung für Mutter und Kind“, jetzt im Ministerium für Gesundheitswesen (MfGe), erhielt u. a. die neu festgelegten Aufgaben zur Förderung und Entwicklung der Dauerheime für Säuglinge und Kleinstkinder. Darüber hinaus wurde den Abteilungen die Amtsvormundschaft sowie das Adoptions- und Pflegekinderwesen zugeordnet.[13] Die Kleinstkinder, die bisher in den Heimen der Volksbildung untergebracht waren, fielen jetzt in die Zuständigkeit des MfGe und wurden in deren Heime verlegt.[14] Es kam zur konsequenten Differenzierung und zur klaren Trennung der Kinder nach Altersgruppen in den Betreuungseinrichtungen.[15][16] Über die Aufnahme von Kindern und die Vergabe der Plätze in den Heimen entschied eine Kommission nach Dringlichkeit.
Der Ausbau der Dauerheime wurde bis in die späten 1950er Jahre forciert.[17] Kritiklos blieb diese Entwicklung nicht. Vorbehalte äußerten insbesondere Pädiater, die ihre Zweifel durch eigene freie Forschungsergebnisse Ende der 1950er Jahre belegen konnten. Indirekt untermauert die Ergebnisse die Erkenntnisse und theoretischen Überlegungen der angelsächsischen Forscher John Bowlby und James Robertson, die ihre Bindungstheorie weiterentwickelten.[18] Obwohl erhebliche Bedenken für eine Heimunterbringung vorlagen, stieg die Zahl der Heimplätze in den Jahren 1959 bis 1961 auf fast 11.000 an.[19] Politisch motivierte Sichtweisen in Teilen der DDR Regierung und der SED Führung sahen die erzieherische Bedeutung und den Vorteil der Dauerheime in der Erziehung zur Gemeinschaft, die eine einseitige Bevorzugung ausschließen würde.[20][21] Auf Betreiben der Pädiater wurden Reformideen wie z.B. die Schaffung von familiären Milieus, persönliches Spielzeug und Kleidung, schnellere Adoptionsverfahren sowie Pflegepersonen für die Kinder diskutiert und erprobt.[22][23]
Periode der Umwandlung der Dauerheime in Einrichtungen zur gesellschaftlichen Erziehung (1961–1970)
Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 blieb für die Dauerheime nicht ohne Folgen. In den Folgejahren kam es zu einer ideologischen Ausrichtung in der Erziehung in den Heimen sowie in der Kleinkindforschung. Die angeregten und erprobten Reformbemühungen durch die Pädiater wurden weitestgehend zurückgenommen. Die Risiken, die für die Heimkinder durch fehlende Nestwärme entstanden, fanden keine genügende Beachtung. So schrieb die Ministerin für Justiz Frau Hilde Benjamin an ihren Kollegen dem Minister für Gesundheit Max Sefrin in einem Brief vom 25. April 1962:
„Mir ist bekannt, daß führende Kinderärzte, besonders Frau Dr. Eva Schmidt-Kolmer, die Auffassung vertreten, daß Kinder in den Wochenkrippen sich langsamer entwickeln. Aus diesem Grund befürwortet sie höchstens die Unterbringung von Kindern in Tagesgruppen und betont das erhebliche Bedürfnis der Kleinkinder nach Nestwärme. (…) Ich halte es daher für dringend notwendig, daß im Zusammenhang mit dem Frauen-Kommuniqué eine ideologische Klärung bei den Ärzten über die Bedeutung der Unterbringung von Kleinkindern in Wochenheimen für die Sicherung der Durchsetzung der Gleichberechtigung der Frau erfolgt. (…) Ich möchte noch bemerken, daß ich im Anschluß an die Ministerratssitzung von einer Reihe von Kollegen Zustimmung zu meinen Ausführungen erhalten habe, insbesondere auch von dem Minister für Volksbildung.“[24]
Die freien Forschungsgruppen in Halle, Leipzig oder Berlin wurden aufgelöst. Ihre Ergebnisse wurden, wie die bindungstheoretischen Erkenntnisse von John Bowlby, James Robertson und Mary Ainsworth, bis zur politischen Wende 1990 nicht weiter publiziert. Die Anzahl der Dauerheimplätze erreichte Anfang der 60er Jahre mit rund 11.000 Heimplätzen ihren Höchststand. Erst nach 1962 verringerte sich in den Folgejahren die Zahl der Kinder, die in den Dauerheimen betreut wurden.[25] 1965 wurde das „Gesetz über das einheitliche, sozialistische Bildungssystem“ verabschiedet. In diesem Gesetz wurden u. a. die Dauerheime erstmals als Vorschuleinrichtungen erfasst. 1966 wurde unter der Leitung von Eva Schmidt-Kolmer das zentralgeführte Institut für Hygiene des Kindes- und Jugendalters (IHKJ) als nachgeordnete Dienststelle des MfGe gegründet. Vergleichende Forschungsergebnisse zwischen Familienkindern und Heimkindern hat dieses Institut nicht veröffentlicht. Nennenswerte Impulse zur Verbesserung der Lebenssituation der Heimkinder gingen von dem Institut nicht aus.
Im Oktober 1966 fand in Prag das erste internationale Symposium über Krippen- und Heimprobleme unter Beteiligung einer DDR Delegation statt. Neben Problemen der Krankheitsanfälligkeit und -häufigkeit ging es auch um die grundsätzliche Frage, ob Säuglinge und Kleinstkinder überhaupt mit einigem Erfolg in Kollektiveinrichtungen betreut werden können. Für die DDR Delegation waren dies Restbestände rückständigen Denkens und sie argumentierte entsprechend.[26]
1968 erschien unter dem Titel „Pädagogische Aufgaben und Arbeitsweise der Krippen“ der Entwurf eines Erziehungsprogramms, dass auch in den Heimen seine Anwendung fand.
Periode der Stagnation und Auflösung (1971–1990)
Anfang der 70er Jahre wurden eine Reihe von Anweisungen und Verordnungen erlassen, die die Arbeit in den Heimen weiter reglementierte.[27][28] Grundsätzliche Reformen, die auf die Bedürfnisse der Säuglinge und Kleinkinder eingingen, sucht man in dieser Zeit vergeblich. Internationale Forschungserkenntnisse aus dem Säuglings- und Kleinkindbereich, wie die von Emmi Pikler aus Ungarn, fanden in der Heimbetreuung der DDR keinen Zuspruch. 1983 wurde vor dem „Rat für medizinische Wissenschaften“ beim Minister für Gesundheitswesen das neue Erziehungsprogramm für Krippen und Heime vorgestellt und abgesegnet. Margot Honecker, Ministerin für Volksbildung, stoppte das bereits genehmigte Erziehungsprogramm. Im Ergebnisprotokoll der Kommission zur Vorschulerziehung heißt es dazu:
„Generell zeichnet sich ab, daß die Ansprüche an die Arbeit zur Herausbildung sozialistischer Verhaltensgewohnheiten und Eigenschaften nicht klar ausgewiesen sind. (…) Die ungenügende inhaltliche Konkretisierung dieser Aufgaben birgt die Gefahr einer subjektiven Auslegung und einer indifferenten Erziehungsarbeit in sich.“[29]
Das neue „Programm für die Erziehungsarbeit in den Kinderkrippen“ wurde überarbeitet und 1987 verbindliche Arbeitsgrundlage auch für die Dauerheime.[30] Neben dem neuen Erziehungsprogramm sollten durch vereinzelte Veränderungen, wie z.B. persönliches Spielzeug oder Fotomappen, Nachteile in der Entwicklung für die Heimkinder ausgeglichen werden. Trotz der bekannten Risiken für die Kinder, hielt man an dieser Form der Säuglings- und Kleinstkindbetreuung fest. Ende der 80er Jahren war die Zahl der gemeldeten Heimkinder auf über 4.000 wieder angestiegen.[31] Ein eigenständiges pädagogisches Heimkonzept, dass die besondere Betreuungsform und die entwicklungspsychologischen Besonderheiten der Säuglinge und Kleinstkinder in den Heimen berücksichtigt, wurde nicht entwickelt.
Mit der Wende stand das gesamte staatliche Erziehungswesen zur Disposition. Die Dauerheime für Säuglinge und Kleinstkinder wurden im Zuge der deutschen Wiedervereinigung aufgelöst oder in Kinderheime sowie andere soziale Einrichtungen umgewandelt.
Bezirk | Ort | Name | Zeitraum des Bestehens |
---|---|---|---|
Bezirk Rostock | ... | ... | ... |
Bezirk Schwerin | Pinnow Güstrow Neustrelitz |
... Professor Stolte Säuglingsheim Professor Czerny Säuglingsheim |
... |
Bezirk Neubrandenburg | Schönenwalde | ... | ... |
Bezirk Magdeburg | ... | ... | ... |
Bezirk Potsdam | Brandenburg | Wilhelmsdorfer Straße | ... |
Berlin Hauptstadt der DDR | Pankow Treptow - |
Blankenburg Schönetaler Weg Tunnelstraße |
... |
Bezirk Frankfurt (Oder) | Buckow | Clara Zetkin Säuglingsheim | ... |
Bezirk Erfurt | ... | ... | ... |
Bezirk Halle | ... | ... | ... |
Bezirk Leipzig | ... | ... | ... |
Bezirk Cottbus | Cottbus Finsterwalde Guben Herzberg Hoyerswerda Jessen Lübbenau Luckau Weißwasser |
... | ... |
Bezirk Suhl | ... | ... | ... |
Bezirk Gera | ... | ... | ... |
Bezirk Karl-Marx-Stadt | ... | ... | ... |
Bezirk Dresden | Dresden | Maxim Gorki Säuglingsheim | ... |
Fonds "Heimerziehung in der DDR" - Einrichtung eines Fonds für Hilfeleistungen an ehemalige Heimkinder
Entwicklung des Fonds
Angesichts des erlittenen Unrechts in den Dauerheimen für Säuglinge und Kleinstkinder in der DDR und in den Einrichtungen der Jugendhilfe beschlossen der Deutsche Bundestag und die Jugendministerinnen und -minister der Länder gleichwertige Hilfsangebote auch für Betroffene der DDR-Heimerziehung, die heute noch an Folgeschäden leiden, vorzusehen. Der am 26. März 2012 vorgelegte Bericht "Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR" bildete eine wichtige Grundlage für die Erarbeitung konkreter Hilfsangebote. In diesem Bericht kommen Bundesregierung und die ostdeutschen Länder zu der Einschätzung, dass Zwang und Gewalt für viele Säuglinge, Kinder und Jugendliche in den DDR-Heimen eine alltägliche Erfahrung waren und Menschenrechte verletzt wurden. Die Erlebnisse in den Heimen führten zu massiven Beeinträchtigungen der Lebenschancen und Entwicklungspotentiale der Betroffenen, die bis heute teilweise traumatisch nachwirken.
Der Bund, die Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen Anhalt sowie die Freistaaten Sachsen und Thüringen haben den Fonds gemeinsam errichtet. Seit dem 1. Juli 2012 ist der Fonds mit einem Volumen von insgesamt 40 Millionen Euro eingerichtet.
Gewährung von Hilfen und Unterstützungsleistungen
Die Angebote des Fonds richten sich unabhängig von der Trägerschaft der Heimeinrichtung an ehemalige DDR-Heimkinder, die in den Jahren 1949 bis 1990 in einem Dauerheim für Säuglinge und Kleinstkinder oder in einem Heim der Jugendhilfe untergebracht waren und denen Unrecht und Leid zugefügt wurde, an dessen Folgeschäden sie heute noch leiden. Das Hilfesystem des Fonds soll bestehende sozialrechtliche Versorgungssysteme ergänzen, sie jedoch nicht ersetzen.
Ausgleichszahlungen werden gewährt, soweit erbrachte Arbeitsleistungen während des Heimaufenthalts keine Beiträge in die Sozialversicherung der DDR gezahlt wurden oder geleistete Beiträge durch die Rentenversicherung nicht anerkannt wurden und es deshalb zu einer Minderung von Rentenansprüchen kommt. Ein Rechtsanspruch auf Leistungen aus dem Fonds besteht nicht.
Die regionalen Anlauf- und Beratungsstellen für den Fonds geben Auskunft, beraten und nehmen Anträge über Hilfen und Unterstützungsleistungen entgegen. In einem gemeinsamen Gespräch zwischen Betroffenen und Berater/in werden Vereinbarungen über Hilfen und Unterstützungsleistungen aus dem Fonds getroffen. Die Vereinbarungen können bis zum 30. Juni 2016 erzielt werden. Zuständig ist grundsätzlich die regionale Anlauf- und Beratungsstelle in den jeweiligen Bundesländern, in deren Einzugsgebiet eine Betroffene oder ein Betroffener seinen aktuellen Wohnort hat. Einzelne Ausnahmen vom Wohnortprinzip kann es geben.
Die gestellten Anträge und eingereichten Unterlagen werden an das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFza) weitergeleitet und von ihr auf Vollständigkeit sowie Schlüssigkeit geprüft. Im Weiteren stellt dann dieses Amt die finanziellen Mittel bereit und zahlt diese aus.[32]
Fremdbetreuung von Säuglingen und Kleinkindern in der Vergangenheit
Parabel der Chronica Salimbenis
Im 13. Jahrhundert führt der Chronist Salimbene von Parma über die Frage des Kaisers Friedrich II. aus: In welcher Sprache Kinder sich auszudrücken beginnen würden, die niemals vorher irgendein Wort sprechen gehört haben?
Sein lebhaftes Interesse veranlasste Friedrich II. zu einem seltsamen Experiment. Er übergab Wärterinnen und Ammen eine Anzahl verwaister Neugeborener zur Aufzucht mit dem Auftrag, ihnen die Brust zu reichen, sie zu reinigen, zu baden, etc. aber mit dem strengsten Verbote, sie jemals zu liebkosen und mit ihnen oder vor ihnen ein Wort zu sprechen. Es geschah nach des Kaisers Willen; aber dessen brennende Neugierde fand keine Befriedigung, denn alle Kinder starben im frühesten Alter.[33]
Beispiele weiterer Fremdbetreuungen:
- Einsatz einer Amme
- Findelhaus
- Waisenhaus
- Säuglingsheim in Deutschland und in Deutschland-West bzw. in der BRD nach dem 2. Weltkrieg
- Kibbuz (Israel)
- Stolen Generations (Australien)
Fremdbetreuung von Säuglingen und Kleinkindern in Deutschland in der Gegenwart
In Deutschland sind im SGB VIII bundeseinheitlich die Leistungen gegenüber jungen Menschen (Kinder, Jugendliche, junge Volljährige) sowie deren Familien (insb. Eltern, Personensorgeberechtigte, Erziehungsberechtigte) und somit auch die Fremdbetreuung von Säuglingen und Kleinkindern geregelt.
Säuglingsheime sind in Deutschland eine absolute Ausnahme und die Unterbringung von Säuglingen und Kleinkindern erfolgt in jedem Fall nur als eine Notlösung.
Um Hospitalismus- oder Deprivationsschäden bei schwerkranken Säuglingen und Kleinkindern in Kliniken zu vermeiden, bieten diese heute die Möglichkeit des Rooming-in an. [34]
Vollzeitpflege (Pflegeeltern / Erziehungsstelle)
Die Vollzeitpflege gehört zu den lebensfeldersetzenden Hilfen zur Erziehung (§ 27, § 33 SGB VIII). Sie bedeutet die zeitweise oder dauerhafte Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie oder Erziehungsstelle. Beide Formen der Fremdunterbringung ermöglichen das Aufwachsen des Kindes in einem Familiensystem.
Unter Pflegeeltern versteht man volljährige Personen, die vorübergehend oder dauerhaft Kinder anderer Eltern (Pflegekinder) aufnehmen. Der Begriff 'Eltern' ist hier historisch geprägt; seit dem Ende des 20. Jahrhunderts können auch Alleinstehende ebenso wie gleichgeschlechtliche Paare als 'Pflegeeltern' Kinder aufnehmen.[35] Voraussetzung ist im Wesentlichen der Nachweis einer allgemeinen und fallbezogenen Eignung für die Aufgabe. Die Inpflegegabe der Kinder kann sowohl privat als auch durch das örtliche Jugendamt erfolgen.
Erziehungsstellen sind eine relativ neue Form der Hilfe nach § 33 SGB VIII Vollzeitpflege. Die Hauptunterschiede zu Pflegefamilien sind:
- Erziehungsstellen werden von den freien Trägern der Jugendhilfe angeboten. Sie sorgen anstelle des Kinderpflegedienstes des Jugendamts für ein qualifiziertes Auswahlverfahren.
- Voraussetzung für eine Erziehungsstelle ist eine pädagogische Ausbildung.
- Die Erziehungsstelle wird regelmäßig und intensiv von dem sogenannten "Berater" betreut. Diese Beratung kann sowohl Züge von Supervision als auch von kollegialer Beratung aufweisen.
Kindertagespflege (Tagesmutter / Tagesvater)
Kindertagespflege bezeichnet die zeitweilige Betreuung von Kindern durch eine Tagespflegeperson. Sie wird nach § 22 Abs. 1, S. 2 SGB VIII von einer geeigneten Tagespflegeperson entweder im Haushalt der Personensorgeberechtigten (i. d. R. der Eltern) oder im Haushalt der Tagesmutter bzw. des Tagesvaters geleistet.[36] Seit 2006 müssen alle Kindertagespflegepersonen eine pädagogische Qualifizierung und einen Erste-Hilfe-Kurs am Kind nachweisen. Die Vorgaben der zuständigen Behörden weichen stark voneinander ab. Einige Bundesländer bzw. Städte und Kreise erwarten 160 Unterrichtsstunden, andere nur 16 Unterrichtsstunden, jährliche Fortbildungen sind verbindlich. Bis Frühjahr 2012 hatten rund 43.400 Tagesmütter und -väter eine solche Schnellausbildung durchlaufen[37].
Pro und Contra
Ungeachtet des Zuspruchs und der steigenden Akzeptanz bei den Eltern für die Tagespflege, fehlen hinreichende wissenschaftliche Belege (z.B. Vergleichsstudien) über die Entwicklung von Tagespflegekindern gegenüber familiengebundenen Kindern. Ebenso wenig ist wissenschaftlich belegt, ob kurz- und langfristige Gefahren für die Entwicklung des Kindes durch diese Betreuungsform gegeben sind. Gegen eine Fremdbetreuung für Säuglinge und Kleinkinder in diesem Alter sprechen sich eine Reihe von Wissenschaftler wie Gerald Hüther, Michael Schulte-Markwort oder Rainer Böhm aus. Letzterer spricht sich klar für ein Betreuungsgeld aus.
„Da sich laut internationaler entwicklungspsychologischer Studien Gruppenbetreuung ein- und zweijähriger Kinder - unabhängig von deren sozialer Herkunft - negativ auf soziale Kompetenzen und Stressverarbeitungskapazität auswirkt (und dies möglicherweise lebenslang!),[38] ist zu erwarten, dass sich die Einführung eines Betreuungsgelds positiv auf die spätere soziale Adaptation in Schule, Ausbildung und Familie auswirken wird.“[39]
Klare Fürsprecherin für eine Fremdbetreuung in diesem Alter ist die Wissenschaftlerin Lieselotte Ahnert aus Wien, die einen beruflichen Hintergrund aus ihrer Tätigkeit an der Humboldt Universität Berlin in der DDR mitbringt.
Im Weiteren sind für dieses Betreuungsangebot die niedrigsten Zulassungsvoraussetzungen, z.B. Personalqualifikationen, aller öffentlichen Betreuungsformen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gesetzlich geregelt und es werden die niedrigsten Kostenzuwendungen durch die öffentliche Hand gewährt.
Kinderkrippe
Kinderkrippen sind eine Tageseinrichtung für Kinder bis zum vollendeten dritten Lebensjahr oder Gruppen für Kinder dieser Altersgruppe in Kindertagesstätten. Zuweilen werden Krippen entsprechend dem Alter der Kinder unterteilt in Liege-, Krabbel- und Laufkrippen. Regionalspezifisch gibt es eine Reihe weiterer Bezeichnungen, wie z.B. Krabbelgruppe. Reine Kinderkrippen findet man inzwischen selten; vielmehr werden Kinder dieser Altersgruppe in altersgemischten Gruppen oder in Kindertagesstätten mit verschiedenen Altersgruppen betreut. Kinderkrippen gehören zur Kindertagesbetreuung und somit zur Kinder- und Jugendhilfe und sind, ebenso wie die Kindertagespflege, nach § 22ff. SGB VIII geregelt. Als pädagogisches Personal werden überwiegend Erzieher, aber auch Kinderkrankenpfleger und Kinderpfleger beschäftigt.
Pro und Contra
siehe bitte Kritik Kinderkrippe
SOS-Kinderdorf
Die SOS-Kinderdorffamilie nimmt Kinder von der Geburt bis zu einem Alter von 12 Jahren auf. Das Team der SOS-Kinderdorffamilie besteht i.d.R. aus der Kinderdorfmutter, die eine ausgebildete Erzieherin ist und mit den Kindern zusammen lebt, aus einem Erzieher in Vollzeit, einer Erzieherin, die 20 Stunden in der Woche dort arbeitet und einer Hauswirtschaftskraft mit ebenfalls 20 Wochenstunden. Die Unterbringung finanziert sich nach Tagessätzen. Die gesetzliche Grundlage für die Unterbringung in der SOS-Kinderdorffamilie bietet der §27 in Verbindung mit §34, §35a und 41 SGB VIII.
Siehe auch
- Bindungstheorie
- Bindungstheorie in der DDR
- Bindungsfähigkeit
- Findelhaus
- Heimerziehung
- Heimkampagne
- Hospitalismus
- Pädiatrie
- Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren
- Säuglingsheim
- Urvertrauen
- Zdenek Matejcek, Langzeitstudien der Tschechischen Kinderpsychologischen Schule über die Auswirkungen von Kinderkrippen
Literatur
- Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer: Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR. Expertisen
- É. Hédervári: Kleinkinder in traditionellen Heimen. Untersuchung der Situation von Kindern unter drei Jahren in traditionellen Heimen im Land Brandenburg. Potsdam 1996.
- W. Hilweg, C. Posch: Fremd und doch zu Hause. Schneider Verlag, Hohengehren, 2008, ISBN 978-3-8340-00368-3.
- E. Mannschatz: Heimerziehung. Volk und Wissen, Berlin 1984, DNB 850664748.
- M. Müller-Rieger: „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht…“. Zur Geschichte des Kindergartens in der DDR. Argon, Dresden 1997, ISBN 3-87024-396-1.
- J. Plückhahn: Dauerheime für Säuglinge und Kleinkinder in der DDR aus dem Blickwinkel der Bindungstheorie. Diplomarbeit FH Potsdam, Potsdam 2012.
- J. Reyer, H. Kleine: Die Kinderkrippe in Deutschland. Sozialgeschichte einer umstrittenen Einrichtung. Lambertus, Freiburg i.B. 1997, ISBN 3-7841-0934-9.
- E. Schmidt-Kolmer: Die Pflege und Erziehung unserer Kinder in Krippen und Heimen. Volk und Gesundheit, Berlin 1956, DNB 453762808.
Weblinks
- Fonds "Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 - 1990 / (Fonds "Heimerziehung in der DDR
- Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der Heimerziehung. Gefördert vom Bundesministerium des Innern unter Beteiligung zahlreicher Wissenschaftler, mit Informationen und umfangreichen Literaturhinweisen
- Mitglieder des Runden Tisches Heimerziehung (abgerufen am 27. November 2012)
- Quality 4 Children
- Verein ehemaliger Heimkinder
- Säuglingsheim-Archiv
Einzelnachweise
- ↑ Verordnung über Aufgaben und Organisationen der Krippen und Säuglingsheime als Einrichtungen des Gesundheitswesen vom 06.08.1953, Gesetzblatt Nr. 91
- ↑ §§ 1 bis 3 der Verordnung über die Einweisung und Aufnahme von Säuglingen und Kleinkindern in Kinderkrippen und Dauerheime v. 1973 - GBl. 1973, 181
- ↑ F. Wapler: Rechtsfragen der Heimerziehung in der DDR. In: Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR
- ↑ Ziff. 2.2 und 2.3 der Gemeinsamen Anweisung über die Zusammenarbeit der Organe der Jugendhilfe und der Organe des Gesundheits- und Sozialwesens zur Verhütung und Beseitigung der sozialen Fehlentwicklung oder sonstigen Gefährdung von Kindern im Alter bis zu drei Jahren, deren Erziehung, Entwicklung oder Gesundheit unter der Verantwortung der Erziehungsberechtigten nicht gesichert sind, v. 03.04.1969, VuM Nr. 13, 79
- ↑ vgl. Staude 1970, S. 266.
- ↑ Befehl der SMAD Nr. 225 vom 26. Juli 1946 und Nr. 156 vom 20. Juli 1947.
- ↑ Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde – Ministerium für Gesundheitswesen der DDR BArch DX / 45051
- ↑ Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde – Ministerium für Gesundheitswesen der DDR BArch DQ 1 / 84)
- ↑ Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde – Ministerium für Gesundheitswesen der DDR BArch DY 30 / JIV 2 / 3 – 084
- ↑ Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde – Ministerium für Gesundheitswesen der DDR SAPMO 96 C / 292 a-2
- ↑ Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde – Ministerium für Gesundheitswesen der DDR BArch DC 20 I / 3417
- ↑ Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau, DDR, 1. Oktober 1950.
- ↑ Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde – Ministerium für Gesundheitswesen der DDR BArch DQ 1 / 1374.
- ↑ Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde – Ministerium für Gesundheitswesen der DDR BArch DQ 1/ 1374.
- ↑ "Verordnung der Regierung der DDR über die Einrichtung der vorschulischen Erziehung der Horte, DDR, 18. September 1952.
- ↑ Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde – Ministerium für Gesundheitswesen der DDR BArch DC 20 / I / 3 / 417
- ↑ Gesetz zur Erziehung §3, DDR
- ↑ Zeitschrift für ärztliche Fortbildung in der DDR 1957,21/22, S. 895ff. / 1958,7, S. 307ff. / 1959,22, S. 1443ff. / 1960,21, S. 1220ff. u. a. m.
- ↑ Statistisches Jahrbuch der DDR 1955 – 1989.
- ↑ Kern, K.: Erläuterungen zum Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau. In: Arbeit und Sozialfürsorge 1954, 8, S. 17ff.
- ↑ Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde – Ministerium für Gesundheitswesen der DDR BArch DQ 1 / 13585
- ↑ Schmidt-Kolmer, E.: Erscheinungen des psychischen Hospitalismus und ihre Verhütung. In: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 1957, 21/22, S. 895ff.
- ↑ Bothmer, C. v.: Bericht über die Tagung der Ärzte und Leiter von Dauerheimen der DDR. In: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 1958, 7, S. 307ff.
- ↑ Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde – Ministerium für Gesundheitswesen der DDR BArch DQ 1 / 13585
- ↑ Statistisches Jahrbuch der DDR 1955 - 1989.
- ↑ Niebsch, G.: Internationales Symposium „Probleme der Krippen“. In: Die Heilberufe 1967, 4, S. 157ff.
- ↑ Verordnung über die Einweisung und Aufnahme von Säuglingen und Kleinkindern in Kinderkrippen und Dauerheime, Gesetzblatt Teil I Nr. 20, Berlin 30. April 1973.
- ↑ Anordnung über Aufgaben und Arbeitsweisen der Kinderkrippen und Dauerheime für Säuglinge und Kleinkinder, Gesetzblatt Teil I Nr. 36,Berlin 13. August 1973.
- ↑ Ergebnisprotokoll der Beratung der Kommission Vorschulerziehung 1983, S. 3.
- ↑ Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde – Ministerium für Gesundheitswesen der DDR BArch DQ 1 / 12182.
- ↑ Das Gesundheitswesen der DDR. Berlin 1965-1990.
- ↑ Fonds "Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975 / Fonds "Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990"
- ↑ Cronica Scan des kompletten Textes nach der Ausgabe von Ferdinando Bernini, 1942 (lateinisch)
- ↑ Leiber, B.; Radke, M.; Müller, M.: Das Baby-Lexikon. ABC des frühen Kindesalters, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2001
- ↑ Pflegekinder, die tageszeitung
- ↑ Achtes Buch Sozialgesetzbuch, Kinder- und Jugendhilfegesetz, Zweites Kapitel - Leistungen der Jugendhilfe (§§ 11 - 41), Dritter Abschnitt - Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege (§§ 22 - 26), § 22 Grundsätze der Förderung
- ↑ Anette Dowideit: Wer erzieht unsere Kinder? In: Welt am Sonntag. Nr. 3, 20. Januar 2013, ZDB-ID 1123516-0, S. 1.
- ↑ D. L. Vandell, J. Belsky u. a.: NICHD Early Child Care Research Network. (2010): Do effects of early child care extend to age 15 years? Results from the NICHD study of early child care and youth development. In: Child Dev. 81(3), S. 737–756.
- ↑ Stellungnahme des Herrn Dr. Rainer Böhm Leitender Arzt Sozialpädiatrisches Zentrum, Bielefeld zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes. (Betreuungsgeldgesetz; PDF; 196 kB) BT-Drs 17/9917, Deutscher Bundestag, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ausschußdrucksache 17(13) 188d