Zivilisation
Als Zivilisation (von lat. civis = Bürger) wird ein geschichtlicher Zeitabschnitt oder eine menschliche Gesellschaft bezeichnet.
Definition
Der Begriff Zivilisation ist von dem im Deutschen seit dem 17. Jahrhundert belegten Adj. zivil (bürgerlich, von lat. civis) abgeleitet. Er bezeichnet die durch Fortschritt von Wissenschaft und Technik geschaffenen (verbesserten) Lebensbedingungen. Im 18. Jahrhundert benutzte man im Französischen die Idee der Zivilisation als Gegensatz zum Begriff "Barbarei". So konnten nichteuropäische Gesellschaften als unzivilisiert charakterisiert werden. In den romanischen und angelsächsischen Sprachen werden die Begriffe Kultur und Zivilisation anders als im Deutschen gebraucht. Die Geschichtswissenschaft versteht unter Kulturen grossräumige und langlebige Gebilde, die eine grosse Prägekraft entwickeln, obwohl sie häufig eine Vielzahl von Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen aufweisen.
Die heutige Definition von Zivilisation in der internationalen Politik versteht diese bildlich vorgestellt als "Kulturdach" für mehrere ähnlich gelagerte Kulturen, die geographisch nicht aneinander gebunden sein müssen. Staaten einer Zivilisation teilen eine Weltanschauung. Kultur wird in diesem Zusammenhang definiert als lokalbegrenzte, sinnstiftende Produktion von gemeinsamen Werten und Normen. Unterschieden werden folgende Zivilisationen: 1. Westen, 2. Islam, 3. Konfuzianismus, 4. japanische Zivilisation, 5. Latino-Amerikanismus, 6. orthodox-slawische Zivilisation 7. Hinduismus 8. Afrikanische Zivilisation (Afrika kann in dieser Definition nur beschränkt als Zivilisation gesehen werden, weil die einzelnen Kulturen sehr unterschiedlich gelagert sind und nur beschränkt eine gemeinsame identitätsstiftende Wirkung möglich ist)
Umgangssprache
Zivilisation, einem Volk oder einer bestimmten Menschheit zugesprochen, umreißt:
- Lebensbedingungen, die durch
- arbeitsteilige Wirtschaft,
- ein gewisses technisch-mechanisches Entwicklungsniveau,
- eine geordnete Verwaltungsstruktur
- und einen gewissen materiellen Wohlstand gekennzeichnet sind,
- und einen Verzicht auf den eigenen Stolz
- und mitunter eine wertenden Begrifflichkeit:
- positiv im Sinne von »Gesittung« und »Lebensverfeinerung« = zivilisiert im Gegensatz zur Barbarei
- negativ abgesetzt von Kultur, historisch anfangs des 20. Jahrhunderts, um "deutsche Kultur" gegen "welsche (französische) Zivilisation" auszuspielen, in jüngerer Zeit dann, wenn eine Gesellschaft nur noch auf Funktionalismus, Nützlichkeitsdenken, Komfort und übertriebene Technisierung ausgerichtet ist.
Der Beginn der Zivilisation wird oft in den frühen Hochkulturen gesehen. Durch die Sesshaftigkeit infolge der Landwirtschaft waren nun mehr Menschen als jemals zuvor an einem Ort über längere Zeit gebunden. Hieraus ergaben sich neue Regelungen für das Zusammenleben: Religion, Herrschaft, Kultur, etc., welche die Wiege der Zivilisation bilden.
Politischer Kampfbegriff
"Zivilisation" wird spätestens seit dem 19. Jahrhundert als politischer Kampfbegriff gebraucht.
Karl Marx
Karl Marx analysiert dies in seiner Schrift Der Bürgerkrieg in Frankreich. Er zitiert den Anführer der Konterrevolution gegen die Pariser Kommune Thiers: „Ich habe Ihnen vor einigen Tagen gesagt, wir näherten uns dem Ziele; heute komme ich Ihnen zu sagen – das Ziel ist erreicht. Der Sieg der Ordnung, Gerechtigkeit und Zivilisation ist endlich gewonnen.“ Und kommentiert: "Und das war er. Die Zivilisation und Gerechtigkeit der Bourgeoisordnung tritt hervor in ihrem wahren, gewitterschwangern Licht, sobald die Sklaven in dieser Ordnung sich gegen ihre Herren empören. Dann stellt sich diese Zivilisation und Gerechtigkeit dar als unverhüllte Wildheit und gesetzlose Rache. Jede neue Krisis im Klassenkampf zwischen dem Aneigner und dem Hervorbringer des Reichtums bringt diese Tatsache greller zum Vorschein. Selbst die Scheußlichkeiten der Bourgeois vom Juni 1848 verschwinden vor der unsagbaren Niedertracht von 1871. Der selbstopfernde Heldenmut, womit das Pariser Volk – Männer, Weiber und Kinder – acht Tage lang nach dem Einrücken der Versailler fortkämpften, strahlt ebensosehr zurück die Größe ihrer Sache, wie die höllischen Taten der Soldateska zurückstrahlen den eingebornen Geist jener Zivilisation, deren gemietete Vorkämpfer und Rächer sie sind. Eine ruhmvolle Zivilisation in der Tat, deren Lebensfrage darin besteht: wie die Haufen von Leichen loswerden, die sie mordete, nachdem der Kampf vorüber war!"
Kolonialismus
In Tage in Burma lässt George Orwell seine Hauptfigur, den Händler Flory, ausrufen: "Ich bin hier um Geld zu verdienen wie alle anderen. Wogegen ich mich wende, ist nur der schleimige Quatsch von der Bürde des weißen Mannes. [...] die Lüge, daß wir hier sind, um unsere armen schwarzen Brüder emporzuheben, statt sie auszurauben. [...] Das immer währende Gefühl, ein Schleicher und Lügner zu sein, quält uns und treibt uns, uns Tag und Nacht zu rechtfertigen. Der Hälfte unserer Gemeinheit gegen die Eingeborenen liegt das zugrunde."
Einschlägiges Zitat: "Zivilisation, Zivilisation, Stolz der Europäer ... Wonach du auch strebst, was du auch tust, immer bewegst du dich in der Lüge. Bei deinem Anblick fließen die Tränen, schreit der Schmerz. Du bist die Gewalt, die vor dem Recht gilt. Du bist keine Fackel, sondern eine Feuersbrunst. Alles, was du anrührst, verzehrst du." (Rabindranath Tagore)
Zusammenprall der Zivilisationen
Auch in der Gegenwart wird Zivilisation als politischer Kampfbegriff gebraucht, wenn ihn Samuel Huntington in The Clash of Civilizations zu Prognose eines weltweiten Konfliktes benutzt. Wenn der Gegensatz zwischen dem Westen und der islamischen Zivilisation der entscheidende wäre, dann kann es natürlich kein anderer sein, z.B. nicht der zwischen Arm und Reich. Bei solcher Auffassung intensiver sozialer Konflikte verliert die "Zivilisation" dann auch leicht ihre umgangssprachliche Bedeutung von "zivilisierten" Umgangsformen. Praktisch rechtfertigt sie Kampfformen, die Krieg bis hin zur brutalen Unterdrückung rechtfertigen können. Bassam Tibi schrieb in »Krieg der Zivilisationen« eine eigene Ausdeutung der Huntington'schen Thesen. Gazi Çağlar weist ihnen in „Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen“ nach, dass beide zyklischen Geschichtsphilosophien anhängen und in direkter Nachfolge Oswald Spenglers stehen. [1]
Norbert Elias hat (zuerst 1939 in Über den Prozess der Zivilisation) die "Zivilisation" analytischer auf das Sinken der Gewaltbereitschaft und auf das Vorrücken der Schamschwelle konzentriert, die beide seit dem Mittelalter im Zuge der "Verhofung" des alten Burg- und Landadels an den Höfen der ihre Macht konzentrierenden Monarchen - besonders in Frankreich - zu beobachten waren. Dieses folgte im Wesentlichen der Entstehung der stehenden Söldnerheere und ihrer Finanzierung durch ein sich modernisierendes monetäres zentrales Steuerwesens (anstelle von Naturalabgaben). Die neue Heeresverfassung machte die unzuverlässigen feudalen Heere des Adels überflüssig, da sie dank der Steuern auch bezahlt werden konnte, die wiederum der Adel nicht erheben konnte und relativ zur Zentralmonarchie verarmte. Der König (am gewandtesten Ludwig XIV.) eröffnete dann den Adeligen am Hofe neue Karrierechancen, wo sie statt auf Faustrecht auf Courteoisie und höfisches Intrigieren umgeschult wurden, also auf psychologischen Scharfblick, und aus Schlägern mit Schwertern Hofleute mit Galanteriedegen wurden. Das Ganze war ein von niemandem geplanter strukturierter Prozess sozialen Wandels (eine Figuration), in dem sich raubritterliche Brutalität zusehend als unpraktisch erwies (Duellverbote!) und die Manieren sich verfeinerten. Diese Sitten wurden dann zumal auch vom Bürgertum kopiert (vgl. Gabriel Tarde) und veränderten die Gesellschaft insgesamt, zivilisierten sie.
Siehe auch
- Soziologie
- Triebverzicht
- Wiege der Zivilisation, Kultur, Hochkultur
- Zivilisationsparadigmata:
- Zivilisationskritik
- Zivilisationskrankheiten
Literatur
- Braudel, Fernand: Die Geschichte der Zivilisation. 15. bis 18. Jahrhundert. Zürich 1971, ISBN 3463136848