Sudetendeutsche

Sudetendeutsche ist eine alternative Eigenbezeichnung der Deutschböhmen, Deutschmährer und Deutschschlesier seit dem Jahre 1902, als der Geograph Franz Jesser den Begriff in Anlehnung an die zusammenfassenden Bezeichnungen für die „Alpendeutschen“ und „Karpatendeutschen“ prägte. Seit der Zwischenkriegszeit setzte sich der Begriff rasch durch, besonders, als nach 1918 die Tschechen die Verwendung der Begriffe „Deutschböhmen“, „Deutschmährer“ und „Deutschschlesier“ untersagten. Nach 1945 verbindet sich mit dem Wort „Sudetendeutsche“ eine politische Konnotation, weil er mit der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei und der Sudetendeutschen Landsmannschaft in Verbindung gebracht wird.[1]
Bevölkerungsstatistik 1910, 1921 und 1930
Volkszugehörigkeit | Volkszählung | ||
---|---|---|---|
1910[2] | 1921 | 1930 | |
Tschechen | 6.332.690 | 6.727.408 | 7.264.848 |
Deutsche | 3.489.711 | 2.937.208 | 3.070.938 |
Polen | 158.392 | 73.020 | 80.645 |
Slowaken | – | 15.630 | 44.052 |
Nationaljuden | – | 30.267 | 30.002 |
Russen | 1.717 | 3.321 | 11.174 |
Magyaren | 101 | 6.104 | 10.463 |
andere | 1.659 | 2.671 | 4.125 |
Staatsfremde | 87.162[3] | – | 158.139 |
(Quelle: Statistisches Jahrbuch der Tschechoslowakischen Republik 1935)
Begriffsgeschichte und Begriffskontroverse

Der Name „Sudetendeutsche“ (im Egerländer Dialekt Suaderer) wurde vereinzelt schon im 19. Jahrhundert benutzt und setzte sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem ab 1919 (d. h. nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Gründung der Tschechoslowakei) als Sammelbegriff für die über drei Millionen Deutschen in den böhmischen Ländern durch und ersetzte die bis dahin übliche Bezeichnung „Deutschböhmen”.
Die Herkunft des Namens ist uneindeutig. Entweder beruht er auf dem Begriff „Sudetští Nĕmci” (dt. wörtlich ‚Sudeten-Deutsche‘) für den deutschen Bevölkerungsteil, den vor allem die Jungtschechen seit dem 19. Jahrhundert prägten. Oder er leitet sich vom Begriff Sudetenländer ab, der in der österreich-ungarischen Monarchie die Länder der Böhmischen Krone bezeichnete. Beiden Varianten liegt letztendlich der Bezug zum Gebirgszug der Sudeten zugrunde, der sich im Norden Böhmens, Mährens und Sudetenschlesiens auf 330 km Länge hinzieht. Der Begriff Sudetendeutsche umfasst somit auch Bevölkerungsgruppen, die nicht im Bereich des Gebirgszuges der Sudeten lebten, sondern im übrigen Böhmen und Mähren, sowie in den Sprachinseln Olmütz, Wischau, Brünn und Iglau.
Die erste Verwendung der Bezeichnung „Sudetendeutsche“ in größerem Stil begann in den zwanziger und dreißiger Jahren. Zum ersten Mal gab es einen einheitlichen Begriff für alle deutschen Bewohner Böhmens und Mährens, was das einheitliche Auftreten und der Bevölkerungsgruppe und eine Abgrenzung von der tschechischen Bevölkerung beförderte. Besonders die Gründung der Sudetendeutschen Heimatfront 1933 und die Bezeichnung Reichsgau Sudetenland ab 1938 führten den Begriff zum Durchbruch. Nach der Vertreibung war die unbestrittene Eigen- wie Fremdbezeichnung der deutschen Bevölkerung Böhmens und Mährens in der Bundesrepublik Deutschland „Sudetendeutsche“.
Im politischen Diskurs waren die Sudetendeutschen lange Zeit ein wichtiges Thema. So verkündete der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard 1954 auf dem Sudetendeutschen Tag in München die Schirmherrschaft Bayerns über die Sudetendeutschen. Er erklärte sie darüber hinaus zu einem „vierten Volksstamm Bayerns neben Altbayern, Schwaben und Franken“. Auch die CSU sah sich als „Anwalt der Sudetendeutschen“.[4] Diese konservative Ausrichtung und die politischen Forderungen der Sudetendeutschen Landsmannschaft führten dazu, dass der Begriff „Sudetendeutsche“ in der deutschen Öffentlichkeit häufig mit revanchistischen Anschauungen in Verbindung gebracht wird.
Aus diesem Grund lehnen viele Nachkommen von Sudetendeutschen diesen Begriff als Eigenbezeichnung ab oder meiden ihn. Nicht wenige „Sudetendeutsche“ wie etwa Peter Glotz bezeichnen sich lieber als Deutschböhmen oder Deutschmährer, was ihnen politisch neutraler erscheint und was besonders in Österreich neben Schlesiern die seit jeher bevorzugte Bezeichnung ist. Auch die meisten Angehörigen der heutigen deutschen Minderheit in Tschechien bezeichnen sich nicht mehr als Sudetendeutsche.
Anschluss des Sudetenlandes an das Großdeutsche Reich
Infolge des Münchner Abkommens vom 29. September 1938 wurden die deutschsprachigen Gebiete (das Sudetenland) vom Deutschen Reich annektiert. Vom 1. bis zum 10. Oktober 1938 besetzten rund 24 Divisionen der Wehrmacht die an Deutschland und Österreich angrenzenden Gebiete der Tschechoslowakei. Die beabsichtigte Trennung von Deutschen und Tschechen scheiterte, denn die neuen Grenzen des Deutschen Reiches umfassten auch Siedlungsgebiete mit tschechischer Bevölkerungsmehrheit, z. B. das Gebiet rund um Hohenstadt oder die Industriestadt Nesselsdorf. Die „alteingesessenen“ Bewohner dieser Gebiete erhielten automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft.[5]
In der Zwischenkriegszeit kam es, vor allem durch die Bodenreform 1919/20 und durch die Sprachenverordnung 1926, in der Tschechisch zur Amtssprache erklärt wurde, zum verstärkten Zuzug von tschechischen Beamten mit ihren Familien ins Sudetenland. Nach der Volkszählung von 1930 wurden sie mit rund 700.000 Personen beziffert.[6] Nach sudetendeutschen Angaben 180.000 bis 200.000 Tschechen, darunter viele Staatsbeamte und deren Angehörige, mussten 1938/39 den Reichsgau Sudetenland und die angegliederten sudetendeutsche Landkreise wieder verlassen. Bis 1945 kam es noch zu weiteren Vertreibungen, die genaue Anzahl ist nicht bekannt.[7] Rund 100.000 Tschechen, die eine Sudetendeutsche beziehungsweise einen Sudetendeutschen geheiratet hatten und in Mischehen lebten, konnten die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. Viele, die zweisprachig aufgewachsen waren, wechselten aus Opportunismus, da sie sich daraus einen Vorteil erhofften.[8] Eine organisierte Massenvertreibung, Ermordung oder Eindeutschung fanden aus kriegswirtschaftlichen Gründen nicht statt; die endgültige Regelung war für die Zeit nach dem „Endsieg“ vorgesehen.[9]
Sozialdemokraten und andere Regimegegner, deren Zahl auf 400.000 bis 500.000 geschätzt wurde, wurden von Nationalsozialisten misshandelt.[10] Juden und prominente Regimegegner wurden verhaftet und mehrere Monate lang in Konzentrationslagern interniert.[11] Aus Angst vor Repressalien flüchteten 12.000 der 28.000 Juden noch im Oktober 1938 aus dem Sudetenland und ließen ihre leeren Wohnungen und Häuser zurück.[12]
Am 30. Oktober 1938 wurde der Reichsgau Sudetenland gebildet. Er umfasste Nordböhmen sowie Nordmähren und damit den größten Teil der besetzten Gebiete. Sein Gauleiter wurde Konrad Henlein. Der südwestliche Teil Böhmens kam an den Reichsgau Bayerische Ostmark, der südliche Teil Böhmens und Mährens an die Reichsgaue Ober- und Niederdonau. Von den 1,3 Millionen Mitgliedern der Sudetendeutschen Partei wurden lediglich 520.000 in die NSDAP aufgenommen, die zudem wesentlich höhere Mitgliedsbeiträge verlangte.[13] Viele Beamtenstellen im neugeschaffenen Reichsgau wurden mit Beamten aus benachbarten Regionen (z. B. Sachsen) besetzt, was bei den übergangenen Sudetendeutschen Ärger und Enttäuschung auslöste.[14] Im Zuge der Gleichschaltung wurde die Zahl der Vereine drastisch reduziert: von 81.000 sudetendeutschen Organisationen des Jahres 1938 blieben Ende 1940 nur noch 15.000 Verbände übrig. Die nationalsozialistische Gleichschaltung betraf nicht nur konfessionelle und sozialdemokratische Verbände, sondern auch Traditionsverbände sowie deutschnationale und unpolitische Organisationen.[15]
Während des Novemberpogroms am 9. November 1938 wurden auch im Sudetenland mindestens 44 Synagogen beschädigt oder zerstört.[16] Die Zerstörung jüdischer Einrichtungen stieß bei vielen Sudetendeutschen auf Unverständnis.[17]
Hitler hatte im Münchner Abkommen zugesagt, lediglich die deutschsprachigen Gebiete Böhmens und Mährens – das Sudetenland – zu annektieren. Unter Bruch dieses Vertrages okkupierte die deutsche Wehrmacht im März 1939 die bis dahin unabhängigen Gebiete, die „Rest-Tschechei“. Hitler erklärte dieses Territorium zum „Protektorat Böhmen und Mähren“.
Während des Zweiten Weltkrieges wurden Tschechen auch im Sudetenland als Arbeitskräfte in der deutschen Kriegswirtschaft eingesetzt. Tschechische Arbeiter erhielten infolge der nationalsozialistischen Rassendiskriminierung geringere Löhne als deutsche Arbeiter, sie zahlten jedoch keine Mitgliedsbeiträge für nationalsozialistische Organisationen und mussten aufgrund des geltenden Steuerrechts weniger Steuern und Abgaben bezahlen, so dass sie faktisch ein höheres Nettoeinkommen als ihre deutschen Kollegen erzielten.[18]

Während des Zweiten Weltkrieges beteiligte sich das „Sudetendeutsche Freikorps“ an der „Endlösung der Judenfrage“ (Schoah) und am Porrajmos (Ermordung von Sinti und Roma). Ein Beispiel für Untaten gegenüber Juden von Sudetendeutschen über den „Reichsgau Sudetenland“ hinaus ist neben Karl Hermann Frank Josef Pfitzner. Zwischen dem 13. November 1942 und dem 29. März 1945 wurden 611 Juden aus dem Sudetenland in das Ghettolager (KZ) Theresienstadt deportiert.[19]
Sudetendeutscher Widerstand gegen den Nationalsozialismus wurde erst im Jahre 2007 durch ein tschechisches Forschungsprojekt zum Gegenstand des öffentlichen Interesses.[20] Wie in anderen Teilen Deutschlands setzte auch ein Teil der Sudetendeutschen der nationalsozialistischen Politik aktiven oder hinhaltenden Widerstand entgegen. Oskar Schindler gilt als bekanntestes Beispiel. Einige demokratische sudetendeutsche Politiker gingen ins Exil z. B. Wenzel Jaksch, andere wurden ermordet oder kamen in Lagern ums Leben z. B. Ludwig Czech.

In den letzten Tagen des Krieges verübten die verbliebenen SS-Einheiten noch zahlreiche Gräueltaten. Unter anderem löste dies am 5. Mai 1945, drei Tage vor Kriegsende, den Prager Aufstand aus, dem Angehörige der Wehrmacht und SS, aber auch zahlreiche deutsche Zivilisten zum Opfer fielen. So schreibt Peter Glotz in seinem Buch Die Vertreibung: „Dies alles erklärt die entfesselte Orgie gegen alles, was nicht tschechisch war, übrigens auch gegen unbestreitbare Antinazis.“[21]
Schließlich wurden der Westen Böhmens durch US-amerikanische, der übrige Teil Böhmens und Mährens, und damit auch das Sudetenland, von sowjetischen Truppen eingenommen.
Flucht, „wilde Vertreibung“ und Zwangsaussiedlung
Literatur
- K. Erik Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954–1974 (Dissertation), Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2010, ISBN 978-3-486-59150-7.[22]
- Emil Franzel: Sudetendeutsche Geschichte. Mannheim 1978, ISBN 3-8083-1141-X.
- Emil Franzel: Die Sudetendeutschen. Aufstieg Verlag, München 1980.
- Jan Berwid-Buquoy: Integration und Separation der Sudetendeutschen in der ČSR 1918–1920. Theorien der Nationalismen (Dissertation), České Budějovice 2005, ISBN 3-924933-08-1.
- Felix Ermacora: Die sudetendeutschen Fragen. Langen-Müller Verlag, München 1992, ISBN 3-7844-2412-0.
- Walter Koschmal, Marek Nekula, Joachim Rogall (Hg.): Deutsche und Tschechen. Geschichte – Kultur – Politik. – Mit einem Vorwort von Václav Havel (= Beck’sche Reihe 1414), C.H. Beck, München 2001, ISBN 3-406-45954-4. (in tschechischer Sprache: Češi a Němci. Dějiny – Kultura – Politika. Slovo úvodem: Václav Havel. Paseka, Prag 2001, ISBN 80-7185-370-4)
- Peter Lang (Hrsg.): Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte. Eine völkische Bewegung in drei Staaten. Aus der Reihe: Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen. Frankfurt a.M. 2007.
- Rudolf Meixner: Geschichte der Sudetendeutschen. Nürnberg 1988, ISBN 3-921332-97-4.
- Ferdinand Seibt: Deutschland und die Tschechen. Geschichte einer Nachbarschaft in der Mitte Europas. 3. Aufl., Piper, München 1997. (Standardwerk)
- Erich Später: Kein Frieden mit Tschechien. Die Sudetendeutschen und ihre Landsmannschaft. KVV konkret, Hamburg 2005, ISBN 3-930786-43-5.
Einzelnachweise
- ↑ Friedrich Prinz: Böhmen und Mähren. Deutsche Geschichte im Osten Europas. Siedler, Berlin 1993, ISBN 3-88680-202-7.
- ↑ nach der Umgangssprache
- ↑ nicht österreichisch-ungarische Staatsangehörige
- ↑ K. Erik Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954–1974 (Dissertation), Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2010, ISBN 978-3-486-59150-7.
- ↑ Gesetz über die Wiedervereinigung der sudetendeutschen Gebiete mit dem Deutschen Reich vom 21. November 1938. RGBl. 197/1938.
- ↑ Fritz Peter Habel: Eine politische Legende. Die Massenaustreibung von Tschechen aus dem Sudetengebiet 1938/39. Langen-Müller Verlag, München 1996, ISBN 3-7844-2589-5, S. 133.
- ↑ Ralf Gebel: „Heim ins Reich!“ Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938–1945). Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2000, S. 278 f.
- ↑ Ralf Gebel: „Heim ins Reich!“, S. 276.
- ↑ Ralf Gebel: „Heim ins Reich!“ Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938–1945), Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2000, S. 284 ff.
- ↑ Jörg Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945. S. 185–186.
- ↑ Jörg Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945, S. 193.
- ↑ Jörg Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945, S. 203.
- ↑ Peter Wassertheurer: Die Sudetendeutschen während des Zweiten Weltkrieges. In: Heinz Timmermann: Die Benes-Dekrete, S. 177.
- ↑ Ralf Gebel: „Heim ins Reich!“, Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938–1945), Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2000, S. 177.
- ↑ Ralf Gebel: „Heim ins Reich!“, Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938–1945), Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2000, S. 123.
- ↑ Jörg Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945, S. 214.
- ↑ Jörg Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945, S. 220.
- ↑ Ralf Gebel: „Heim ins Reich!“, Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938–1945), Oldenbourg, München 2000, S. 320.
- ↑ Jörg Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945, Oldenbourg, München 2006, S. 635.
- ↑ „Vergessene Helden“: Sudetendeutscher Widerstand gegen das NS-Regime – ein tschechisches Forschungsprojekt
- ↑ Vgl. Peter Glotz: Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück. München 2003, S. 202.
- ↑ Rezension auf sehepunkte.de