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Migrationsforschung

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Unter räumlicher Mobilität verstehen Geschichts- und Sozialwissenschaftler jede Positionsveränderung eines Individuums zwischen verschiedenen Einheiten eines räumlichen Systems. Räumliche Mobilität ist unabhängig von der Reichweite der Bewegung (große oder geringe Distanzen) und ihrer Frequenz (einmalig oder regelmäßig, selten oder häufig) definiert.

Von einem Wanderungsvorgang oder einer Migration (von lat.: migratio = Wanderung) spricht man erst dann, wenn die Wohnsitzverlegung eines Individuums über eine

  • administrative Grenze hinweg und
  • dauerhaft, jedoch zumindest für einen längeren Zeitraum

angelegt ist.

Einteilung

Bewegen sich Wanderungen innerhalb eines Gebiets, handelt es sich um eine Binnenwanderung. Werden Grenzen überschritten, so handelt es sich aus Sicht des Herkunftslandes um Auswanderung (Emigration) und aus Sicht des Aufnahmelandes um Immigration (Einwanderung). Transitstaaten dienen dem temporären Aufenthalt beim Übergang vom Herkunftsland ins Zielland. So strömen zum Beispiel Marrokaner über Spanien in Drittstaaten.

Das deutsche Ausländerrecht definiert Migranten als "Oberbegriff für Menschen nicht deutscher Herkunft" und schließt neben Ausländern auch "eingebürgerte deutsche Staatsangehörige und Aussiedler" ein.

Unfreiwillige Migranten sind Flüchtlinge oder Zwangsverschleppte. Meist sind es gegen ihren Willen Zwangsmobilisierte oder Glaubensvertriebene.

Arbeitsmigranten wiederum sind Menschen, welche ihre Heimat zum Zweck der Beschäftigung in ein fremdes Land auswandern. Die Wanderungsbewegung erfolgt in der Regel von industriell schlecht entwickelten Ländern in Industrienationen. Deshalb werden sie auch umgangssprachlich abschätzig als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet. Wirtschaftsmigranten erfüllen nicht die Kriterien für den Flüchtlingsstatus. Sie genießen daher keinen Anspruch auf internationalen Schutz als Flüchtlinge im Sinne der Asylgesetzes. Laut UNHCR unterscheidet Flüchtlinge von Migranten, daß "Wirtschaftsmigranten den Schutz ihrer Heimatländer genießen, Flüchtlinge hingegen nicht."

Einwanderungsländer gliedern sich in formelle und informelle Staaten. Die formellen Länder verstehen Einwanderung als Selbstverständnis, was sich in der Gesetzgebung und den Institutionen niederschlägt. Informelle Staaten verstehen sich als Aufnahmeländer für beschränkte Einwanderungsgruppen. Schweden entwickelte sich vom formellen zum informellen Staat. Die Niederlande ist informell mit multikultureller Prägung und auf die Schweiz trifft keines der Kriterien zu. Das klassische Einwanderungsland in Europa war historisch gesehen Frankreich. Weltweit genießen Kanada und Australien diesen Ruf. Europa zählt inzwischen auch als Einwanderungskontinent.

Globalisierung

Die moderne Weltordnung zeichnet sich aus durch die immer schneller vorangetriebene Globalisierung der Wirtschaft. Die menschlichen Gesellschaften sieht Beck im Zeichen der Individualisierung und der Pluralisierung. Vorangetrieben wird die Individualisierung durch die wachsende Mobilität der einzelnen Menschen. Dieser größere geographische Radius ermöglicht es den Individuen, die sozialen und kulturellen Schranken des Herkunftsmilieus zu verlassen. (Beck,1986:125)

Kennziffern der Migrationstheorie

Die Unterschiede zwischen der gleichzeitig stattfindenen Auswanderung und Einwanderung schlagen sich im Wanderungssaldo nieder. Bei positivem Wert überwiegt die Einwanderung die Auswanderung. Zum Beispiel zählte 2003 die Zuwanderungsstatistik insgesamt 601.759 Zuzüge aus dem Ausland nach Deutschland und 499.063 Fortzüge von Ausländern. Das Wanderungssaldo betrug also + 102.696. Polnische Staatsangehörige stellten die größte Zuwanderungsgruppe (88.241, Wanderungssaldo: + 14.575), gefolgt von türkischen Einwanderen (49.774; + 12.911) und russischen Migranten (31.776; + 17.897).

Zur Messung und zum Vergleich von Wanderungsvorgängen werden folgende Einheiten/Kennziffern verwendet:

  • Wanderungsvolumen/Bruttowanderung = Summe aller Wanderungsvorgänge: Zuzüge + Fortzüge
  • Wanderungsbilanz/ -saldo = Differenz aus Zu- und Fortzügen
  • Wanderungsrate = Wanderungsvolumen bezogen auf 1.000 Einwohner
  • Mobilitätsziffer(n) = Wanderungsraten bestimmter Bevölkerungsgruppen (z.B. jüngere / ältere Bevölkerungsschichten)

Die auf diese Weise beschriebenen Wanderungsvorgänge lassen sich weiter differenzieren nach Reichweite, Motiven und strukturellen Merkmalen der Wandernden.

Migrationsfaktoren

Mit dem Einsetzen der großen Überseewanderungen aus Europa ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts nahm auch das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung und Erklärung solcher Wanderungsprozesse stark zu. Zunächst versuchte man, Wanderungsvorgänge summarisch zu erklären, später kamen Erklärungsansätze hinzu, die von der subjektiven Entscheidung einzelner Individuen ausgehend, Wanderung zu erklären versuchten (verhaltentheoretische Ansätze).

Ernest Georg Ravenstein begründete die Migrationstheorie im Jahr 1985 durch Betrachtung der Binnenwanderungen im Vereinigten Königreich. Er bewies anhand seiner Statistiken erstmals, da0 Wanderungen Regeln folgen. Zwar gibt es inzwischen verschiedene formale Modelle zur Beschreibung von Wanderungen, doch liefert keines eine umfassende und befriedigende theoretisches Beschreibung vom Phänomen der Wanderungen. Alle Modelle stützen sich auf der Vorstellung, daß der Migrant rational eine Migrationsentscheidung fällt.

Klassische Wanderungsgründe sind Immigration, Arbeitsmigration und Fluchtmigration. Die moderne Forschung unterteilt inzwischen differenzierter. Wanderungen können national und international erfolgen. Die häufigsten Wanderungsgründe sind die Arbeitssuche, Vertreibung oder Schutz vor Verfolgung mit der Absicht, die eigene Lebenssituation zu verbessern. Die Wanderungsentscheidung beruht auf wirtschaftlichen, politischen oder gesellschaftlichen Zusammenhängen. (Treibel,1999:20 ff)

Wie unterschiedlich die Bewertung der einzelnen Faktoren sein kann, zeigen die zu Tausenden in den USA beschäftigten [[philippinen|philippinischen] Pflegekräfte. Die meisten davon sind ausgebildete Ärzte und Ärztinnen, welche es vorziehen, unterqualifiziert zu arbeiten, weil sie im Ursprungsland keine Perspektive sehen.

Deshalb spielt die jeweilige Differenzierung der makro- und mikrotheoretischen Erklärungsmuster eine bedeutende Rolle.

Makrotheoretische Gravitationsmodelle

Die makrotheoretischen Modelle versuchen, Wanderungen hinsichtlich der Aggregatebene zu verdeutlichen und Kennziffern zu bestimmen zur Erklärung des Migrationsverhaltens ganzer Populationen. Die Migrationen werden zum Beispiel auf ökonomische oder geographische Faktoren reduziert. Zwar läßt sich mit diesen verallgemeinernden und unvollständigen Ansätzen gut arbeiten, doch beherbergen sie bei näherem Hinsehen ein gerüttelt Maß an Ungereimtheiten und unerklärten Vorkommnissen.

Schon in den vierziger Jahren entstanden Gravitationsmodelle, welche sich auf das Gravitationsgesetz aus der Physik berufen. Wichtigste Erkenntnis war, daß die Entfernung zwischen Herkunftsort und Migrationsziel eine wesentliche Rolle spielten bezüglich des Migrationsvolumens. Je weiter die Orte voneinander entfernt sind, desto weniger Angehörige einer Population machen sich auf den Weg.

In den sechziger Jahren wiederum erfolgte der Rückgriff auf die klassische Wirtschaftslehre. Das Lohngefälle zweier Regionen erklärte das Ausmaß einer Wanderung, bei der Arbeitsmigranten vom schlechtbezahlten Ort der Herkunft zum Zielort mit höherem Lohnniveau abwanderten. Die Theorie besagte, daß sich das Lohnniveau beider Regionen angleichen würde. Schließlich stiegen im Zuwanderungsgebiet die Zahl der Arbeitskräfte und fiel damit das Lohnniveau und gleichzeitig erhöhte sich im Herkunftsgebiet der Lohn wegen des Mangels an Arbeitskräften.

I.S.Lowry erweiterte dieses Modell wiederum um wirtschaftliche Kennziffern. So gilt die jeweilige Arbeitslosigkeit in den verschiedenen Regionen als Indikator für die Bereitschaft der Migranten, die Wanderungsentscheidung zu treffen, um das jeweilige Einkommen zu steigern. (Lowry,1966)

Zwar gelang inzwischen der Beweis des Zusammenhangs zwischen attraktiven Löhnen und hoher Zuwanderungs doch nicht der Umkehrbeweis zwischen niedrigem Lohnniveau und hoher Abwanderungsrate. Dies erklärt sich laut Globalisierungsforscherin Sassen durch die Unkalkulierbarkeit komplexer und variabler sozialer Faktoren. So besteht für viele erst die Chance zur Wanderung, wenn sie von der größten Not befreit haben. Michael Vogler vom Institut zur Zukunft der Arbeit in Bonn wiederum hat die Wanderungsströme für 86 Länder und 15 Jahre untersucht. Er subsummiert, daß die Migration erst einsetzt, wenn die Region einen gewissen Entwicklungsstand erreicht hat. Wenn ein bestimmer Wohlstand erreicht ist, flachen die Zahlen wieder ab. Zuerst emigrieren die Menschen von ländlichen Gebieten in die Städte und später ins Ausland.


Steffen Kroehnert

Historischer Ansatz

Einer der ersten Erklärungsansätze von E.G. Ravenstein ging vom empirischen Befund der Wanderung selbst aus. Er veröffentlichte in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre seine Wanderungsgesetze, die er aus der Auswertung von Daten von Volkszählungen gewonnen hatte. Diese Gesetzmäßigkeiten weckten das Interesse weiterer Forscher, die die Ravenstein'schen Gesetze teilweise bestätigten und ergänzten. Sinngemäß lauten diese Theoreme:

  1. Die Mehrzahl der Wanderungsvorgänge erfolgt über kurze Distanzen,
  2. Wanderungen über größere Distanzen verlaufen häufig in Etappen (Kettenwanderung),
  3. Bei Wanderungen über größere Distanzen werden große Industrie- und Hafenstädte als Zielorte bevorzugt,
  4. Wanderungsströme bestehen stets aus zwei gegenläufigen Komponenten,
  5. Die Landbevölkerung ist in Wanderungsströmen überrepräsentiert,
  6. Frauen wandern eher über kürzere, Männer eher über längere Distanzen,
  7. Die Mehrzahl der Migranten sind Alleinstehende,
  8. Die Bevölkerungszunahme in Städten ist mehr durch Wanderungsgewinne, als durch natürliche Bevölkerungsbewegungen bedingt,
  9. Das Wanderungsvolumen steigt synchron mit der industriellen und verkehrstechnischen Entwicklung,
  10. Die meisten Wanderungsvorgänge werden durch ökonomische Anlässe ausgelöst.

Ein weiterer grundlegender Ansatz zur Erklärung von Wanderungen ist Zelinskis Modell des Mobilitätsübergangs (1971), das das Mobilitätsverhalten einer Gesellschaft mit ihrem sozioökonomischen Entwicklungsstand in Verbindung bringt. In Analogie zum Modell des demographischen Übergangs werden fünf Entwicklungsphasen unterschieden.

Distanz- und Gravitationsmodelle

Bei der empirischen Betrachtung von Wanderungsprozessen zwischen einem Quellort und verschiedenen, unterschiedlich weit entfernten Zielorten über einen längeren Zeitraum, wird ein starker Zusammenhang zwischen Wanderungsvolumen und Distanz deutlich, wie bereits von Ravenstein erkannt. Bei der Suche nach einem geeigneten Modell für die Erklärung dieses Zusammenhangs, erkannten Geografen (Kant, 1946; Stewart, 1941; Zipf 1949) Gemeinsamkeiten mit dem physikalischen Gravitationsgesetz von Newton. Der Zusammenhang zwischen dem mit der Distanz zwischen Quell- und Zielort abnehmenden Wanderungsvolumen lässt sich gut mit diesem Distanzmodell beschreiben (dem jedoch noch die "Masse" als Eigenschaften von Quell- und Zielort fehlt, siehe unten):

Hierbei ist F die Wanderungsrate zwischen den Orten i und j, d die Distanz zwischen i und j, k eine empirisch ermittelte Konstante (zumeist = 1) und b ein die Distanz gewichtender Exponent (zumeist = 2). Wenn k=1 und b=2, dann nimmt ein gegebenes Wanderungsvolumen mit der Verdoppelung der Distanz auf ein Viertel des Ausgangsvolumens ab (quadratische Abnahme). Während dieses Modell bei geeigneter Anpassung von k und b gut beobachtete Wanderungsströme modellieren kann, sagt es nichts über die Motive und Ursachen von Wanderungsprozessen aus.

Beim Vergleich zwischen empirisch und mathematisch ermittelten Werten fällt auf, dass das obige Modell die Wanderungsvolumina für kurze Distanzen überschätzt. G. Zipf und J. Stewart entwickelten daher die im Modell enthaltene Ausgangsüberlegung weiter und erweiterten es zu einer für Zwecke der Demografie geeigneten Abwandlung des Newton'schen Gravitationsgesetzes.

wobei die "Masse" des Ortes i und die "Masse" des Ortes j ist.

Zumeist wird "Masse" mit den Bevölkerungszahlen gleichgesetzt, die sich leicht der amtlichen Statistik entnehmen lassen. Damit wird das Wanderungsvolumen also nicht nur ansteigen, wenn die Distanz verringert wird, sondern auch wenn die Masse von zwei betrachteten Regionen größer ist als die Masse anderer Regionen.(müsste es nicht heißen: ..., wenn sich die Differenz der Massen zweier (also von Start- und Zielregion) Regionen erhöht?) Sicherlich wird allein die Bevölkerungszahl keine befriedigende Modellierung ergeben, denn unterschiedliche Bevölkerungszusammensetzungen in den betrachteten Regionen wirken ebenfalls auf die Wanderungsströme ein. Eine bevölkerungsreiche Region, in der eine hohe Arbeitslosigkeit herrscht, hat sicherlich eine geringere Anziehungskraft und damit Masse, als eine gleichgroße Region mit einer sehr niedrigen Arbeitslosigkeit. Ein Vorschlag (Haggett, 1991) lautet daher, die Masse als das Produkt aus Bevölkerungszahl und Durchschnittseinkommen zu bestimmen.


Push And Pull

Die Sogtheorie erklärt am Push-and-Pull-Modell das Zustandekommen eines Migrationsdruckes aus dem Gefälle zwischen zwei Ländern. Im Ursprungsland wirken Druckfaktoren wie Arbeitslosigkeit, niedriges Lohnniveau, Armut und das Aufnahmeland bietet Sogfaktoren wie Arbeitsplätze, höhere Gehälterund soziale Sicherheit. Auch beeinflussen die Berichterstattung über das Zielland sowie Erfahrungsaustausch mit bereits Ausgewanderten oder ihren daheim gebliebenen Angehörigen die Wanderungsentscheidung. Letztere Anreize bewirken laut Treibel eine Gruppenmigration. (Treibel,1999:39f)

Bei Wanderarbeitern steht die "materielle Deprivation" im Vordergrund. (Thomae,1974) Die Migrationsentscheidung ist eng verknüpft mit Konflikten des Auswanderungswilligen und seiner näheren Umgebung, mit der er sich auseinanderzusetzen und zu verhandeln hat. Die positive Entscheidung zur Auszuwandern stellt sich somit nach Thomae stets als Konfliktlösung dar. Oft sind daran Verpflichtungen des Emigranten gekoppelt wie die Verpflichtung zur Rückkehr "als eine Art Gleichgewichtssicherung zwischen motivationalem und kognitivem System". (Dietzel Papa Kyriakou,1993:68)

Das Paradigma des Push and Pull entspricht jedoch keinem eigenständigen theoretischen Ansatz, sondern suggestiert eher die Zusammenhänge, da trotz der plausiblen Annahme von Sogfaktoren und Druckfaktoren die Annahmen auf den Einzelnen bezogen rein hypothetischer Natur sind. (Steffen Kroehnert 2003)

Der makrotheoretische Ansatz des Push and Pull kommt im mikrotheoretischen Ansatz zum Einsatz, um die individuellen Migrationsentscheidungen zu erklären.

Sogfaktoren

Wanderungsbewegungen können vielerlei Aspekte beinhalten. Die wichtigsten Gründe für Migrationen von Mexiko in die USA waren beispielsweise :

  • Push-Faktoren
    • Prekärer Arbeitsmarkt
    • Mangelnde Grundstoffe
    • Niedrige Löhne
    • Kinder als Altersversorgung
    • Möglichkeit des Umsturzes des politischen Systems
    • Mangelhaftes Bildungssystem
    • Mangelhaftes Gesundheitssystem
    • Starke soziale Gefälle
  • Pull-Faktoren
    • Bessere humanitäre Versorgung
    • Sicherer Arbeitsplatz
    • Hohe Löhne
    • Besseres Bildungssystem
    • Besseres Gesundheitssystem
    • Chancen für sozialen Aufstieg
    • Sicheres politisches System
    • Finanzielle Unterstützung
    • Bessere Perspektiven für Kinder
    • Nähe zur Heimat


Mikrotheoretische Regressionsmodelle

Im Vergleich zum Gravitationsmodell verlegt sich der mikrotheoretische Ansatz weniger auf das Kollektiv als auf das Individuum um die jeweilige Migrationsentscheidung zu untersuchen.

Gravitationsmodelle können Wanderungen zwar gut beschreiben aber nicht vollständig erklären. Als einzige Eigenschaften von Quell- und Zielgebiet gehen in diese Modelle Bevölkerung und Distanz ein. Neben der Masse von interagierenden Regionen gibt es aber noch eine Vielzahl weiterer Merkmale, die die vom einzelnen Individuum als positiv oder negativ empfundenen Eigenschaften (push- und pull-factors) bestimmen und Wanderungsvorgänge ebenso beeinflussen, wie die zwischen den Regionen liegenden Zwischenräume, die entweder eine Wanderung hemmen (intervening obstacles) oder ablenken (intervening opportunities) können.

Mathematische Modelle für die Abbildung und Erklärung eines derartigen Komplexes von Einflussgrößen, werden mit Hilfe der statistischen Regressionsanalyse erstellt. Multiple Regressionsanalysen versuchen, eine abhängige Variable - hier das Wanderungsvolumen - mit einer Anzahl von unabhängigen Variablen (z.B. Durchschnittseinkommen, Zahl der Arbeitsplätze in verschiedenen Branchen, Wohnungsangebot, Distanz etc.) zu erklären. Das Ziel bildet eine Regressionsgleichung, als ein mathematisches Modell, welches die Ausprägungen der Zielvariablen aus einer mathematischen Funktionsbeziehung der erklärenden Variablen herleitet. Auch sie repräsentiert eine Wenn-Dann-Beziehung wie das Distanz- und das Gravitationsmodell, wird allerdings in der Regel wesentlich komplexer ausfallen.

Auch wenn dieser Ansatz durch die größere Zahl der eingehenden Faktoren wirklichkeitsnäher erscheint, darf nicht übersehen werden, dass eine Vielzahl von Faktoren, die eine Wanderung ebenfalls beeinflussen, sich nicht unmittelbar messen lassen (beispielsweise das Image einer Region).

individualisierte Sogtheorie

1972 individualisierte Lee das makrotheoretische Paradigma des Push and Pull und erkennt in Migrationen vier ursächliche und gleichzeitig wirksame Schichten :

  • Merkmale bezüglich der Herkunftsregion
  • Faktoren bezüglich des Zielgebietes
  • Blockadefaktoren
  • individuelle Parameter

Die gebietsbezogenen Merkmale beinhalten nicht nur Lohnhöhe und Arbeitslosenrate, sondern sind verfeinert um strukturelle Faktoren wie Klima, Wohnqualität, öffentliche Sicherheit, Bildungszugang und die Qualität der medizinischen Versorgung. Als Blockadefaktor gilt nicht mehr die Distanz als entscheidend, sondern intervenierende Hindernisse wie der Bau der Berliner Mauer oder eine restriktive Einwanderungsgesetzgebung.

Neben den objektiven und rein strukturellen Merkmalen finden sich auch individuelle Parameter. Zu den individuellen Merkmalen zählen etwa Geschlecht, Alter, Bildungsstand, Beruf oder ethnische Herkunft. Darunter fällt auch die Frage der persönlichen Wahrnehmung der anderen Faktoren. Zum Beispiel meiden Allenstehende oft ländliche Zonen wegen langer Anfahrtswege und geringem Freizeitangebot, während Familien diese Umgebung schätzen, soweit die Umwelt intakt ist und die Schulen zufriedenstellen.

Nach E. S. Lee fällt ein Migrant die Wanderungsentscheidung erst nach einem Vergleich all dieser Merkmale. Demnach läßt sich dieses Modell nicht in eine allgemeingültige Formel überführen. (Lee, E.S,1972:115-129)

Lowry verknüpft 1966 das ältere Gravitationsmodell mit wesentlichen ökonomischen Faktoren, um das Migrationsverhalten zu berechnen.


mit

als Anzahl der Migranten von i nach j
jeweilige Arbeitslosenquoten (unemplyoment)
das jeweilige Lohnniveau (wages)
Personen im nichtlandwirtschaftlichen Bereich
Entfernung zwischen i und j
als Fehlerterm

</math>


Somit wächst die Zahl der Wanderungswilligen von i nach j, je mehr Arbeitslose, je höher die Beschäftigung und je unattraktiver die Löhne in i ausfallen und je näher sich die beiden Orte sind.

Steffen Kroehnert

Die bisher vorgestellten Modelle dienen zur Beschreibung und Erklärung von summarischen Wanderungseffekten. Auf der Mikroebene der Entscheidungen einzelner Individuen lassen sich mathematische Kausalbeziehungen jedoch nicht formulieren. Wanderungsentscheidungen lassen sich hier - wie alle individuellen Entscheidungen - lediglich auf wahrscheinlichkeitstheoretischer Basis (Probabilistik) vorhersagen. Probabilistische Modelle berücksichtigen bei Standortentscheidungen den unterschiedlichen Informationsgrad der Wandernden.

Den Prozess der Informationsgewinnung und -bewertung, der (möglicherweise) zu einer Standortverlagerung führt, versuchen entsprechende Modelle abzubilden (Roseman u.a., siehe auch Migration (Soziologie)). Die Informationen, die in eine Entscheidung für oder gegen eine Wanderung einfließen, entstammen zumeist dem typischen, wöchentlichen Aktionsradius (Aktionsraum, activity space) einer Person oder eines Haushaltes. Eine Unzufriedenheit mit der Ausgangssituation kann dabei auf unterschiedlichen Faktoren beruhen, die sich nach den Daseinsgrundfunktionen (Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Bildung, Erholung) gliedern lassen. Aus jedem Faktorenbereich können einzelne Umweltreize als Stressoren die Bewertung des gegenwärtigen Wohnstandortes beeinflussen.

Die Modelle bilden - meist in Form von Flussdiagrammen - die Entscheidungsalternativen des Individuums/Haushaltes auf, die jeweils zufällig, jedenfalls nichtdeterministisch getroffen werden. Grundsätzlich lassen sich vier Handlungsalternativen beim Auftreten von Stressoren unterscheiden:

  1. Durch Erhöhung der Toleranzgrenze passt sich das Individuum/der Haushalt an die Gegebenheiten an.
  2. Durch aktive Beeinflussung wird versucht, die Stressoren abzubauen (z.B. Engagement für eine höhere Umweltqualität).
  3. Es setzt eine aktive Suche nach einem neuen Wohnstandort ein.
  4. Es wird eine prinzipielle Entscheidung für einen Standortwechsel gefällt, der jedoch erst bei einer günstigen Gelegenheit tatsächlich vollzogen wird und möglicherweise durch verschiedene externe Faktoren zusätzlich beeinflusst wird.

Humankapitalmodell

1962 entwickelte L.A. Sjaastad das sogenannte Humankapitalmodell. Eine Wanderung ist gleichbedeutend mit einer persönlichen Investition in Humankapital. Die Migration ist eine Bilanz mit Ausgaben und Einnahmen, welche jeweils geldwert sein können oder nichtmonetär. (L.A. Sjaastad,1962:80-93)

  • Monetäre Ausgaben fallen an für einen Umzug oder alternativ lange Anfahrtswege
  • Nichtmonetäre Ausgaben stehen für den Verzicht auf Familie und Freundeskreis
  • Monetäre Einnahmen fallen etwa unter attraktivere Löhne
  • Nichtmonetäre Erträge stellen wiederum ein besseres Klima dar

Das Modell unterstellt keine sofortige Realisierung der Erträge, sondern berücksichtigt auch eine Wanderungsentscheidung wegen einer beruflichen Perspektive durch die Hoffnung auf bessere Aufstiegschancen, wie sie viele Behörden oder Konzerne anbieten.

Formal finden die nichtmonetären Aspekte zwar Berücksichtigung, erfahren jedoch eine weit geringere Gewichtung als die monetären Parameter.


mit

Einkünfte in der Zielregion (destination) bzw in der Stammregion (origin)
T = Kosten der Migration
N = Jahre, bis Vorteile zu erwarten sind
r = Rate zur Anzinsung des erwarteten Einkommens

Die Einkünfte stehen hier für die subjektiven Einschätzungen des zu erwartenden Einkommens.


Der Formel entsprechend wird kommt es eher zur Wanderungsentscheidung

  • je höher das Lohnniveau in der anderen Region
  • je mehr Zeit bis zum Ende des Erwerbslebens ansteht
  • je billiger die Wanderung ausfällt

Somit erfaßt das Modell auch verschieden motiviertes Migrationsverhalten unterschiedlicher sozialer Gruppierungen, da die verschiedenen Parameter sich auch individuelle Faktoren wie Beruf, Alter und Geschlecht beziehen können. Steffen Kroehnert

Werterwartungstheorie

Der Ansatz des Subjective Expected Utility (SEU, subjektiv zu erwartender Nutzen, Werterwartungstheorie) stellt den Versuch dar, die verschiedenen theoretischen Migrationsmodelle zu vereinen. (De Jong/ Fawcett 1981). Das Modell stützt sich auf die Werterwartungstheorie und verbindet die subjektiven Merkmale mit klassischen sozioökonomischen Beweggründen. Klassische makrotheoretische Beweggründe wie Klima und Lohnhöhe nehmen Einfluß auf die Formel, doch bestimmen persönliche Wahrnehmung und Abwägung das Zustandekommen der Migrationsentscheidung.

Die Kosten-Nutzen-Analyse geht stillschweigend davon aus, daß die Entscheidungsträger bevorzugt die Möglichkeiten auswählen, welche ihnen den größten Vorteil bringen, um den persönlichen erwarteten Gesamtnutzen (SEU) zu maximieren. Eventuelle Ausgaben gehen wiederum als negativer Vorteil in die Berechnung ein (Evaluation). Auch die persönliche Erwartung, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Handlung gelingt, findet Eingang in die Gesamtbewertung.


"Der Ausdruck besagt, dass der subjektiv erwartete Gesamtnutzen (SEU) einer bestimmten Handlung (i) sich zusammensetzt aus der Summe der subjektiven Nutzen (U), die diese Handlung für die Erreichung verschiedener individueller Ziele (j) hat, multipliziert mit den jeweils subjektiv erwarteten Wahrscheinlichkeiten (p), dass diese Nutzen auch tatsächlich realisiert werden. " (quelle


Konfrontiert mit variablen Möglichkeiten, erfolgt somit die Auswahl der Aktion, welche den höchsten Wert SEU(i) vorweist. Liegt der SEU über dem der Sesshaftigkeit, dann erfolgt die Migrationsentscheidung.

Den Kern des Modells bildet eine Nutzenmaximierung nach individualistischen und rationalen Erwägungen. Es berücksichtigt also nur Einzelpersonen. Geht es um die komplexe Wanderungsentscheidung mehrerer Beteiligter wie ganzer Haushalte, dann sprengt die gemeinsame Entscheidung den rein egoistisch aufgebauten Erklärungsansatz. So können bei Haushaltsentscheidungen die Interessen und Nutzenvorteile der jeweils Beteiligten sich untereinander widersprechen. So gilt es als erwiesen, daß die meisten Haushaltsentscheidungen zuungunsten der Karriere des weiblichen Partners stattfinden.

Steffen Kroehnert

Migrationssoziologie

Migration ist in der Soziologie eine besondere Form der horizontalen sozialen Mobilität.

Ethnizität

Das griechische Wort éthnos beschreibt die Abgrenzung seiner selbst eigentümlicher Traditionen durch Selbst- und Fremdzuweisung. Ethnische Barrieren sind also Ergebnisse eines individuellen selektierenden Weltbildes. In der Regel definieren sich ethnische Gruppierungen entweder aus der gemeinsamen Vergangenheit oder durch eine gemeinsame Zukunftsperspektive. Die Gemeinsamkeit zeigt sich in Tradition, Sprache, Religion, Kleidung oder Lebensmitteln. Den Begriff Ethnizität entwickelten amerikanische Forscher in den sechziger Jahren, als sie versuchten, das Scheitern der Idee des Melting-Pots zu ergründen und Existenz wie Fortbestand ethnischer Identitäten innerhalb eines modernen Nationalstaats zu erklären. Die klassische Idee des Melting Pot manifestierte die Verschmelzung vieler Kulturen in eine gleichberechtigte Gesellschaft (Multikulturalismus) und beruhte damit auf der Vorstellung, ethnische Grenzen zu überwinden und freiwillig einer gemeinsamen nationalen Identität unterzuordnen. Die Forschungen zeigten, daß die mit diesem Sozialisationsprozess einhergehenden ethnischen Interaktionen auf den individuellen Überzeugungen der einzelnen Mitglieder beruhen (Schweizer, 1993:593 f.) . Dabei spielt es keine Rolle, ob die eigene Wahrnehmung nun zutrifft oder nicht. Ethnizität nährt sich allein aus dem Wissen um das Gegenüber und der Zuschreibung bestimmter Eigenschaften in Form eines Feinbildes. (Schweizer,1993:600f).

Minderheiten

Ethnische Minderheiten (ethnic minorities) bilden in einer ethnisch geschichteten Gesellschaft jene Bevölkerungsgruppe, welche von der Mehrheitsgesellschaft benachteiligt, unterdrückt oder stigmatisiert wird. Als Mittel zum Zweck dienen Vorwürfe betreffend von der gefühlten Normalität abweichendes Verhalten (Delinquenz), Diskriminierung oder Vorurteile. Unterschieden wird zwischen regionalen und nationalen Minderheiten, Immigrantenminderheiten, neuen nationalen Minderheiten und kolonisierten Minderheiten. Die Literatur verwendet in der Regel die Begriffe der Minderheit und der ethnischen Minderheit synonym. Die deutschen sozialwissenschaftlichen Studien "die sich zuerst mit den Gastarbeitern und ihren Familien beschäftigen, folgten bis weit in die 70er Jahre dem herrschenden gesellschaftlichen Bewußtsein" (Heckmann 1993:1). Die Beschäftigung mit Ausländern versteifte sich auf einen soziologischen Sonderfall und ignorierte die Ergebnisse der internationalen Wanderungsforschung. Erst im Lauf der Zeit fand die ethnische Minoritätenforschung Zugang in die deutsche Wanderungssoziologie. ( Hoffmann und Nowotny 1973, Harbach 1976, Esser und Friedrichs 1980, 1990, Heckmann 1981, 1992)

Identität

Identität ist die Selbstwahrnehmung des Menschen einer bestimmten Gesellschaft oder Kultur. Die Beurteilung durch Dritte ist das sogenannte Image. Fremdbild und Selbstbild überschneiden sich in der Regel kaum.

Das individuelle Selbstbewußtsein gründet auch in der sozialen und kulturellen Identität (Elwert,1982). Meads sozialpsychologische Identitätstheorie beruft sich zusätzlich auf einen symbolischen Interaktionismus, welcher besagt, daß Identität die Vorstellungen eines Individdums sind von dem (Fremd-)Bild, welches andere Individuen sich von ihm machen (Heckmann, 1993:196). Die Theorie zur Identität unterscheidet wiederum drei Schichten (Goffman 1968):

  • Die soziale Identität als das allgemeine Verhalten.
  • Die personelle Identität bezeichnet die Wahrnehmung seiner selbst und anderer, erworben aus der jeweiligen Biographie.
  • Die Ich-Identität als Ergebnis sozialer Erlebnisse, welche sich in der Bewertung der eigenen Lage und der jeweiligen Eigenart ausdrückt.

Die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe hilft der Ich-Identität in einer Minorität, Erwartungshaltungen auszubilden, Informationen zu selektieren und die Erfahrungen in Handlungen umzusetzen. (Heckmann 1993:198 f)

Assimilation und Akkulturation

Die Akkulturation beschreibt den kulturellen Wandel von Personen und Gruppen im Zuge der schrittweisen Assimilation. Diese wird in mehreren Ausprägungen beschrieben.

nach Eisenstadt

Eisenstadt (1954) untersuchte Assimilation im Zusammenhang mit der jüdischen Immigration nach Israel und entwickelte ein dreistufiges Konzept. Die einzelnen Phasen unterteilt er in die Migrationsentscheidung, die Migration an sich und die Absorption durch die Gastgesellschaft. Absorption steht für die absolute Angleichung an die Mehrheitsgesellschaft. Die Bereitschaft, sich von der Gesellschaft verschlucken zu lassen, gründet in der Wanderungsmotivation. Die Absorption gelingt nur, wenn sich der Migrant im Zuge einer Resozialisation von seinen alten Werten abwendet und sich ganz an den Werten des Gastgesellschaft orientiert und den damit verbundenen Rollenerwartungen entspricht.

Die Absorption ist jedoch eher die Ausnahme als die Regel, da sich ethnische Minderheiten nicht in sich zerfallen. Die jeweilige Kultur bleibt also plural strukturiert und ethnisch geschichtet. Eisenstadts Absorption entspricht im Wesen der Assimilation, welche auch die radikale Transformation des Wertgefüges des Individuums erfordert.

nach Gordon

Gordon gliederte 1964 die Assimilation in sieben Stufen. Als ersten Unterprozess sieht Gordon die Akkulturation an, die kulturelle Assimilierung. Die einzelnen Phasen müssen dabei nicht zwingend vollständig durchlaufen werden und bauen auch nicht zwingend aufeinander auf, so daß Integrationsziele auch in einzelnen Bereichen erreichbar bleiben. Das Hauptaugenmerk richtet Gordon auf das Durchlaufen der "Strukturellen Assimiliation". Demnach sei die Integration maßgeblich davon abhängig von der Befähigung der Migranten, sich in die Institution en der Mehrheitsgesellschaft eingliedern können. (Esser,1980:70)

nach Esser

Esser wiederum unterscheidet in einem dreischichtigen Modell Das Näherkommen zwischen Einwanderer und Gastgesellschaft besteht aus den Phasen der Akkulturation, in der Migrant die kulturellen Gepflogenheiten erlernt und die Assimilation als Erfahrung der Ähnlichkeiten bezüglich der eigenen Ausstattung und Orientierungen. Darauf folgt die Integration durch die Erfahrung des gleichberechtigten Status. (Esser,1980:20 f).

Nachhaltige Integration des Angehörigen einer Minderheit und seine Identifikation mit der Majoritätsbevölkerung gründet sich also auf Akzeptanz der eigenen Person und Religion durch die Mehrheitsgesellschaft voraus. Erwartet die Mehrheit zu Recht von Einwanderern, die Normen einer Verfassung zu achten, so muß der Minderheit ebenfalls gestattet werden, sich sich auf diese zu berufen.

Esser sieht also nicht nur den Einwanderer in der Bringschuld, sondern bringt auch die jeweiligen Parameter der Gastgesellschaft ins Spiel. Je positiver die Einschätzungen des Imigranten ausfallen und je geringer seine inneren Widerstände und je unschärfer sich die Gesellschaft abgrenzt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit assimilitativen Engagements. Dieses Bestreben hängt auch stark von der jeweiligen Migrationsmotivation ab, welche bei einem nur temporär verbleibenden Arbeitsmigranten desmeist weniger stark ausfällt als bei einer Person, welche in der Absicht einreist, den Lebensmittelpunkt endgültig in die Aufnahmegesellschaft zu verlegen.

Dies wiederum führt möglicherweise zur Bildung von ethnischen Kolonien.

Ethnische Kolonien

Im Gegensatz zu den Modellen der Assimilation gibt es auch das Phänomen der ethnischen Kolonie. Der Einwanderer zeigt kein oder nur bedingtes Interesse daran, sich schrittweise zu assimilieren und der Gastgesellschaft anzunähern, welche dies auch nicht verlangt. Für einen zeitweiligen Arbeitsmigranten steht eine Assimilation oder gar Integration seinem Lebenskonzept, sich ein kleines Vermögen anzusparen und zurückzukehren, im Wege. Er hat die Heimat aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus verlassen und nicht die Absicht, bis zum Lebensabend im Gastland zu verweilen.

Bedeutsam wird nun die Bildung ethnischer Kolonien. Dies sind räumliche und territoriale Einheiten mit diversen, selbstorganisierten Beziehungsgeflechten unter Immigranten. (Heckmann 1993:97). Die ethnische Kolonie ist laut Heckmann ein Übergangsstadium für Einwanderer, um mit den unvermeidlichen Problemen mit der Mehrheitsgesellschaft fertig zu werden, also eine Art Rückzugsgebiet, um anfänglichen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Ethnische Kolonien zerfallen oft im Verlauf des Generationenlaufes, da sich immer mehr Individuen davon ablösen.

Siehe auch Parallelgesellschaft.

Brain Drain und Care Drain

Brain Drain bezeichnet die Emigration hochqualifizierter Arbeitskräfte aus einem Gebiet. Die betroffene Region kann also durch die Auswanderung wirtschaftlichen Schaden davontragen. Die Zielregion profitiert wiederum von einem Brain Gain, also einem Zuwachs an qualifizierten Kräften.

Care Drain steht für den Wegzug von Pflegelistenden, zum Beispiel Mütter, welche der Arbeit wegen wegziehen und ihre Kinder zurücklassen. Dieser Wegzug kann die sozialen Systeme im Herkunftsgebiet beanspruchen, da sich zum Beispiel fortgezogene Kinder sich nicht mehr um Verwandte und Freunde kümmern können. Der Care Drain zieht im Zielgebiet nicht unbedingt einen Care Gain nach sich.

Feminisierung der Armut

Weltweit betrachtet flüchten und migrieren weit mehr Frauen als Männer. Wegen der ungleichen Voraussetzungen auf dem Arbeitsmarkt und dem unterprivilegierten Zugang zu den Ressourcen entsteht eine "Feminisierung der Armut". Hat in vielen Gesellschaften schon eine einheimische Frau einen anderen Status, so sieht sich eine ausländische Frau noch mehr spezifischen Ausgrenzungen ausgesetzt. Gemeinhin gilt speziell eine Migrantin als unterdrückt, abhängig, ungebildet und hilflos. Dieses gut gemeinte Image einer "Dritte-Welt-Frau" ist jedoch letzten Endes diskriminierend, weil diese Sichtweise der Betroffenen jegliche Handlungsmöglichkeiten abspricht.

Globale Bedeutung

Wanderungen sind ein wesentliches Element für Bevölkerungsveränderungen insbesondere, weil sie wesentlich kurzfristiger wirksam werden als die natürlichen Bevölkerungsbewegungen. In den frühindustrialisierten Ländern bestimmen Wanderungsvorgänge derzeit weit überwiegend die Bevölkerungsbewegung insgesamt. Die Dimensionen sowie die sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen von großen Wanderungsbewegungen treten damit angesichts eines

  • zunehmenden Wohlstandsgefälles zwischen den hochentwickelten Industrienationen und den sogenannten Entwicklungsländern,
  • weltweit stetig zunehmender Bevölkerungszahlen sowie
  • einer Vielzahl aktueller kriegerischer Konflikte

immer mehr ins öffentliche Bewusstsein.

Erklärungsansätze für aktuelle Wanderungsbewegungen und Modelle für die Prognose zukünftiger Wanderungen haben daher mehr als nur rein wissenschaftliche Bedeutung. Sie finden immer häufiger Berücksichtigung in aktuellen politischen Handlungsfeldern (vgl. Zuwanderungsgesetz).

Problematik der Migrationsstatistiken

Untersuchung und Vergleich der Migration in Europa oder den einzelnen Mitgliedsstaaten gestalten sich in der Regel problematisch : (quelle)

  • definitorische Probleme
    • Es fehlt eine gemeinsam verbindliche Definition für einen Migranten. Für die einen Länder gilt als Einwanderer, wer ein Jahr sesshaft war, für andere die bei der Einreise angegebene Aufenthaltsdauer und wieder andere Staaten unterscheiden zwischen Zuwanderung von Ausländern und remigrierenden ehemaligen Bürgern. Frankreich wiederum erhebt überhaupt keine offizielle Immigrationsstatistik.
    • Die Zuweisung Migrant gleich Ausländer ist falsch. Aus rechtlicher Sicht ist Ausländer, wer keine deutsche Staatsbürgerschaft aufweist. Zum einen sind nicht alle in Deutschland lebenden Ausländer auch Migranten, - so wachsen viele Kinder der zweiten und dritten Generation in Deutschland auf und kennen zum Teil weder die ursprüngliche Sprache oder gar das Herkunftsland. Zum anderen sind nicht alle Migranten Ausländer, wie dies zum Beispiel bei wiedereingebürgerten Spätaussiedlern der Fall ist. Staaten mit kolonialem Hintergrund wie Frankreich oder Großbritannien bürgern Immigranten aus den ehemaligen Kolonien ein und erfassen diese nicht in der jeweiligen Ausländerstatistik.
  • Unterschiedliche Verfahren bei der Aufbereitung des Zahlenmaterials
    • Absolute Zahlen sind nur bedingt aussagekräftig im Gegensatz zu Statistiken, welche das Verhältnis von Zuwanderern zur Wohnbevölkerung berücksichtigen. Zuwanderungszahlen belegen auch mitnichten nicht den Bestand der in Deutschland lebenden ausländischen Wohnbevölkerung Auskunft gibt. Die deutsche Einwanderungsstatistik beinhaltet zusätzlich Aussiedler.
    • Die Zahl der Einwanderungen impliziert keineswegs ein Bevölkerungswachstum, soweit das Zahlenmaterial nicht den Wanderungssaldo berücksichtigt, also das Verhältnis zur Abwanderungsrate. Auch die Sterberate und die Geburtenrate sind zu überprüfen.
    • Ausländer können Bürger der EU sein oder aber aus einem Nichtmitgliedsstaat stammen.

Literatur

  • Bähr, J: (1983): Bevölkerungsgeographie. Stuttgart.
  • Bähr, J. (1988): Bevölkerungsgeographie: Entwicklung, Aufgaben und theoretischer Bezugsrahmen. in: Geographische Rundschau 40:2, S. 6-13.
  • Haggett, P. (1991): Geographie - Eine moderne Synthese. Stuttgart.
  • Beck, U.:"Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne",Frankfurt, 1986
  • Misereor,"Flüchtlinge, -Prüfstein weltweiter Solidarität",Aachen,1994
  • Treibel, A.,"Migration in modernen Gesellschaften", Weinheim, 1999
  • Lowry, I.S. , Migration and Metropolitan Growth: Two Analytical Models. San Francisco.,1966
  • Steffen Kroehnert,"Theorien der Migration",Berlin-Institut für Weltbevölkerung und globale Entwicklung,2003
  • Dietzel-Papakyriakou, M.:"Altern in der Migration",Stuttgart, 1993
  • Lee, E.S. , "Eine Theorie der Wanderung". In: Széll, G. (Hg.) "Regionale Mobilität", München, 1972
  • Sjastaad, L.A. : "The Costs and Returns of Human Migration" In: "The Journal of Political Economy" (70),1962
  • De Jong, G.F., Fawcett, J.T. : "Motivations for Migration: An Assessment and a Value-Expactancy Research Model" In: De Jong, G.F., Gardner, R.W. (Hg.): "Migration Decision Making", New York,1981
  • [http://www.bpb.de/themen/AZUBF6,,0,Migration_im_europ%E4ischen_Vergleich_%96_Zahlen_Daten_Fakten.html Migration im europäischen Vergleich"
  • Schweizer, T.,"Handbuch der Ethnologie", Berlin, 1993
  • Heckmann, F.:"Ethnische Minderheit, Volk und Nation",Stuttgart, 1993
  • Esser, H.:"Aspekte der Wanderungssoziologie", Darmstadt, 1980
  • Esser/Friedrichs:"Generation und Identität: Beiträge zur Migrationssoziologie.",Opladen,1990