Historische Jesusforschung
Seit dem 18. Jahrhundert, verstärkt seit Beginn des 19. Jahrhunderts forschen zahlreiche Theologen und Historiker im Gefolge der Aufklärung und des Historismus intensiv nach dem historischen Jesus von Nazaret. Man nimmt an, dass er selbst die Berichte der Evangelien und der frühen Kirche veranlasst hat, unterscheidet ihn aber vom Christus des Glaubens. Diese wissenschaftliche Erforschung des Neuen Testaments wird als Leben-Jesu-Forschung bezeichnet.
Diese begann, schon früh beobachtete Widersprüche zwischen den Evangelien methodisch zu untersuchen und zu erklären. Was diese nicht berichten, wurde durch andere christliche Überlieferungen und durch außerchristliche Quellen zu ergänzen versucht. Dazu wurde mehr und mehr auch das sonstige Wissen über die Gesellschaft der Zeit heran gezogen. So versuchten die Forscher, ein exaktes Bild des Lebens und der Lebensumstände von Jesus zu zeichnen.
Dabei floss oft viel eigene Phantasie oder Fehldeutungen in die Darstellung ein. Doch die historische Forschung hat gerade aus den Irrwegen viel gelernt und ihre Methoden fortlaufend verbessert. So verlief die Erforschung des Alten Testaments früher parallel, aber getrennt von der des Neuen Testaments: Heute dagegen sieht man die Bibel mehr und mehr als historisches Kontinuum und widmet der Judaistik für die Zeit 100 v. bis 100 n. Chr. entscheidende Aufmerksamkeit.
Man teilt die Suche nach dem historischen Jesus oft in drei Hauptphasen ein. Dabei unterscheiden sich die Ansätze nicht nur zwischen den Phasen, sondern auch innerhalb jeder Phase. Was "Mythos" und was "historisches Faktum" ist, hat bisher jede Forschergeneration neu gefragt und beurteilt.
Erste Phase: Von Reimarus bis Albert Schweitzer
Ansätze
Hermann Samuel Reimarus (1694-1768)
Der Deist Reimarus war der erste, der das traditionelle Bild, das die Kirchen von Jesus Christus hatten, radikal in Frage stellte. Seine Fragmente (siehe Fragmentenstreit) wurden erst posthum durch Lessing veröffentlicht.
Für Reimarus war Jesus ein jüdischer Reformator, der immer fanatischer und politisierter wurde, schließlich versagte und hingerichtet wurde. Jesu Anhänger nahmen nach der Hinrichtung ein anderes Messiasbild auf, erklärten Jesus für auferstanden und warteten darauf, dass ihr Gott die Welt zu ihrem Ende bringe. Die frühe Kirche, aus der später die orthodoxe und Katholische Kirche entstand, wuchs aus dieser Anhängerschaft.
Reimarus war ausdrücklich anti-theologisch, anti-christlich und anti-dogmatisch. Das Ziel seiner Jesus-Forschung war nicht, einen Jesus zu finden, auf dem der christliche Glaube hätte basieren können, sondern aufzuzeigen, dass der Glaube der Kirche nicht auf dem wirklichen Jesus von Nazaret, sondern einem Wunschbild seiner Anhänger begründet sei.
Die Veröffentlichung seiner Thesen bewirkte einen heftigen Streit zwischen Lessing und orthodoxen Kirchenvertretern (z.B. Goeze), die ihren Niederschlag in Lessings Werken (vgl. Nathan der Weise 1779) fand.
Thomas Jefferson (1743-1826)
Der Autor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, und später 3. Präsident der USA, war wie viele US-Gründerväter in religiösen Dingen ein Freidenker. Er versuchte, ein „von Aberglauben befreites“ Evangelium zusammenzustellen:
"The Life and Morals of Jesus of Nazareth. Extracted textually from the Gospels in Greek, Latin, French and English" ([1]).
Er unternahm darin den Versuch, den historischen Kern der Biographie und Lehre Jesu aus allen vier Evangelien herauszufiltern. Dabei ging er jedoch noch ganz unkritisch vor und listete die Lebensstationen Jesu einfach auf, ohne die Widersprüche zwischen den Evangelien zu berücksichtigen.
Seine Jesusbiographie endet mit dem Begräbnis Jesu. Eine Auferstehung ließ Jefferson nicht folgen: Sie gehörte für ihn zu dem "Aberglauben", den er ablehnte.
Aus Vorsicht gegenüber seinen konservativ-christlichen Landsleuten veröffentlichte er dieses Werk zu Lebzeiten jedoch nicht.
Ferdinand Christian Baur (1792 – 1860)
Baur war seit 1836 Theologieprofessor und führte die historisch-kritische Methode in die NT-Forschung ein („Tübinger Schule“). Er war einer der gemäßigten Kritiker seines Schülers D. F. Strauß (s.u.). Er versuchte, dessen Entwurf mit stärkerer Betonung der Historie zu begegnen und sah in Jesus den Gründer des Urchristentums.
Er war zugleich ein Schüler Hegels und übertrug dessen Dialektik in die Darstellung der Geschichte des Urchristentums: Das Judenchristentum des Petrus (Urgemeinde in Jerusalem = Gesetzeskirche) war für ihn die „These“, das Heidenchristentum des Paulus (Völkermission = Geistkirche) die „Antithese“, beides führte zur vorläufigen Synthese in der frühkatholischen Kirche.
Er fand auch in der christlichen "Gnosis" schon vieles von dem mythisch ausgedrückt, was Hegel dann philosophisch entfaltete.
David Friedrich Strauß (1808-1874)
Strauß war Schüler von Ferdinand Christian Baur und Friedrich Schleiermacher. 1835 erschien sein Werk „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“, das ihn berühmt machte und heftigen Streit mit Kirchen und Behörden auslöste. Er betonte darin, dass in den Evangelien durchweg mythische – vor allem messianische – Vorstellungen des AT auf Jesus übertragen wurden. Er versuchte, diese veraltete supranaturale Sichtweise Jesu nicht durch eine historische, sondern eine „mystische“ Sicht Jesu zu ersetzen.
Er verstand die Erzählungen über Jesus als „Einkleidung urchristlicher Ideen“, die man aus diesem Kleid herauslösen könne. Er wollte also den Christus-Mythos nicht beseitigen, sondern die darin verborgenen „ewigen philosophischen Wahrheiten“ herausarbeiten. Darum war seine „Christologie“ keine Lehre über den historischen Jesus, sondern über die „Menschheit“.
Das Werk fand viel Kritik, so dass Strauß seinen Entwurf in der dritten Auflage von 1839 entschärfte, in der vierten Auflage jedoch wieder vertrat. Sein Hauptproblem war, dass er nicht erklären konnte, wie es vom „Christusmythos“ zum Neuen Testament und zum Christentum kommen konnte. Das versuchte sein Lehrer Baur zu zeigen, wobei er Strauß erheblich korrigierte.
In den folgenden Werken distanzierte sich Strauß immer mehr vom Christentum. Zuerst versuchte er noch, die kirchlichen Dogmen in philosophische Ideen umzuwandeln, ohne die Glaubenswahrheiten aufzugeben. Doch schließlich sagte er sich förmlich vom Christentum los.
In seinem zweiten „Leben Jesu, für das deutsche Volk bearbeitet“ (1863) erschien Jesus nur noch als Verkünder einer reinen Kultur- und Humanitätsreligion. 1865 folgte „Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte“, eine Abrechnung mit Schleiermacher. 1872 erschien „Der alte und der neue Glaube“. Darin war das Christentum für Strauß nun völlig überflüssig geworden.
Ernest Renan (1823-1892)
Adolf von Harnack (1851-1930)
Zu den typischen Jesusbildern, die heute allerdings großenteils überholt sind, gehört die des liberalen Theologen A. v. Harnack, der vor und nach dem Ersten Weltkrieg lehrte. Sein Hauptwerk heißt „Das Wesen des Christentums“. Darin fragt er:
- Was ist das besondere, einzigartige an der Lehre Jesu?
Harnack stellt fest: Nichts ist originär neu! Was Jesus lehrte, wurde vorher schon im AT oder von hellenistischen Philosophen aufgezeigt. Er hat die Botschaft von der "reinen Menschenseele" lediglich erneuert. Harnack findet diese Lehre Jesu im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk. 15, 11-32):
- Gott verlangt nichts: kein Sündenbekenntnis, kein Opfer, keine Leistung. Gott freut sich einfach über die Heimkehr seines Sohnes. Diese reine Gnade ist im Judentum, dem Glauben Jesu, schon vorhanden.
- Gottes Liebe überwindet die Erbsünde, erneuert das sündige Fleisch und den rechtgläubigen, reinen Geist.
- Die Seele ist rein und kann durch die Taten auf Erden nicht befleckt werden. Sie geht rein wieder zu Gott ein. Das Judentum kennt diese Geborgenheit der Seele im Hinblick auf Gott.
- Jedoch steht das Judentum fest im Rahmen von heiligen Gesetzen und religiösen Pflichthandlungen, die vielfach vom frühen Christentum übernommen wurden. Dabei wurde ihre Bedeutung gewandelt und zudem durch zahlreiche heidnische Bräuche ergänzt.
- Die Lehre Jesu von der reinen Annahme der Seele geht per missio (Mission) über die ganze Welt.
Albert Schweitzer (1875-1965)
Dieser berühmte Musiker, Theologe und Arzt verfasste am Ende des 19. Jahrhunderts ein Buch über die „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“. Darin konnte er überzeugend nachweisen, dass fast alle Jesus-„Biographien“ eigene Vorstellungen in die Texte hineinprojizierten. Wo Jesus etwa der große Erfinder der „Goldenen Regel“ gewesen sein sollte, dachte der aufgeklärte Forscher an den kategorischen Imperativ Immanuel Kants. Wo er der Freund aller Menschen und Tiere gewesen sein sollte, dachte der die romantische Natur liebende Forscher an Franz von Assisi. Wo er der Held eines nationalen Befreiungskampfes sein sollte, dachte der patriotische Forscher an seine Burschenschaft usw..
Schweitzer entdeckte auch die jüdische Apokalyptik wieder, die den Rahmen der Verkündigung von Jesus und Paulus bildete. Damit gab er dem religiösen Sozialismus, aber auch der späteren dialektischen Theologie entscheidende Impulse.
Zweite Phase: Von Joachim Jeremias bis zum Jesus-Seminar
Ansätze
Joachim Jeremias (1900-1979)
Er lebte 1910-1915 in Jerusalem, studierte Theologie und orientalische Sprachen und wurde 1928 Direktor des Instituts für Judaistik in Berlin. Er gilt als einer der profundesten Kenner Palästinas zur Zeit Jesu, der archäologische, geographische, politisch-ökonomische und neutestamentliche Forschung verband.
Sein Hauptinteresse galt der Rekonstruktion der historischen Verkündigung Jesu auf dem Hintergrund des zeitgenössischen Judentums. Er beherrschte alle damalige Sprachen und führte das „Echtheits“-Kriterium in die NT-Forschung ein: Authentisch ist ein Jesuswort allenfalls dann, wenn es sich vom Griechischen ins Hebräische und von da aus ins Aramäische, die Muttersprache Jesu, zurück übersetzen lässt.
Seine Hauptwerke „Jerusalem zur Zeit Jesu“ (1923), „Die Abendmahlsworte Jesu“ (1935), „Die Gleichnisse Jesu“ (1947),, „Die Bergpredigt“ (1959), „Das Vaterunser“ (1962), „Der Opfertod Jesu Christi“ (1963), „Abba“ (Aufsätze 1966), „Neutestamentliche Theologie 1. Teil: Die Verkündigung Jesu“ (1970) wurden in viele Sprachen übersetzt und erlangten ökumenische Bedeutung. Sie gelten heute noch als historische Standardwerke.
(siehe Literaturverzeichnis)
Rudolf Bultmann (1884-1976)
Bultmann studierte Theologie, u.a. in Marburg bei W. Herrmann, J. Weiss und W. Heitmüller, einem Vertreter der religionsgeschichtlichen Schule. Er wurde 1918 Professor für Neues Testament in Gießen, wo auch Rudolf Otto und Martin Heidegger lehrten.
Er gehörte seit 1922 zur Bewegung der „dialektischen“ Theologen, die sich nach 1918 von der liberalen Theologie abwandten. Er fand in Heideggers Existenzphilosophie die begriffliche Möglichkeit, Gott als Ganz Anderen dennoch in Relation zum Menschen zu denken und die NT-Verkündigung existential zu interpretieren.
Er führte die formgeschichtliche Methode in die NT-Forschung ein und wandte sie in seinem Standardwerk „Geschichte der synoptischen Tradition“ an. Darin löste er die Evangelien in viele einzelne Textperikopen auf und erklärte einen Großteil der Verkündigung Jesu als nachösterliche Gemeindebildung.
In seiner "Theologie des Neuen Testaments" ordnete er Jesus ganz in das Judentum ein und ließ die eigentliche christliche Theologie - im Gegensatz zu Jeremias - erst mit dem "Kerygma" (der Botschaft) der Urgemeinde und Paulus beginnen.
1941 verfasste er den Aufsatz „Neues Testament und Mythologie“. Darin erklärte er, dass die mythologische Form des Heilsgeschehens dem modernen Menschen nichts mehr sagt und den eigentlichen Anstoß des Evangelium verdeckt. Fasse man die Botschaft des NT jedoch existentiell auf, dann ließen sich die Texte „entmythologisieren“ und als Ruf zum Glauben weiterverkünden. Dieser Aufsatz wurde erst nach 1945 bekannt. Mit „Kerygma und Mythos“ (1948) wurde Bultmanns Programm der Entmythologisierung international verbreitet und löste eine heftige, bis heute anhaltende Debatte aus.
(siehe Literaturverzeichnis)
Ernst Käsemann (1906-1998)
Käsemann promovierte 1931 bei Bultmann in Marburg und gilt als dessen profiliertester Schüler. Als Professor für das Neue Testament in Göttingen schrieb er 1954 den epochalen Aufsatz „Das Problem des historischen Jesus“. Darin hielt er gegen seinen Lehrer Bultmann gesichertes Wissen über Jesu Leben und Botschaft für möglich, wobei er wieder an Ferdinand Christian Baur anschloss.
Er legte ein doppeltes Differenzkriterium an die synoptische Tradition an: „Echt“ ist ein Jesuslogion, wenn es sich weder aus der jüdischen Umwelt noch aus Leben und Lehre des Urchristentums erklären lässt. Hinzu kamen die Kriterien der Mehrfachbezeugung und der Übereinstimmung (Kohärenz) mit anderen als echt erwiesenen Jesusworten. Diese Kriterien haben sich in der Jesusforschung durchgesetzt und wurden 30 Jahre lang ihre dominierende Arbeitsmethode.
Darüberhinaus sah Käsemann die jüdische Apokalyptik, in die er Jesu Botschaft einordnete, als prägendes Element der paulinischen Rechtfertigungslehre und „Mutter der Theologie des Neuen Testaments“ an. Insofern war er einer der letzten Neutestamentler, die einen historisch-theologischen Gesamtentwurf präsentieren konnten.
Günther Bornkamm (1905 – 1990)
Willy Marxsen (1919-1993)
Marxsen studierte Theologie in Kiel, wo er 1956 mit einer viel beachteten Arbeit über das Markusevangelium promovierte. Er erklärte das Markuskonzept des „Messiasgeheimnisses“ mit Hilfe der traditions- und religionsgeschichtlichen Methode, die er in die deutschsprachige Exegese einführte. Als Professor für das Neue Testament in Münster unterschied er in der Nachfolge Bultmanns zwischen Jesu Verkündigung und dem „Christus-Kerygma“, der urchristlichen Botschaft. Sein Interesse galt vor allem der Analyse der Auferstehungstexte, die er entmythologisierend auslegte. Deshalb sah er sich Anfeindungen konservativer Theologen ausgesetzt.
Gerd Theißen, Luise Schottrof, Wolfgang Stegemann (*1945)
Diese drei Namen stehen für die in Deutschland seit 1970 verstärkte Beachtung der ökonomischen, sozialen und politischen Situation, unter der die Jesusbewegung lebte, litt und gegen die sie kämpfte.
Theißen vertrat mit der "Soziologie der Jesusbewegung" (1977) die These vom "Wanderradikalismus" nicht nur der Jesusjünger, sondern auch anderer entwurzelter und vom Elend bedrohter Gruppen im damaligen Israel. Er erklärte frühe Überlieferung der Logienquelle aus dieser Lebenssituation.
Schottrof und Stegemann haben seine These in dem kleinen, aber aussagekräftigen Buch "Jesus von Nazareth - Hoffnung der Armen" stärker differenziert. Während Jesus und seine Nachfolger zu den Bettelarmen gehörten, waren die Gemeinden des 1. Jahrhunderts bereits aus Armen und "mittelständischen" Reichen zusammengesetzt.
Im Lukas-Doppelwerk wird sichtbar, wie Jesu Besitzlosigkeit zur Forderung des Besitzverzichts und der Gütergemeinschaft an diese Christen umgewandelt wurde. Dabei flossen auch hellenistische Armuts-Ideale ein.
Auch der Religionssoziologe Hans G. Kippenberg hat mit seinem Buch "Religion und Klassengesellschaft im antiken Judäa" (1982) entscheidende Informationen für die soziologische Einordnung der Jesusbewegung beigesteuert.
(siehe Literaturliste)
Das Jesus-Seminar (seit 1985)
Das Jesus-Seminar wurde 1985 als Teil des Westar-Instituts in Kalifornien von dem amerikanischen Orientalisten Robert W. Funk gegründet. Es widmet sich ganz der Suche nach authentischem Jesusmaterial.
Dazu will es die internationalen Forschungen zum historischen Jesus zusammenführen und ihren Austausch fördern. So will man die historischen Fakten überprüfen und von Gerüchten und Spekulationen unterscheiden. Dabei konzentriert sich das Seminar auf die Zeit von Jesu Auftreten (ca. 30) bis 200 n. Chr..
Im Halbjahresrhythmus finden internationale Mitgliedertreffen statt, wo Forschungsergebnisse ausgetauscht und diskutiert werden. Diese sind zugleich ein öffentliches Forum auch für Laien. Die Debatten werden aufgezeichnet und durch Medien wie das Internet verbreitet. Die Forschung wird also nicht nur im elitären Forscherzirkel, sondern demokratisch zugänglich und diskutierbar gemacht.
Das Jesus-Seminar hat sehr spezifische Kriterien für seine Arbeit aufgestellt, die im theologischen Mainstream selten vertreten werden. Eine Aussage von Jesus wird beispielsweise nur als authentisch angesehen, wenn es sich um einzelne Aussprüche oder Gleichnisse handelt, Dialoge oder längerere Reden werden ausgeschlossen. Ebenso werden Aussagen von Jesus nur als echt gewertet, wenn sie sonst weder im jüdischen Kontext noch im frühchristlichen Kontext vorkommen. Das Thomasevangelium wird als ältere Quelle als die synoptischen Evangelien angesehen.
Jede Streitfrage wird am Ende einer Debatte zur Abstimmung gestellt, um zu testen, wie viel relative historische Evidenz der einen oder anderen Antwort die Forscher beimessen. Die durchschnittliche Stimmenmehrheit entscheidet, was vom Seminar als verifizierbare Datenbasis über Jesus akzeptiert wird. Insofern repräsentieren die regelmäßigen Seminarberichte ein ausgewogenes Urteil aller Beteiligten, nicht Einzelmeinungen.
Das Jesus-Seminar stellt sich in seinen Publikationen oft als die aktuelle Meinung der wissenschaftlichen Theologie dar. Die meisten deutschen Theologen fühlen sich von ihm jedoch nicht vertreten. Evangelikale Theologen im englischen Sprachraum bezeichnen seine Vertreter als Teil des extrem liberalen Spektrums der Theologie und kritisieren sowohl ihre Methoden als auch ihre Grundannahmen, z.B. in Moreland et al. "Jesus under Fire". In mehreren Büchern stellen Vertreter des Jesus Seminars und der evangelikalen Theologie ihre Ansichten nebeneinander, beispielsweise in William Lane Craig's: Will the Real Jesus Please Stand Up?: A Debate Between William Lane Craig and John Dominic Crossan ISBN 0801021758.
Dritte Phase: Gegenwärtige Forschungen (seit 1980)
Ansätze
- geht eher historisch als theologisch vor
- sieht Jesus als Juden im jüdischen Kontext: auch ein Reflex des seit 1945 begonnenen, seit 1960 verstärkten
- jüdisch-christlichen Dialogs.
John Dominic Crossan (*1934)
E. P. Sanders (* 1936)
Die wichtigsten Werke von Sanders über Jesus sind Jesus and Judaism (1986) und The Historical Figure of Jesus (1996).
Sanders ist mehr Historiker als Theologe und konzentriert sich auf die historischen Tatsachen über das Leben von Jesus, während er seine Lehre eher beiseite lässt. Er geht von einigen historischen Tatsachen aus, die, wie er sagt, kaum bestritten werden:
- Jesus wurde durch Johannes den Täufer getauft
- Jesus war ein Galiläer der predigte und heilte
- Jesus berief Jünger und sprach über zwölf von ihnen
- Jesus beschränkte seine Aktivitäten auf Israel
- Jesus war in eine Kontroverse bezüglich des Tempels verwickelt
- Jesus wurde außerhalb von Jerusalem durch die römische Besatzungsmacht gekreuzigt
- Nach seinem Tod waren seine Jünger weiterhin eine identifizierbare Bewegung
- Mindestens Teile des Judentums verfolgten mindestens Teile der neuen Bewegung und diese Verfolgung dauerte bis zum Ende der Wirksamkeit von Paulus an (60er Jahre).
Sanders geht sehr kritisch mit den historischen Belegen um und verzichtet auf Spekulation. Was ihn auszeichnet ist eine profunde Kenntnis der außerbiblischen jüdischen Literatur. Von daher widerlegt er sachkundig einige der stereotypen Karikaturen, die in der Theologie über die jüdischen Gegner von Jesus existieren.
N. T. Wright (* 1949)
N.T. Wright's Hauptbeitrag zur Leben-Jesu-Forschung ist sein mehrbändiges Werk Christian Origins and the Question of God, von dem bisher drei Bände veröffentlicht sind.
- Im ersten Band "The New Testament and the People of God" beschreibt er ausführlich seine Methodik, dann das Judentum und dann das Christentum des ersten Jahrhunderts.
- Der zweite Band "Jesus and the Victory of God" gibt einen ausführlichen Überblick über die Leben-Jesu-Forschung und beschreibt dann Leben und Lehre Jesu, ausgehend vom Typus eines jüdischen Propheten.
- Der dritte Band erschien 2003 mit dem Titel "The Resurrection of the Son of God". Wright untersucht darin die Vorstellungen vom "Jenseits" und von der "Auferstehung" vor, während, im und nach dem Neuen Testament.
Er beginnt mit dem Hellenismus, dann dem Alten Testament und Judentum des zweiten Tempels, dann Paulus, dann dem Urchristentum im NT, dann den Apokryphen und frühen Kirchenvätern bis zum dritten Jahrhundert.
Erst daraufhin untersucht er ausführlich die Ostergeschichten der Evangelien in Bezug auf die zuvor erarbeiteten Sichtweisen. Der letzte Teil diskutiert die wichtigsten Erklärungen für das Auferstehungsgeschehen und die Herausforderung, die es für den Historiker darstellt.
Wright geht in seiner Arbeit von einem sehr breiten historischen Ansatz aus, der als Primärquellen neben dem Neuen Testament griechische Philosophie, die Texte von Qumran und Nag Hammadi ebenso berücksichtigt wie die Kommentare des Talmud zum Neuen Testament. Er fragt nach der in narrative (erzählende) Texte eingebetteten jeweiligen Weltanschauung der verschiedenen historischen Gruppen und Personen.
Methodisch geht er einen Mittelweg zwischen historischem Positivismus und postmodernem Dekonstruktionalismus, den er kritischen Realismus nennt. Er sieht keinen Gegensatz zwischen Historie und Theologie, sondern geht davon aus, dass beide sich gegenseitig bedingen.
Gleichzeitig hinterfragt er sowohl konservative wie moderne theologische Hypothesen. Er stellt eigenständige Hypothesen auf, die einige Lieblingsvorstellungen beider Seiten zerstören. Darum verursachte dieser Band bereits einige Kontroversen und wurde von Theologen beider Lager scharf kritisiert.
William Lane Craig
Literatur
- Gotthold Ephraim Lessing: "Neue Hypothese über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichtsschreiber betrachtet." 1778
- David Friedrich Strauß: ,Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 1839, ISBN 3933688922
- Ernest Renan: Das Leben Jesu (1863), Diogenes, Zürich 1981, ISBN 3-257-20419-1
- Johannes Weiß: "Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes." 1892
- Martin Kähler: "Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus." 1892
- Adolf von Harnack: "Das Wesen des Christentums". 1900
- William Wrede: "Das Messiasgeheimnis in den Evangelien." 1901
- Julius Wellhausen: "Einleitung in die drei ersten Evangelien." 1905
- Albert Schweitzer: Von Reimarus zu Wrede: Eine Geschichte der Leben Jesu-Forschung1. Auflage 1906
- Heinrich Julius Holtzmann: "Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie I". Tübingen, 2. Auflage 1911
- Wilhelm Bousset: "Kyrios Christos." 1913
- Karl Ludwig Schmidt: "Der Rahmen der Geschichte Jesu. Literarkritische Untersuchungen." 1919
- Eduard Meyer: "Urgeschichte des Christentums". 5. Auflage 1921, ISBN 388851200X (Nachdruck)
- Rudolf Bultmann: "Jesus." 1926 ISBN 3825212726
- derselbe: "Neues Testament und Mythologie. Zum Problem der Entmythologisierung." 1941
- Martin Dibelius: "Jesus." Göschen, 2. Auflage 1949
- Günter Bornkamm: "Jesus von Nazareth." Urban TB Band 19, Kohlhammer 1995 (1. Auflage Stuttgart 1956), ISBN 3170138960
- James M. Robinson: "Kerygma und historischer Jesus." 1960
- Herbert Braun: "Jesus." 1969
- Milan Machovec: "Jesus für Atheisten." 1972
- Hanna Wolff: "Jesus der Mann." 1975
- E. P. Sanders: Jesus and Judaism, 1985, 0800620615
- N. T. Wright: Jesus and the Victory of God (Band 2 von Christian Origins and the Question of God), 1992, ISBN 0800626818
- Michael J. Wilkins, J.P. Moreland: Jesus Under Fire, 1994, ISBN 0310211395
- John Dominic Crossan: Der historische Jesus, 1995, ISBN 3406385141
- Paul Copan, John Dominic Crossan, William F. Buckley, William Lane Craig: Will the Real Jesus Please Stand up: A Debate Between William Lane Craig and John Dominic Crossan, 1998, ISBN 0801021758
- Ulrich H. J. Körtner: Jesus im 21. Jahrhundert, 2001, ISBN 3788718986
- Carsten Peter Thiede: Jesus, 2003, ISBN 3929246953
- Hans W. Matthies: Jesus - Und was bleibt übrig?, 2003, ISBN 4673538986
- Theißen, Merz: Der historische Jesus, 2001, ISBN 3525521987