Kunstlied
Als Kunstlied wird eine Gattung des Liedes bezeichnet, die sich Ende des 16. Jahrhunderts entwickelte. Im Unterschied zum Volkslied, das mündlich tradiert wird und oft keinen bekannten Komponisten vorweisen kann, sind Kunstlieder bewusste Schöpfungen eines einzelnen Komponisten.
Merkmale des Kunstliedes
Formal unterscheidet man:
- Durchkomponierte Lieder
- Dem Geschehen folgen stets neue Melodie und Begleitung. Beispiele: Mit der Njanja aus dem Zyklus Kinderstube, Modest Mussorgski, Der Erlkönig op.1 von Franz Schubert. Stimmungswechsel durch den Text haben Einfluss auf die musikalische Gestaltung, der musikalische Strophenaufbau geht verloren.
Vertonungen von Lyrik sind für Kunstlieder charakteristisch. Sie werden auf Grundlage einer schriftlichen Fixierung gesungen, Volkslieder dagegen mündlich tradiert. Kunstlieder werden meist von ausgebildeten Sängern interpretiert, weil die Anforderungen für die Stimme gegenüber einem Volkslied generell deutlich höher sind. Es existieren ebenfalls Volkslieder, wo der Autor bekannt ist, deshalb werden die Volkslieder in primär(Autor bekannt) und sekundär(Autor unbekannt) unterteilt.
- Einfache Strophenlieder
- Melodie und Begleitung sind in jeder Strophe dieselbe. Die so erzeugte Gesamtstimmung erstreckt sich über das ganze Lied. Beispiel: Der Zauberer, W. A. Mozart. Stimmungswechsel haben keinen Einfluss auf die strophische Anlage.
- Variierte Strophenlieder
- Melodie und Begleitung ändern sich in bestimmten Strophen. Beispiel: Der Lindenbaum aus dem Zyklus Winterreise, Franz Schubert. Stimmungswechsel haben nur einen geringen Einfluss auf die strophische Anlage (z. B. Wechsel von Dur nach Moll, Ausschmückung von Strophen, Ergänzung durch einen kleineren neuen Teil)
Zuweilen kommt es vor, dass Volkslied und Kunstlied ineinander übergehen. Franz Schuberts Lied Der Lindenbaum aus seinem Zyklus Winterreise wurde z. B. durch eine Männerchorfassung von Friedrich Silcher, welche die dramatische Molltrübung in einer Strophe schlicht überging, als das Volkslied Am Brunnen vor dem Tore bekannt, auch wurde Guten Abend, gut’ Nacht, das als Volkslied weit bekannt ist, ursprünglich von Johannes Brahms komponiert.
Geschichte
Mittelalter

Die Tradition des ritterlichen Minnesangs aus dem Mittelalter bildet die Grundlage für das Kunstlied. Voraussetzungen für das Entstehen der Minnelieder waren das im Mittelalter dominierende christliche Weltbild und damit die Fähigkeit, natürliche Erlebnisse sprachlich in eine geistige, phantastische Sphäre zu rücken, sowie der Begriff der individuellen Persönlichkeit, die zu dieser Zeit nur von den Mitgliedern des adligen Standes gelebt und vertreten werden konnte. Troubadours (Provence), Trouvères (Nordfrankreich) und Minnesänger (Deutschland) sowie andere Ritter in ganz Europa vertonten eigene Texte, meist Liebeslieder und Naturlyrik, zu Ehren der adligen Frauen. Auch politisch-soziale Lieder, Lob- und Spottlieder, Tanzlieder und andere Werke wurden erdichtet und gespielt.
Die Minnesänger trugen ihre Schöpfungen in Personalunion von Komponist und Sänger selbst vor, meist begleiteten sie sich selbst auf der Laute. Weitere typische Instrumente, die von anderen Musikern zur Begleitung gespielt wurden, waren Fidel, Dudelsack oder Schalmei; Inhalte von Helden- und Preisliedern wurden auch mit der Harfe untermalt.
Neben der mündlich vorgetragenen Dichtung wurden Texte und einige wenige Melodien auch schriftlich in Quadratnotation notiert. Die wichtigsten Zeugnisse für die Entwicklung des Liedes bleiben heute die Liederhandschriften, z. B. der Codex Manesse, die Jenaer Liederhandschrift und die Kolmarer Liederhandschrift aus dem 14. und 15. Jht. In Deutschland entwickelte sich die dreiteilige Barform aus Stollen, Stollen und Abgesang zu einer der am weitesten verbreiteten Formen, die als Lied, Leich oder Spruch überliefert werden.
Bernart de Ventadorn, Richard Löwenherz und Blondel de Nesle, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Heinrich von Meißen und Neidhart von Reuenthal sind als berühmte Dichter-Sänger ihrer Zeit zu nennen, von denen einige auch bei dem Sängerkrieg auf der Wartburg 1207 teilnahmen. Als letzter Minnesänger gilt Oswald von Wolkenstein, bevor das musikalische Leben von der adligen Welt im 13. Jht. in das Bürgertum überging.
In den Städten schlossen sich in dieser Zeit die Bürger zu mächtigen gemeinschaftlichen Bünden wie der Hanse zusammen oder entwickelten eine strenge Familienherrschaft, und entwickelten ihre eigene Kunst und neue Ausdrucksformen. Dennoch wurde der Gedanke des Sologesangs von der neuen bürgerlichen Kultur beibehalten, und nach dem Minnesang entwickelte sich die bürgerliche Form des Meistersangs. [1]
Der Meistergesang organisierte sich, nachdem die ersten Sänger als Vaganten unterwegs waren, in festen Singschulen, die zuerst in Mainz (14. Jht?), Augsburg (1449) und Nürnberg (1450) entstanden. Er wurde von einer stetig wachsenden Anzahl an künstlerischen Regeln begleitet und festgeschrieben, die eine künstlerische Weiterentwicklung zunehmend erschwerten. Zu den bekanntesten Meistersingern gehört Hans Sachs, der nach eigenen Angaben mehr als 4000 Meisterlieder gedichtet haben soll.
Barock

In der Musik des 17. Jahrhunderts entwickelte sich die Variante des Generalbassliedes, das sich an Monodie und Opernarie orientierte. Die Lieder waren sehr häufig in Strophenform gehalten und als einfache Kompositionen angelegt, die möglichst jeder nachsingen können sollte. Die Begleitung übernahm das Cembalo als Vorläufer des Klaviers, langsam ging die auf das Mittelalter zurückgehende Begleitung durch die Laute zurück.

Johann Sebastian Bach verfasste einige geistliche Lieder im von Georg Christian Schemelli herausgegebenen umfangreichen evangelischen Gesangbuch. Durch die künstlerische Begleitung und die behutsame Bearbeitung dieser Lieder ragen sie aus den Liedern ihrer Zeit heraus und können fast als kleine Sologesänge in sehr konzentrierter, schlichter Form angesehen werden. Unter seinen Werken nehmen Lieder aber eher eine untergeordnete Stellung ein.
In der Übergangszeit zur Wiener Klassik, der Empfindsamkeit, schreibt Carl Philipp Emanuel Bach bemerkenswerte Lieder, da sie zum ersten Mal nach einem inneren persönlichen Gefühlsausdruck in der Musik suchen. Dennoch sind die Texte ausnahmlos religiösen Inhalts: Die Geistlichen Oden und Lieder auf Texte von Christian Fürchtegott Gellert dienen zur religiösen Betrachtung und zur Innenschau im häuslichen Kreis. Sie werden rasch in Deutschland verbreitet und tragen so deutlich zur Popularisierung der Liedgattung bei. C. P. E. Bachs Lieder werden heute nur noch selten im Konzertsaal gespielt, bieten aber eine treffende Ausdeutung der von Gellert vorgeschriebenen Worte, die weit über das barocke Maß heraus geht. Sie sind von der notierten Tessitur heute für Sänger mit mittlerer und hoher Stimme geeignet.
Klassik
Das erste Drittel des 18. Jahrhundert verzeichnete einen Rückgang von Liedern zugunsten der Arie. Der Begriff Lied verlor an Deutlichkeit, was sich auch daran zeigt, dass ein Sololied manchmal als Aria betitelt wurde. Lieder galten als gesungene Texte ohne hohen Kunstanspruch. Der Typus des Strophenliedes war allgemein vorherrschend, auf den individuellen Text der jeweiligen Strophen wird nicht differenzierend eingegangen. Lieder galten als einfach, natürlich, volkstümlich, und ihre Melodien sollten im Sinne der ersten Berliner Liederschule, in der u. a. C.P.E. Bach wirkte, leicht sanglich und fassbar sein. Neu ist, dass die Generalbassbegleitung zunehmend durch eine ausgeschriebene Begleitung ersetzt wird.
In den Liedern der Wiener Klassik, die noch heute neben denen der Romantik bestehen, merkt man deutlich den Einfluss aus dem Bereich der Oper, der nach und nach die Gattung zu erweitern und auszubauen hilft. Joseph Haydn vertonte in London Canzonetten mit charakterisierenden Vor- und Nachspielen. Er schrieb auch die Hymne Gott erhalte Franz den Kaiser, deren Melodie heute die Grundlage für die deutsche Nationalhymne ist. Wolfgang Amadeus Mozart verfasste in der Gattung des Liedes Gelegenheitskompositionen mit unterschiedlichen stilistischen Eigenschaften. Er komponierte neben den üblichen kleinen Strophenliedern auch zum ersten Mal Lieder, die wie kleine Opernszenen wirken (z. B. Das Veilchen, Als Luise die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte).
Ludwig van Beethoven orientierte sich zunächst an der zweiten Berliner Liederschule, die Johann Abraham Peter Schulz, Johann Friedrich Reichardt und Carl Friedrich Zelter begründet hatten [2]. Neben anderen einzelnen Liedern wie z. B. Adelaide setzt An die ferne Geliebte einen deutlichen Impuls in Richtung Liederzyklus.
Romantik

Aquarell von Wilhelm August Rieder,
unten signiert von Rieder und Schubert

Das deutsche Kunstlied im engeren Sinne entwickelte sich in der Musik des 19. Jahrhunderts mit den Hauptvertretern Franz Schubert, Robert Schumann, Johannes Brahms und Hugo Wolf[3]. Franz Schubert erweiterte den Begriff des Kunstliedes in hohem Maße. Das bisher vorherrschende Strophenlied wird von ihm ausgebaut zum variierten Strophenlied, aber ebenso finden sich gänzlich durchkomponierte Lieder in seinem Schaffen. Das begleitende Klavier emanzipierte sich vollständig vom Sänger und schuf so einen reicheren Gegenpart zur Melodie. Für Schuberts Lieder ist typisch, dass er meist eine charakteristische melodische Figur (Motiv) wiederholt. In höchster Steigerung ist dies im Lied Gretchen am Spinnrade zu hören, in dem permanent das gleichmäßige Drehen des Spinnrades in der Klavierstimme dargestellt wird. Der Text geht zurück auf Johann Wolfgang von Goethes Faust. Schubert besaß auch den Mut, seine Vertonung Goethe selbst zuzusenden, der von Schuberts neuem Stil allerdings weniger angetan war - seiner Meinung nach stünde der Text dabei nicht mehr so stark im Vordergrund. Er bevorzugte daher die schlichteren Vertonungen Carl Friedrich Zelters. Schuberts wachsender Popularität tat das keinen Abbruch.

Seine beiden großen Liederzyklen Die schöne Müllerin (1823) und Winterreise (1827) auf Texte von Wilhelm Müller zählen zu den Höhepunkten der Liedliteratur und sind Prüfstein für jeden männlichen Interpreten, obwohl auch große Sängerinnen wie Christa Ludwig, Brigitte Fassbaender oder Christine Schäfer die Winterreise beeindruckend aufgeführt haben. Schubert war es auch, der die Gattung des Klavierliedes mit begleitendem Solo-instrument zusätzlich zum Klavier bekannt gemacht hat. "Der Hirt auf dem Felsen" gehört seit dieser Zeit zum bekanntesten Standardwerk für Sopran, Klarinette und Klavier. Der posthum erschienene Schwanengesang umfasst Lieder aus Schuberts letzter Schaffenszeit.
Schuberts Lieder wurden schließlich so bekannt, dass man das deutsche Wort Lied später in andere Sprachen übernommen hat (französisch: Le lied, englisch: The lied). Damit wird spezifisch das Kunstlied bezeichnet, das durch Schubert eine enorme Aufwertung erfuhr.
Robert Schumann schuf neben zahlreichen Liedern, die sehr eng an der literarischen Vorlage komponiert waren, die bedeutenden Zyklen Dichterliebe op. 48 und Frauenliebe und -leben op. 42. Sein Liederkreis op. 39 über Gedichte von Joseph von Eichendorff ist genauso wie die Myrten op. 25 eine inhaltlich nicht unmittelbar zusammenhängende Sammlung von Liedern. An Schumanns Liedern lässt sich eine deutliche Steigerung des lyrischen, intimen Ausdrucks festmachen, die besonders in seinen Klaviervor- und nachspielen bedeutende Schritte für die Aufwertung des Klavierpartes zu hören sind. Das Klavier wird zum eigenständigen, ebenbürtigen Parter, unterstreicht, kommentiert, ironisiert.

Johannes Brahms hat die Form des Zyklus um Die schöne Magelone und die Liebesliederwalzer bereichert und darüber hinaus eine große Anzahl an einzelnen Liedern geschrieben, von denen die in der Stimmung dunkel-sehnsüchtig gehaltene Mainacht zu den bekanntesten zählt.
Hugo Wolf komponierte stark am Text orientiert. Zunächst glühender Wagnerianer, versucht er als unangepasster Autodidakt zeitlebens, den Schatten seines großen Idols abzuwerfen und etwas Eigenständiges zu schaffen. Zu seinen Kompositionsweisen gehörte es, ein Gedicht so lange hintereinander aufzusagen, bis er die Worte nicht nur auswendig kannte, sondern den Rhythmus und die Bedeutung der Sprache selbst spüren und aus den Worten heraushören konnte. Diese intensive Beschäftigung mit der poetischen Vorlage des Liedes wird in seinen Liedern sehr deutlich. Er bezeichnete sie auch als Gedichte für eine Singstimme und Klavier. 1888 gelang ihm der Durchbruch mit seinen Mörike-Liedern. Ein spanisches Liederbuch und ein italienisches Liederbuch gehören ebenso zu seinen Werken wie zahlreiche Einzelschöpfungen. Die Aufführung von Wolf-Liedern setzt ein hohes Maß an Intelligenz und Einfühlungsvermögen voraus, da Stimme und Klavierbegleitung sich genauso wie die Musik vollkommen in den Dienst der Poesie stellen.[4]
Mit der Popularisierung des Kunstliedes auf dem öffentlichen Konzertpodium und der gleichzeitigen Erweiterung der sinfonischen Musik und Oper entstehen bald auch Lieder und Liederzyklen mit Orchesterbegleitung. Sie werden Orchesterlieder genannt, z. B. Gustav Mahlers Das Lied von der Erde, die Kindertotenlieder und die Lieder eines fahrenden Gesellen. In diese Gruppe zählen auch einige Lieder von Richard Strauss, Alexander von Zemlinskys Lyrische Symphonie und im weitesten Sinne Arnold Schönbergs großdimensionierte Gurre-Lieder (für Sprecher, Gesangssolisten, Chor und Orchester).
Bedeutende Schöpfer spätromantischer Kunstlieder sind des Weiteren Richard Strauss, Hans Pfitzner, Max Reger, Richard Wetz, Joseph Haas, Othmar Schoeck und Yrjö Kilpinen.
Eine ganz eigene Tradition des Kunstliedes entsteht in Frankreich, wo aus der Begeisterung für das schubertsche Lied bald eigene Schöpfungen entstehen. Die französische Mélodie besitzt durch ihre Sprache und meist sublime Behandlung musikalischer Nuancen ihre eigene Ausdrucksweise. Sie findet ihre berühmtesten Komponisten z. B. in Gabriel Fauré, Claude Debussy, Maurice Ravel, Jules Massenet, Reynaldo Hahn, Ernest Chausson, Nadia Boulanger und anderen.
In Russland schreiben Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Sergei Rachmaninow und Modest Mussorgski die heute bekanntesten romantischen russischen Lieder. Neben vielen langen lyrischen Linien und expressivem Gesang zeigen sie ihre stärksten Qualitäten in der Nähe zu Melancholie, Träumerei und Pathos. Im englisch-amerikanischen Sprachraum haben Aaron Copland, Leonard Bernstein, Charles Ives und Benjamin Britten sich in späteren Jahren eingehend mit der Gattung beschäftigt.
Moderne

Arnold Schönberg führte die Gattung des Liedes in die klassische Moderne weiter. Seine Beiträge zur Form des Liederzyklus sind Das Buch der hängenden Gärten op. 15 (auf Texte von Stefan George), sowie Pierrot lunaire op. 21 von 1912 für Sprechgesang und Kammerensemble. An einzelnen seiner frühen Lieder lässt sich sein Weg von der spätromantischen Tonsprache zur freien Atonalität aufzeigen: Immer stärker gelangt auch in seinem Liedschaffen die Dissonanz zum Vorrang. Alban Berg und Anton Webern experimentierten in extrem kurzen Liedern (15 Sekunden, 18 Sekunden) mit der Tonalität und Atonalität, um eine eigene Tonsprache zu finden. Dabei verliert die notierte Singstimme zunehmend an Sanglichkeit durch ungewöhnliche Intervallsprünge. Hanns Eisler verzichtete in seinen Liedern ganz auf abschließende Kadenzen und bricht seine Lieder oft abrupt ab. Seine Lieder bringen Song und Kunstlied miteinander in Verbindung. Der oft sozialkritische Text steht bei ihm im Vordergrund, das Klavier wird eher illustrierend behandelt. Paul Hindemith wandte sich formal wieder der Barockzeit zu, komponierte aber in seiner unverkennbar eigenen, tonalen Tonsprache. Sein Zyklus Das Marienleben auf Texte von Rainer Maria Rilke erzählt die Geschichte der biblischen Maria nach. Wolfgang Rihm vertonte Texte des schizophrenen Adolf Wölfli in seinem Wölfli-Liederbuch. Der Schluss des Zyklus mündet in ein Duo für zwei Schlagzeuger (Wölfli arbeitet wie verrückt). In seinem Liederzyklus Das Rot setzte er sich mit Gedichten der romantischen Dichterin Karoline von Günderode auseinander.
Zeitgenössische Komponisten versuchen oft nicht nur, die Belastungsgrenze der Stimme auszuloten, sondern auch neue Ausdrucksformen der menschlichen Stimme zu finden, die sich von der melodisch geprägten Gesangsästhetik unterscheidet, mit Brüchen, Reibungen, Unvorhergesehenem arbeitet und die Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Stimme auch jenseits klassischer Belcanto-Technik auslotet. Aribert Reimann vertonte Gedichte der amerikanischen Poetin Sylvia Plath und verwendet in seinen Kinderliedern für Sopran und Klavier auch abrupte Registersprünge und eine extrem hohe Stimmlage.
Stücke für ein zeitgenössisches Ensemble mit mindestens drei Musikern sind als Ersatz für das Klavierduo seit Schönberg zum Standard geworden, seltener sind die Stücke für Stimme solo wie Luciano Berios "Sequenza III". Helmut Lachenmann komponierte zuletzt Got lost für Stimme und Klavier. Mit einer Aufführungsdauer von fast einer halben Stunde geht dieses Werk allerdings deutlich über den traditionellen zeitlichen Rahmen von bis zu ca. fünfzehn Minuten für eine romantische Ballade von Carl Loewe hinaus und sprengt die Gattung des Liedes.
Liederabend

Die häufigste Darbietung von Kunstliedern findet im klassischen Konzert statt. Wenn ein Konzert ausschließlich aus Kunstliedern besteht, spricht man von einem Liederabend. Die Künstler wählen dabei aus dem Genre das Repertoire aus, das einerseits ihre individuellen Fähigkeiten am besten zur Geltung bringt, andererseits aber auch einem bestimmten Konzept folgt, das einen Zusammenhang zwischen einzelnen Liedern oder auch zwischen verschiedenen Liedzyklen schafft. Dieser Zusammenhang kann thematisch geschaffen werden (Russische Lieder, Frühlingslieder, Lieder als Hommage an einen berühmten Sänger), innerhalb eines Liederzyklus schon vorgegeben sein (Winterreise, Frauenliebe und -leben, Kindertotenlieder, Das Buch der hängenden Gärten, I hate music!) oder über Komponisten hergestellt werden (Schubertiade). In der Auswahl der Lieder zeigt sich neben der Stimmlage des Sängers und seinen Fähigkeiten auch sein Stilgefühl und sein Textverständnis. Geschulte Zuhörer können allein an der Auswahl des Programms meistens erkennen, wie die Stimme des Sängers oder der Sängerin klingen wird, was Spezialitäten und Vorlieben der Stimme sind.
Franziska Martienssen-Lohmann unterscheidet im Lied Lieder, die an ein imaginäres "Du" gerichtet sind, Lieder des reinen Ich, die der Sänger selbstversunken in seine eigene Welt hinein formuliert, eine hymnische Gruppe, in der kein "Du" oder "Ich" und auch die Wände des Saals nicht mehr existieren, und eine Gruppe, die sich unmittelbar an das Publikum wendet, mit ihm spielt, kokettiert oder es in die Darstellung mit einbezieht. Eine Sonderstellung nehmen die erzählenden Balladen und Zwiegesänge ein, die besondere Charakterisierungskunst vom Sänger verlangen, da er mehrere Rollen in einer Stimme darstellen muss.
„Die erste klangliche Forderung an den Liedersänger ist Farbfähigkeit der Stimme. Der Bühnensänger singt den ganzen Abend die hellere oder die dunklere Gestalt, die er verkörpert; der Liedersänger aber hat so viel Gestalten zu verkörpern, als er an dem Abend Lieder singt! Sein "Rollenfach" wechselt mit jedem Lied. Jede seiner "Rollen" hat ihre Stimmfarbe. [...] Wenn Schuberts "Der Tod und das Mädchen" von einem Mann gesungen wird, so bedeutet das gedämpfte Vorspiel innerste Ruhe: Denn der Sänger ist der Tod, der nachher spricht. Singt aber eine Frauenstimme das Lied, so ist es etwas völlig anderes. Sie verkörpert das Mädchen, das den Tod nahen fühlt, das das nie Gehörte dieser Akkorde des Vorspiels ahnend voller Grauen erfaßt - das gebannt ist in zitterndem Erschrecken. Der Beginn des Einsatzes "Vorüber, ach, vorüber!" bricht aus ihr wie aus namenlosem Entsetzen. Das Vorspiel, so fern von allem, was Theater heißt, verlangt in ihren Zügen die drängende innere Gespanntheit des Hörens, die sich zwangmäßig im Klang des Flehens entladen muß. Und dennoch darf sie in der Todesangst sich nicht so dramatisch und wild gebärden, daß die Worte des Todes: "Du schön und zart Gebild" ihre Gültigkeit ganz verlieren müßten. Jedes noch so kleine oder noch so große Lied ist Szene und Gestalt auf der Bühne des Menschenherzens.“
Im Unterschied zu einer Oper finden bei einem Liederabend traditionell keine szenischen Aktionen statt, obwohl in letzter Zeit auch Liederabende inszeniert oder mit Ballett und anderen Künsten angereichert werden, um die relativ statische Anordnung für das Publikum auch optisch interessanter zu machen. Der Vorteil für Künstler und Publikum in der traditionellen Darbietung liegt in einer größeren Konzentration auf die Musik. Ein Liederabend stellt dadurch eine besonders persönliche Form der Kommunikation zwischen Künstlern und Publikum her. Die Stimme des Sängers ist in keiner anderen Konzertumgebung so deutlich zu hören. Durch die Beschränkung der Begleitung auf das Klavier kommt dem Liedbegleiter hier eine bedeutende Rolle zu, da er dem Sänger nicht lediglich eine Vorlage für die Präsentation seiner Stimme liefert, sondern mit seiner Interpretation auf die gesamte Atmosphäre des Liederabends starken Einfluss nimmt. Idealerweise sollten Sänger und Begleiter sich deshalb künstlerisch und persönlich ergänzen, damit sie eine gemeinsame, stimmige Interpretation liefern können.
Liederabende werden, wenn sie mit Klavier begleitet werden, auch auf großen Konzertbühnen nicht elektronisch verstärkt. Opernhäuser bieten häufig Liederabende als Ergänzung zu ihrem Musiktheater-Programm an, in denen sich die Sänger einzeln ihrem Publikum vorstellen und ihren eigenen thematischen Schwerpunkt setzen. Werden Lieder und Arien in einem Programm kombiniert, spricht man von einem Lieder- und Arienabend. Bei Open-Air-Vorstellungen wird von großen Veranstaltern häufiger auf Orchesterlieder zurückgegriffen; in diesem Fall wird die Stimme auch elektronisch verstärkt. Als Variante zum Duo mit Klavier existiert auch die Möglichkeit, einen Liederabend mit Gitarre oder Harfe begleiten zu lassen.
Bekannte Liedsänger

- Elly Ameling
- Brigitte Fassbaender
- Dietrich Fischer-Dieskau
- Matthias Goerne
- Thomas Hampson
- Barbara Hendricks
- Christa Ludwig
- Christiane Oelze
- Hermann Prey
- Anneliese Rothenberger
- Peter Schreier
- Elisabeth Schwarzkopf
- Gérard Souzay
- Fritz Wunderlich
Siehe auch
Literatur
- Franziska Martienssen: Stimme und Gestaltung, Frankfurt 1927, Neuauflage 1993, C. F. Kahnt; ISBN 3-920522-08-7
- Franziska Martienssen-Lohmann: Der wissende Sänger, Frankfurt 1956, Neuauflage 2010, Schott; ISBN 978-3-7957-0717-0
- Werner Oehlmann: Reclams Liedführer. Stuttgart 1973, 4. A. 1993; ISBN 3-15-010215-4; 1.024 S. (m. 470 Notenbeispielen)
- Marie-Paule Hallard: Kleine Phonetik der französischen Sprache: Für Sänger, Klavierbegleiter, Gesanglehrer und Chorleiter, Hallard (Selbstverlag), 31 Seiten
- Marie-Paule Hallard: Gabriel Fauré: 60 Liedtexte op. 1-op.87, in französisch, phonetischer Transkription und deutscher Übersetzung, Hallard (Selbstverlag), 2005
Weblinks
- Gemeinfreie Lieder auf IMSLP
- Liedtexte in Originalsprache und Übersetzung
- 250 gemeinfreie Kunstlieder mit phonetischen IPA-Transkriptionen
- Freie Aufnahmen sämtlicher Lieder Franz Schuberts (im Aufbau)
- Lieder unbekannter Komponisten
- Essays des Opern- und Liedsängers Thomas Hampson, meist bezogen auf deutsche oder amerikanische Komponisten
- Zur Etikette im Konzertsaal