Rameaus Neffe

Rameaus Neffe (Originaltitel Le Neveu de Rameau) ist ein philosophischer Dialog von Denis Diderot. Diderot arbeitete von 1761 bis 1774 an dem Werk, das zu seinen Lebzeiten nicht gedruckt worden ist. Erstmals überhaupt publiziert wurde das Werk in Deutschland 1805 in einer Übersetzung von Johann Wolfgang von Goethe.
Das Motto
Diderot stellt seinem Dialog das Zitat Vertumnis, quotquot sunt, natus inquis aus den Satiren des Horaz voran. [1] Frei übersetzt bedeutet das: "Geboren unter einem wankelmütigen Stern". Vertumnus war ein römischer Gott, der bei den Etruskern die Position einer obersten Gottheit besetzt hielt, der seit der Antikenrezepetion der Renaissance eine Wandlung zu einem Gott der Jahreszeiten, des Wandels und des Zufalls erfahren hatte. [2]
Inhalt
Das Werk besteht aus einem Dialog zwischen zwei Personen, im Dialog genannt Er (Lui) und Ich (Moi). Rameaus Neffe, die titelgebende Hauptfigur, leidet darunter, nur der Neffe seines berühmten Onkels Jean-Philippe Rameau, des großen Musikers zu sein. Jean-Philippe Rameau hatte vier Schwestern und fünf Brüder, von denen Claude Rameau (1690-1761) der Vater des Jean-François Rameau (1716-1777), des Neffen von Rameau, war. Auch er war Musiker, Organist und Komponist.
Zu diesem realen Neffen, dem Jean-François Rameau oder dem lui in Diderots Text, lässt sich sagen, dass er ein mäßig erfolgreicher Musiker war, der sich seinen Lebensunterhalt als ein durch Frankreich reisender Gesangs- und Klavierlehrer verdiente. Er soll ein unruhiger, unsozialer, ja ungestümer Zeitgenosse gewesen sein, aber nicht ohne ein gewisses Talent. Er wird in einer Pariser Polizeiakte vom 7. November 1748 mit folgender Bemerkung geführt:
„Le sieur Rameau, neveu du sieur Rameau de l’Académie Royale de musique, d’un caractère peu sociable et difficile à dompter, a insulté sur le théâtre de l’Opéra les directeurs.“
Trotz jener aktenkundiger und möglicherweise weiteren nicht-dokumentierten Auffäligkeiten, fand er ein zufriedenes Auskommen durch seine zahlenden Musikschüler. Als seine Frau und Kind verstarben, lebte er fortan als Bohémien, er schlug sich mit allerlei Tätigkeiten und Betteleien durch das Leben. Er soll in einem Hospital mit unklarem Todesdatum verstorben sein.
Der „literarische“ Diderot oder moi begab sich zu seiner abendlichen Promenade, zum Palais Royal. Hier nun traf er, den ihm schon seit längerem bekannten Jean-François Rameau oder lui und lädt ihn nach kurzem plaudern schließlich in das Café de la Régence ein. Aus dem zu Anfang noch heiteren Geplänkel, gewürzt mit Scherzen, Anekdoten wird im Verlaufe ein zusehends ernstes Gespräch. Es führt letztlich zu moralischen, künstlerischen und philosophischen Grundfragen.
Er kritisiert den Kulturbetrieb, zeigt sich zugleich aber abhängig von demselben. Rameaus Neffe ist nur ein Pulcinella der reichen Gesellschaft, hält sich aber für ein verkanntes Genie. Mit Rameaus Neffen legt Diderot die Seele eines gescheiterten Künstlers offen: überheblich und maßlos in seiner Leidenschaft, zugleich abhängig von der Gunst seiner Gönner. Dem verzweifelten Verächter steht mit dem feinsinnigen Ich-Erzähler ein Philosoph gegenüber. Der illusionslosen Weltbetrachtung des Zynikers begegnet die aufklärerische Menschenliebe des Philosophen. In beiden Figuren können Gedanken Diderots gesehen werden. Diderot wählte gleichsam den Dialog als Gestaltungsform, um auf ungebundene Weise mit kulturkritischen und philosophischen Gedanken spielerisch umzugehen.
Figuren
Der Dialog ist ein Who’s Who des vorrevolutionären Paris: Aufklärer und Gegenaufklärer, Schauspieler, Musiker, Finanziers und Geistlichkeit.
- Adélaide-Louise-Pauline Hus, Schauspielerin an der Comédie-Française
- Charles Palissot de Montenoy, französischer Dramatiker, Gegenspieler der Enzyklopädisten, insbesondere Diderots.
- Jacques Rochette de La Morlière, Chevalier de la Morliére, (1719–1785) Literat, Stammgast im Café Procope und berüchtigter Intrigant
- Claude Adrien Helvétius, Steuerpächter, Philosoph der Aufklärung
- Claudine Alexandrine Guérin Marquise de Tencin, Salonnière
- Egidio Duni, italienischer Opernkomponist, gilt als Begründer der Opéra comique
- Élie Catherine Fréron, Publizist
- Voltaire, gefeierter Philosoph der Französischen Aufklärung, den Diderot bewunderte, dem er aber aus dem Weg ging
- Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, französischer Naturforscher, Mitglied der Académie française
- Giovanni Battista Pergolesi, italienischer Komponist
- Hippolyte leris de la Tude, genannt Claire Josephe Clairon, Schauspielerin
- Jean Calas, französischer Protestant, Opfer eines Justizmordes, durch den Einsatz Voltaires rehabilitiert
- Jean Racine, Dramatiker
- Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, genannt D’A., französischer Mathematiker, Mitherausgeber der Enzyklopädie
- Jean-Jacques Rousseau, Philosoph, langjähriger Freund Diderots
- Jean-Philippe Rameau, Komponist
- Montesquieu, Philosoph und Staatstheoretiker
- Nicolas Corby und Pierre Moette (1721–1806), Leiter der Opéra comique bis 1762
- Jeanne Antoinette Poisson Marquise de Pompadour[3] Favoritin Ludwigs XV., protegierte die Enzyklopädisten
- Philidor, Musiker, Stammgast im Café de la Régence, galt seinerzeit als weltbester Schachspieler
Editionsgeschichte
Diderots Neffe hat eine wechselvolle und verlustreiche Editionsgeschichte. Entstanden zwischen 1762 und 1774, blieb das Manuskript zu seinen Lebzeiten ungedruckt und schien nach seinem Tod verschollen. Eine Abschrift war jedoch mit anderen Skripten nach St. Petersburg gelangt und befand sich zusammen mit der Bibliothek Diderots, die er bereits 1765 an Katharina verkauft hatte aber weiter als ihr angestellter Bibliothekar in Paris betreut hatte, in der Eremitage. Wahrscheinlich hatte Goethes Jugendfreund Friedrich Maximilian Klinger, damals hoher Amtsträger im Militär- und Erziehungswesen Russlands, das Manuskript dort entdeckt, heimlich eine Abschrift veranlasst, hatte sich aber vergeblich um einen Verleger bemüht. [4] Durch Vermittlung von Schillers Studienfreund Wilhelm von Wolzogen kam das Manuskript nach Weimar, wo Schiller in dem Text den verschollen geglaubten Neffen erkannte, Goethe darauf aufmerksam machte und dem Leipziger Buchhändler Göschen 1804 zum Druck anbot. Im gleichen Jahr begann Goethe mit der Übersetzung. 1805 kam das Buch in Leipzig heraus, ein ursprünglich vom Verleger geplanter Paralleldruck in französischer Sprache wurde nicht ausgeführt. Das Manuskript, aus dem Goethe übersetzt hat, ist seitdem verschwunden.
1821 übertrugen zwei französische Autoren, de Saur und Saint-Geniès, die Goethe-Übersetzung in „ein überaus skrupelloses Französisch“ [5] und verkauften es als Original. Etwa zur gleichen Zeit erhielt der Verleger J. L. J. Brière von Diderots Tochter Mme de Vandeul eine Abschrift des Dialogs, der mit einigen Eingriffen und „Verballhornungen“ [6] 1823 gedruckt wurde. Auch das dieser Ausgabe zugrunde liegende Manuskript ist verschwunden.
1890 fand Georges Monval, Bibliothekar an der Comédie Française, bei einem der Bouquinisten am Seineufer in Paris ein Konvolut mit Schriften von Diderot, darunter auch ein eigenhändiges Manuskript des „Neveu de Rameau“. Das Konvolut kam aus dem Nachlass des Marquis Larochefoucauld-Liancourt (1747-1827), eines französischen Diplomaten, der mit Melchior Grimm befreundet gewesen war, und war verborgen in der Erotika-Sammlung des Marquis. Auf der Grundlage dieses eigenhändigen Manuskripts veröffentlichte Monval 1891 Diderots Text. Diese Fassung gilt heute als die authentische. Das Manuskript wird in der Pierpont Morgan Library in New York aufbewahrt.
Rezeption
Bereits kurz nach Erscheinen von Goethes Übersetzung in Deutschland kommentiert Hegel Rameaus Neffe in seiner Phänomenologie des Geistes. In seinem Essay "Wahnsinn und Gesellschaft" (Histoire de la folie à l’âge classique) kommentiert Michel Foucault ebenfalls Diderots Text, erkennt in dem Protagonisten eine Verknüpfung von Sinnlichkeit und Wahnsinn und liest ihn als Beleg für die "Nachtseite der Aufklärung".
1861 erschien der Zeitschrift Revue europénne unter dem Titel La fin d’un monde et du neveu de Rameau ein Text von Jules Janin, der Szenen und Themen aus Diderots Vorlage parodiert und den Janin selbst als literarische und stilistische Fingerübung wertete. [7]
Thomas Bernhards Erzählung Wittgensteins Neffe spielt im Titel auf Diderots Text an. Bernhards und Diderots Protagonisten sind beide historische Personen, die im Schatten ihres Onkels, einer Persönlichkeit von epochaler Bedeutung, stehen. Ebenfalls auf den Titel spielt Louis Aragons Le neveu de M. Duval (1953) an.
Der rumänische Regisseur David Esrig schuf in den 1960er Jahren eine legendäre Inszenierung des Textes mit den beiden Darstellern Marin Moraru und Gheorghe Dinică.
Ausgaben
- Le Neveu de Rameau. Dialogue. Ouvrage posthume et inédit par Diderot. Paris: Delaunay 1821.
- französische Erstausgabe als Rückübertragung von Goethes Übersetzung. [8]
- Le Neveu de Rameau. Présentation, notes, chronologie et dossier de Jean-Philippe Marty, Paris: Flammarion 2005. (Étonnants classiques). ISBN 2-08-072218-2.
- Kritische Ausgabe.
- deutsche Übersetzungen und Bearbeitungen
- Rameaus Neffe. Ein Dialog. Aus dem Manuskript übersetzt u. mit Anmerkungen begleitet von Johann Wolfgang Goethe. Leipzig: Göschen 1805. Volltext
- Mit e. Nachwort von Günter Metken. Stuttgart: Reclam 1967. Durchges. u. erw. Ausgabe 1984.
- Herrn Rameaus Neffe. Übers. von Otto Heinrich von Gemmingen. 1891. Neuausgabe Tredition Classics. 2012. ISBN 978-3-8472-4653-4 Volltext.
- Rameaus Neffe und Moralische Erzählungen. Übers. u. mit einem Nachwort vers. von Hans Hinterhäuser. Frankfurt a. M.: Ullstein 1967. (Diderot. Das erzählerische Gesamtwerk. Bd 4. Ullstein Werkausgabe.) ISBN 3-548-37145-0
- Rameaus Neffe. Übers. und für die Bühne bearb. von Tankred Dorst. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1963.
- Rameaus Neffe. Fassung für die Volksbühne Berlin nach einer Übers. von Gustav Rohn. Berlin: Henschel-Verl. 1996. [1] (PDF; 314 kB)
Literatur
- Rudolf Schlösser: Rameaus Neffe - Studien und Untersuchungen zur Einführung in Goethes Übersetzung des Diderotschen Dialogs. Nachdruck der Originalausg. von 1900. Severus-Verl. 2011. ISBN 978-3-86347-027-2
- Hüseyin Kocintar:Ich und Er. Über Vernunft und Unvernunft in Diderots 'Rameaus Neffe'. 2013. (Akademische Schriftenreihe. 5.) ISBN 978-3-656-37721-4
Weblinks
Einzelnachweise und Anmerkungen
- ↑ Übes. Hinterhäuser: „Unter ungnädigen Vertumnern, wieviel ihrer sind, geboren", Horaz. Satiren. Buch 2. 7.
- ↑ Philip Francis: A Poetical Translation of the Works of Horace. Bd. 2. 1749. S. 232.
- ↑ Allgemeine Literaturzeitung \ Jahrgang 1805 \ Band 4 \ Numero 326\Diderot, D.: Rameaus Neffe.(1805)
- ↑ Rudolf Schlösser: Rameaus Neffe - Studien und Untersuchungen zur Einführung in Goethes Übersetzung des Diderotschen Dialogs. Nachdruck der Originalausgabe 1900. Hamburg 2011. S. 107
- ↑ Hans Hinterhäuser: Diderot als Erzähler. Nachwort in: Denis Diderot: Das erzählerische Gesamtwerk. Bd 4. 1967. S. 224
- ↑ Hans Hinterhäuser S. 224.
- ↑ Hedi Denzel de Tirado: Biographische Fiktionen: Das Paradigma Denis Diderot im intekulturellen Vergleich. (1765-2005). Würzburg 2008. S. 167.
- ↑ Christie's. Sale 5597, Lot 15