Verfassung des Kantons Basel-Landschaft
Die direkte Demokratie im Kanton Basel-Landschaft formte sich im 19. Jahrhundert mit dem Ausbau der Volksrechte auf Staats- und Gemeindeebene und der Konkretisierung der Volkssouveränität.
Der Kanton Basel-Landschaft führte 1832 als zweiter Kanton (St. Gallen 1831, Luzern 1841) das Volksveto ein. Obwohl sich das Veto in seiner Ausgestaltung von demjenigen in St. Gallen unterschied, entfaltete es während der Regeneration für die Entwicklung der direkten Demokratie in der Schweiz eine grosse Wirkung. Mit dem Veto und besonders mit dem obligatorischen Referendum (1863) besass er eine eigentliche Vorreiterrolle. Kein anderer Kanton kannte eine derartige Vielfalt direktdemokratischer Rechte.
Die Revolution von 1798 und die Gleichheitsurkunde
Der südliche Teil des Fürstbistums Basel wurde bereits Ende 1797 von den Franzosen besetzt. Am 15. Januar 1798 erliessen die Ausschüsse der Landschaft einen Aufruf, der sich auf das moderne Naturrecht abstützte: Bürger! Ihr wisst, dass das Landvolk seine natürliche Freyheit fordert, ein Recht, das von Gott und der Natur jedem Menschen angebohren ist.
Am 17. Januar 1798 brach die Helvetische Revolution aus und in Liestal wurde der erste Freiheitsbaum der Schweiz errichtet.
Die baselstädtische Obrigkeit (Bürgermeister, Klein- und Grossräte des eidgenössischen Freistandes Basel) beeilte sich in der grossen Ratsversammlung vom 20. Januar 1798 die sogenannte Gleichheitsurkunde, in der die Liestaler 4-Punkte Forderungen vom 13. Januar 1798 übernommen wurden, zu verabschieden und gewährte damit sämtlichen Gemeinden der Landschaft vollumfängliche Freiheits- und Gleichheitsrechte. Gleichentags wurde auf dem Basler Münsterplatz ein Freiheitsbaum errichtet.

Die in die Gleichheitsurkunde übernommenen vier Forderungen lauteten:
„1. Dass sie [gemeint sind sämtliche Gemeinden der Landschaft Basel, d.V.] entschlossen sind Schweizer zu bleiben. 2. Dass sie wollen Freiheit, Gleichheit, die heiligen unverjährbaren Rechte des Menschen, und eine Verfassung, wozu Repräsentanten aus dem Volk gewählt werden. 3. Enge Vereinigung der Stadtbürger mit den Landbürgern, als zu einem Körper gehörend, welche gleiche Rechte und gleiche Freiheit zu geniessen haben, und 4. Unverzüglich eine Volksversammlung begehren, wozu von Stadt und Land, nach zu bestimmenden Regeln, z. B. von fünfzig Bürgern einer erwählt würde, welche den zu bestimmenden Gesetzen für die Zukunft vorläufig beiwohnen könnten[1]“
Der erste Aufstand als Revolution der Regenerationszeit
Das Scheitern der Helvetischen Republik nach 1798 brachte ab 1815 die Restaurierung der vorrevolutionären Zustände. Obwohl es in der Gleichheitsurkunde hiess, dass die alten Verhältnisse zwischen Stadt und Land nie mehr wiederhergestellt werden sollen, vergingen nur ein paar Jahre, bis die aristokratische Stadtregierung der Landschaft die mit der Urkunde gewährten Rechte nach und nach wieder entzog.
Als die Unzufriedenheit über diesen Zustand in der Bevölkerung wuchs, verfasste Stephan Gutzwiller (1802-1875, Advokat und Mitglied des Grossen Rates in Basel) eine Bittschrift für eine neue Verfassung an die städtischen Oberen. Sie wurde von 40 heimlich in Bad Bubendorf versammelten Landbürgern beschlossen und mit 750 Unterschriften dem Amtbürgermeister überreicht. In der Bittschrift bezog sich Gutzwiller auf die Gleichheitsurkunde, deren Kopie beigelegt wurde. So wurde die Revolution der Patrioten von 1798 im Baselland wie in anderen Kantonen zu einem zentralen Bezugspunkt für die Revolutionen ab 1830.
In der Bittschrift wurde klar signalisiert, dass man bereit war, das gemeinsame Band mit der Stadt zu erneuern, aber nicht um jeden Preis:
„In dieser Aufhebung der Gleichheit und der rechtswidrigen Art wie es geschehen ist, erblicken wir die völlige Zernichtung der heiligsten durch die Natur, durch Urkunden, und durch die feierlichsten zu Gott geschwornen Eide uns zugesicherten Rechte; wir erblicken darin die Aufhebung des Bandes, welches früher Stadt und Land zu einem Körper vereinigte; wir erblicken darin endlich den Keim des Zwiespaltes zwischen Stadt und Landschaft, welche bei jeder äussern und innern Veranlassung sich regen, und früher oder später unser gemeinsames Vaterland dem Verderben entgegenführen müsste[2]“
Die Bittschrift Gutzwillers und seiner Mitstreiter ging nicht über die «Gleichheitsurkunde» von 1798 hinaus, da diese bereits alle demokratierelevanten Inhalte umfasste. Sie argumentierten im Sinne der Urkunde, dass aufgrund der Menschenwürde sämtlichen Gemeinden der Landschaft eine glückliche Freiheit und Gleichheit für jedermann zu gewähren seien[3]. Mit den Begriffen Menschenwürde und Gemeinden knüpften sie an das moderne Naturrecht nach Samuel von Pufendorf und die genossenschaftliche Verfassung aller Gemeinden an, zwei wichtigen Bausteinen für die Demokratisierung in der Schweiz.
Die gemeinsame Verfassung von 1831
Auf den revolutionären Druck hin nahm der Grosse Rat die bereits in Ansätzen seit 1829 diskutierte Verfassungsrevision in Angriff. Der vorgeschlagene Verfassungsentwurf brachte für die politischen Kreise um Gutzwiller jedoch nicht die geforderte Gleichheit mit der Stadt, da die Vertretung der bevölkerungsmässig doppelt so grossen Landschaft im Grossen Rat weiterhin nicht repräsentativ gewesen wäre.
Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, organisierte die Landschaft am 4. Januar 1831 in Liestal eine «Landsgemeinde» mit 2000 bis 3000 Personen, nach dem direktdemokratischen Vorbild der Schweizer Landsgemeindekantone und den sogenannten Volkstagen in anderen Kantonen, und forderten die Repräsentation im Grossen Rat nach der Volkszahl, die Gleichheit aller politischen und bürgerlichen Rechte, einen vom Volk gewählten Verfassungsrat und eine Volksabstimmung über die revidierte Verfassung.
Mit der Wahl einer provisorischen Regierung am 6. Januar in Liestal folgte der erste revolutionäre Akt der Landschaft. Die städtische Regierung in Basel reagierte auf den Aufruhr mit der militärischen Besetzung von Binningen, Allschwil und Liestal. Die provisorische Regierung floh nach Aarau.
Der Grosse Rat verabschiedete am 12. Februar 1831 die revidierte Verfassung mit den Bestimmungen zur direkten Wahl des Grossen Rates, dem Zensus, der Vorrechte der Hauptstadt, der Erwerbsfreiheit sowie der Bestimmung, dass zur Annahme der Verfassung die Mehrheit von Stadt und Land nötig seien. Diese gemässigt liberale Verfassung wurde 28. Februar 1831 von der Mehrheit der Stadt- und Landbürger angenommen.
Der zweite Aufstand und die Basler Kantonstrennung
Als einige Monate später die provisorische Regierung einen Tagesbefehl erliess, der die Landschaft vom Gehorsam gegenüber der städtischen Regierung entband, liess diese erneut Truppen gegen Liestal einrücken. Die Tagsatzung reagierte auf diesen zweiten Aufstand der Landschaft mit der Besetzung der Basler Landschaft durch eidgenössisches Militär und der Aufforderung an die Stadt, der Landschaft entgegen zu kommen. Bei der von der städtischen Obrigkeit angeordneten Abstimmung über den Verbleib der Landschaft bei der Stadt, sprach sich 1831 eine Mehrheit der Landschaft bei starker Enthaltung gegen eine Trennung von der Stadt aus.
Trotz diesem demokratischen Entscheid beschloss der Grosse Rat gegen die oppositionellen Gemeinden vorzugehen und ihnen die öffentliche Verwaltung zu entziehen, wenn sie sich nicht nachträglich durch Mehrheitsbeschluss zum Kanton Basel bekennen würden.
In der Folge erklärte am 17. März 1832 eine Volksversammlung in Liestal die 46 «bestraften» Gemeinden für souverän und legte damit den Grundstein für den neuen Kanton Basel-Landschaft. Der Beschluss stützte sich auf die Definition der «Volkssouveränität» in Jean-Jacques Rousseaus Contrat social von 1762.

Die Einführung des Vetos mit der ersten Verfassung von 1832
Der von der Landschaft gewählte Verfassungsrat begann eine Verfassung für Baselland auszuarbeiten und rief die Bevölkerung dazu auf, Vorschläge mittels Petitionen einzureichen. Der Vorschlag nach einer einzigen zentralen Landsgemeinde, welche die legislativen Geschäfte hätte abwickeln sollen, wurde im Verfassungsrat verworfen, weil man befürchtete, die Stadt könnte diese für einen Wiederanschluss beeinflussen, womit die erkämpfte Selbständigkeit verloren ginge. Weitere Vorschläge betrafen die Konkretisierung der Volkssouveränität insbesondere mittels des Vetos, dem Recht der Bürger, Gesetze anzunehmen oder zu verwerfen. Mehrere Petitionäre bezogen sich dabei auf das Vorbild des St. Galler Vetos.
Die Kommission legte aufgrund der Eingaben folgenden Grundsatz für die Volkssouveränität fest: «Wenn der Begriff der Volkssouveränität in seiner ursprünglichen Klarheit gelten soll, so muss auch das Volk als die höchste Behörde im Staate gelten.»
Die Liberalen, wie Gutzwiller und seine Anhänger, wollten am Repräsentativsystem festhalten, sahen das Veto als gefährlich an und wollten dem Volk keine Gesetzgebungskompetenz geben. Die andere Hälfte des Verfassungsrates, die Radikalen, traten für mehr direkte Demokratie ein.
An der entscheidenden Sitzung des Verfassungsrates vom 27. April 1832, war eine Mehrheit für das Veto. Der Verfassungsrat hatte erkannt – wie ein Jahr zuvor im Kanton St. Gallen –, dass ein Gesetz auch nach der Schlussabstimmung im Landrat auf Widerstand im Volk stossen konnte. Das Prinzip der Volkssouveränität verlangte eine demokratische Anpassung des Repräsentationssystems mit weitreichenden Folgen für die politische Kultur. Das Veto wurde anders als in St. Gallen ausgestaltet, war aber ebenfalls mit hohen Hürden (Quorum von zwei Dritteln des souveränen Volkes) versehen. Die Verfassung, die neben dem Gesetzesveto die Gewaltentrennung und das allgemeine Wahlrecht für Männer über 20 Jahre enthielt, wurde am 4. Mai 1832 von der stimmberechtigten Bevölkerung deutlich angenommen.
Diese Souveränitätserklärung liess den Konflikt mit der Stadt eskalieren. Der neue Kanton Baselland konnte seine Unabhängigkeit nach blutigen Zusammenstössen mit städtischen Truppen jedoch behaupten. Am 16. August 1833 besiegelte die eidgenössische Tagsatzung die Totaltrennung unter dem Vorbehalt freiwilliger Wiedervereinigung.
Die Vetopraxis zwischen "Ordnung" und "Bewegung"
Die Vetohürden für das Veto wurden 1838 mit der teilrevidierten Verfassung tiefer gelegt. Anstelle der Rigiditätsperiode für Verfassungsänderungen von sechs Jahren, genügte nun das absolute Mehr der Stimmberechtigten an offenen Gemeindeversammlungen. Die Vetopraxis zeigte, dass in der Verfassung der Begriff Gesetzgebung juristisch noch nicht klar formuliert war und sich Vetobewegungen auch gegen Verordnungen richteten. Zwölf Jahre später erfolgte ein weiterer Hürdenabbau, in dem der Umfang des Vetos erweitert und die Einspruchfrist verlängert wurde.
Im neuen Kanton gab es noch keine eigentlichen Parteien, sondern zwei politische Bewegungen. Die "Ordnungsbewegung" unter Stephan Gutzwiller vertrat das Repräsentationsprinzip. Sie versuchte nach der Kantonsgründung die Revolution zu stabilisieren und einer gewissen Ordnung zum Durchbruch zu verhelfen. Die "Bewegungsleute" um Emil Remigius Frey, Mitglied der provisorischen Regierung und Verfassungsrat, traten aus jakobinisch-frühsozialistischer Überzeugung für weitergehende Volksrechte und das Veto ein, das schliesslich in der Verfassung verankert wurde. Neu gegründete Zeitungen und die in der Helvetik errungene Pressefreiheit ermöglichten die Verbreitung ihrer politischen Anliegen in der Öffentlichkeit. Frey wurde Redaktor der neuen radikalen Zeitung Volksblatt aus Baselland (1861) (1865 Basellandschaftliches Volksblatt). Stephan Gutzwiller gehörte zu den regelmässigen Mitarbeitern der Basellandschaftlichen Zeitung.
Trotz aller Hürden wurde das Vetorecht im Kanton Baselland am konsequentesten durchgeführt. Das Verfahren zerfiel nicht nacheinander in ein Vetobegehren und eine Vetoabstimmung (wie in den Kantonen St. Gallen und Kanton Luzern), sondern bestand aus der rein durchgeführten Einspruchserklärung der Opponenten. Es war gleichzeitig Vetoinitiative und Vetoabstimmung.
Bis 1862 gab es bei etwa 200 Erlassen 14 Vetobewegungen, wovon nur vier von der Aktivbürgerschaft verworfen wurden. So konnte sich zum Beispiel das Veto gegen das diskriminierende Judengesetz nicht durchsetzen.

Die Einführung des obligatorischen Referendums mit der Verfassung von 1863
Eine Volksbewegung um Christoph Rolle (1806–1870) wollte 1861 das direktdemokratische System mit einer Verfassungsrevision verbessern, in dem das mühselige Vetoverfahren abgelöst und künftig alle Gesetze im Sinne eines Referendums obligatorisch der stimmberechtigten Bevölkerung zur Annahme oder Ablehnung vorgelegt werden sollte. Er wandte sich damit gegen die herrschenden Liberalen, fand aber Unterstützung bei Emil Remigius Frey. Bei der von Rolle lancierten Unterschriftensammlung war eine Mehrheit der Stimmberechtigten für eine Verfassungsrevision.
In der revidierten Verfassung von 1863 wurde das Veto durch das obligatorische Referendum ersetzt. Gleichzeitig wurden die Verfassungs- und Gesetzesinitiative, die Volkswahl der Regierung und der obersten Beamten sowie das Recht des Volkes zur Abberufung des Landrats eingeführt. Damit besass die Bevölkerung des Kantons Baselland eine Kontrollmöglichkeit gegenüber der Exekutive (Regierung) und Legislative (Landrat) wie in keinem anderen Kanton in der Schweiz.
Die heutige Verfassung stammt vom 17. Mai 1984.
Literatur
- Peter Ochs: Geschichte der Stadt und Landschaft Basel. Band 8, Schweighauser’sche Buchhandlung, Basel 1822
- Uebersichtliche Darstellung des gegen den Stand Basel beobachteten.Verfahrens der Eidgenossenschaft ausgezogen aus den offiziellen Tagsatzungsabschieden und den Rathsprotokollen des Kantons Basel. Schweighauser’sche Buchhandlung, Basel 1833
- Johann Jacob Hottinger: Vorlesungen über die Geschichte des Untergangs der schweizerischen Eidgenossenschaft der dreizehn Orte und Umbildung derselben in eine helvetische Republik. Verlag S. Höhr und Meyer und Zeller, Zürich 1844
- Fritz Klaus: Basellandschaft in historischen Dokumenten. 1. Teil: Die Gründungszeit 1798–1848, Quellen und Forschungen zur Geschichte und Landeskunde des Kantons Baselland. Band 20, Liestal 1982
- Baselland vor 150 Jahren, Wende und Aufbruch: neun Beiträge mit Chronologie der Basler Wirren und der eidgenössischen Regenerationszeit 1830-1833. Jubiläumsverlag, 1983
- Die Basler Landschaft in der Helvetik (1798-1803): über die materiellen Ursachen von Revolution und Konterrevolution. Verlag des Kantons Basel-Landschaft, 1991
- Rolf Graber (Hrsg.): Demokratisierungsprozesse in der Schweiz im späten 18. und 19. Jahrhundert. Forschungskolloquium im Rahmen des Forschungsprojekts «Die demokratische Bewegung in der Schweiz von 1770 bis 1870. Eine kommentierte Quellenauswahl. Unterstützt durch den FWF / Austrian Science Fund. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2008. 93 S. Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle «Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770-1850». Bd. 40 Herausgegeben von Helmut Reinalter, ISBN 978-3-631-56525-4
- René Roca, Andreas Auer (Hrsg.): Wege zur direkten Demokratie in den schweizerischen Kantonen. Schriften zur Demokratieforschung, Band 3. Zentrum für Demokratie Aarau und Verlag Schulthess AG, Zürich - Basel - Genf, 2011. ISBN 978-3-7255-6463-7.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Peter Ochs: Geschichte der Stadt und Landschaft Basel. Band 8. Schweighauser’sche Buchhandlung, Basel 1822, Seite 292
- ↑ Fritz Klaus: Basellandschaft in historischen Dokumenten. 1. Teil: Die Gründungszeit 1798–1848, Quellen und Forschungen zur Geschichte und Landeskunde des Kantons Baselland. Band 20, Liestal 1982, Seite 40
- ↑ Johann Jacob Hottinger: Vorlesungen über die Geschichte des Untergangs der schweizerischen Eidgenossenschaft der dreizehn Orte und Umbildung derselben in eine helvetische Republik, Verlag S. Höhr und Meyer und Zeller, Zürich 1844, Seite 330