Behandlungsfehler
Ein Behandlungsfehler wird in der Rechtswissenschaft definiert als eine nicht angemessene, zum Beispiel nicht sorgfältige, fachgerechte oder zeitgerechte Behandlung des Patienten durch einen Arzt. Er kann alle Bereiche ärztlicher Tätigkeit (Tun oder Unterlassen) betreffen, sowohl beim Eingreifen in Notfällen und bei dem dazugehörenden Transport, in der ärztlichen Praxis, bei Hausbesuchen oder im Krankenhaus. Dabei kann der Fehler rein medizinischen Charakters sein, sich auf organisatorische Fragen beziehen oder es kann sich um Fehler nachgeordneter oder zuarbeitender Personen handeln. Auch fehlende oder unrichtige sowie unverständliche oder unvollständige Sicherungsaufklärung (therapeutische Aufklärung) des Patienten über das eigene Verhalten in der Therapie, kann einen ärztlichen Behandlungsfehler darstellen. Nur nach einer vollständigen – dem Krankheitsfall entsprechenden – Aufklärung kann der Patient rechtswirksam in die Behandlung einwilligen.
Welche die richtige Behandlung gewesen wäre, kann durch ärztliche Gutachten geklärt werden. Medizinische Leitlinien, das sind wissenschaftliche Empfehlungen, die beschreiben, wie der Arzt behandeln sollte, können dabei hilfreich sein, sind jedoch – wie der Name schon sagt – nicht verbindlich [1]. Diese werden, wenn möglich, auf der Basis der evidenzbasierten Medizin verfasst.
Die medizinische Begutachtung hat dabei sowohl die Therapiefreiheit, als auch unterschiedliche Lehrmeinungen zu dem jeweiligen Behandlungszeitpunkt zu berücksichtigen. Der Arzt schuldet dem Patienten eine fehlerfreie Behandlung nach Dienstvertragsrecht, jedoch nicht unbedingt die Heilung.
Behandlungsfehler werden häufig auch als „Kunstfehler“ bezeichnet, weil die ärztliche Behandlung nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst (lat. lege artis, engl. state of the art) erfolgt ist. Für eine solche fehlerhafte Behandlung darf ein Arzt keine Gebühren berechnen.[2]
Ursachen
Die Ursachen von Behandlungsfehlern sind vielschichtig und zahlreich. Neben allgemein menschlichen Unzulänglichkeiten rücken zunehmend die äußeren Bedingungen in den Blickpunkt, die das Risiko von Behandlungsfehlern erhöhen. Als Faktoren werden zum Beispiel angegeben:
- Mangelnde „Fehlerkultur“. Behandlungsfehler wurden tabuisiert und als individuelles Versagen gebrandmarkt, statt sie zu analysieren und über Ursachen und Vermeidungsstrategien zu sprechen. Seit 2005 findet ein Umdenken statt („Patientensicherheit“).[3]: Broschüre: Aus Fehlern lernen, Deutsches Ärzteblatt Mediziner wollen aus Behandlungsfehlern besser lernen (28. Februar 2008), Jeder Fehler zählt oder Jeder Zahn zählt. Letztere sind Fehlerberichts- und Lernsysteme für Ärzte und Zahnärzte.
- Verwechslungsmöglichkeiten, zum Beispiel bei Medikamenten mit ähnlichem Namen und/oder ähnlicher Verpackung, Rechts-links-Verwechslungen, Verwechseln von Patienten.
- Kommunikationsfehler zwischen den Behandelnden
- Arbeitsbelastung
- Unklarheit über die Verantwortlichkeiten
Grenzen der Therapiefreiheit
Dem Arzt steht die freie Wahl der Therapie zu. Bei mehreren Therapiealternativen ist der Patient unter Einbeziehung der jeweiligen Risiken aufzuklären. Auch hier besteht die Einwilligungsvoraussetzung des Patienten für die gewählte Therapie. Die Therapiefreiheit ist jedoch eingeschränkt. Bei mehreren risikogleichen Möglichkeiten ist die Therapie mit der größtmöglichen Erfolgsaussicht und bei mehreren gleichwertigen Möglichkeiten hat er diejenige mit dem geringsten Risiko auszuwählen, sonst kann die Behandlung als fehlerhaft eingestuft werden. In der Gesetzlichen Krankenversicherung ist ferner das Wirtschaftlichkeitsgebot gemäß § 12 SGB V zu berücksichtigen, da Gesetzlich Versicherte lediglich Anspruch auf ausreichende, zweckmäßige, wirtschaftliche und das Maß des Notwendigen nicht überschreitende Leistungen haben.
Alternative Behandlungsmethoden dürfen nur dann angewendet werden, wenn dadurch kein Schaden entsteht, der bei Anwendung wissenschaftlich anerkannter Heilmethoden vermieden worden wäre. Das Bundesverfassungsgericht entschied 2005, dass die gesetzliche Krankenversicherung bei Schwerkranken auch alternative Heilmethoden bezahlen muss, wenn diese einen begründete Hoffnung auf Heilung bietet oder eine spürbare Verbesserung des Krankheitsverlaufes besteht - sofern die Schulmedizin keine Therapiemöglichkeit mehr sieht. In dem Verfahren befanden die Verfassungsrichter das 1997 gefällte Urteil des Bundessozialgerichts „mit der grundsätzlich garantierten allgemeinen Handlungsfreiheit, dem Sozialprinzip und dem Grundrecht auf Leben als nicht vereinbar“.[4]
Aufklärung des Patienten
Im Fall eines Behandlungsfehlers ist der Patient umfassend darüber aufzuklären. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit hat hierzu eine Broschüre herausgegeben, die Ärzten und Pflegepersonal die Ängste und Unsicherheiten in puncto Aufklärung überwinden helfen soll. Dort heißt es:
„Bei unerwünschten Ereignissen und Behandlungsfehlern sind eine gute Kommunikation und ein professioneller Umgang mit den Betroffenen und Beteiligten ethisch geboten. Dies ist Kernbestandteil einer fortschrittlichen Sicherheitskultur. Patienten und Angehörige sowie beteiligte Mitarbeiter erwarten zu Recht ein ehrliches, faires, auf Schadensbegrenzung und künftige Schadensverhütung gerichtetes Handeln der Verantwortlichen.“
Die rechtlich wirksame Einwilligung nach erfolgter Aufklärung, die sogenannte informierte Einwilligung, (engl. informed consent), bezeichnet in der Medizin die von Information und Aufklärung getragene Einwilligung des Patienten in ärztliche Eingriffe und ist aus wirtschaftlicher wie juristischer Sicht ein zentrales Thema der Arzthaftung.
Häufigkeit
Bei der Bundesärztekammer (BÄK) werden jährlich die Beschwerden bei den verschiedenen Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen für Arzthaftpflichtfragen zusammengefasst (für 2006 erstmals bundesweit einheitlich). Demnach wurden 2006 nur unwesentlich mehr Reklamationen untersucht als 2005, nämlich 10.280 [5], von denen sich in 3897 Fällen Behandlungsfehler ergeben haben. Bei 500 Millionen Arztkontakten jährlich ist dies eine Quote von 0,0008 %. Abschätzungen über die Dunkelziffern in diesem Zusammenhang wurden dabei nicht bekannt gegeben. Es ist für diese Erfassungsmethode ein Problem der Arzt-Patienten-Beziehung, dass durch das ungleich verteilte Fachwissen viele Patienten es gar nicht wissen können oder erst Jahre später merken oder ahnen, dass sie (vielleicht) falsch behandelt wurden. Eine Untersuchung darauf findet dann üblicherweise nicht statt. Auch liegen keine Zahlen über Fälle vor, in denen sich Ärzte und Patienten ohne Schlichtungsstelle auf eine Schadensregulierung geeinigt hatten.
Bei 1.562 der von der Bundesärztekammer erfassten Behandlungsfehler kamen Aufklärungsmängel hinzu, in weiteren 422 Fällen wurde die mangelhafte Risikoaufklärung ohne Schaden für den Patienten festgestellt. Die meisten Einzelvorwürfe betreffen Operationen (zirka 25 %), jeweils unter 10 % postoperative Therapien oder die Diagnostik. Dies kann ein Erhebungsfehler in dem Sinne sein, dass sich Patienten in diesen Fachgebieten entweder häufiger an mehrere Ärzte wenden und es dadurch zu einer vermehrten Aufdeckung von Mängeln kommt oder die Beweissicherung leichter gelingen kann als in anderen Fachdisziplinen.
2011 wurden bei den Landesärztekammern 11.107 Schlichtungsverfahren beantragt.[6]
Seit der Veröffentlichung des Berichts «To Err is Human» [7] durch das Institute of Medicine der US-amerikanischen National Academy of Sciences im Jahre 1999 hat das Thema Medizinische Risiken, Fehler und Patientensicherheit im internationalen Schrifttum zunehmendes Interesse erlangt.[8][9]
Klärungsmöglichkeiten
- Außergerichtliche Klärung
- Direkte Verhandlung zwischen Rechtsanwalt und Haftpflichtversicherung des Arztes
- Schlichtungsstellen und Gutachterkommissionen der Ärztekammern und Zahnärztekammern
- Medizinischer Dienst der Krankenversicherung (MDK)
- Gutachterwesen im zahnärztlichen Bereich für gesetzlich Versicherte
- Gerichtliche Klärung
- Zivilgerichte
- Strafanzeige bei Polizei oder Staatsanwaltschaft
Selbständiges Beweisverfahren
Ein Selbständiges Beweisverfahren kann ggf. durchgeführt werden, wenn die Beweiserhebung durch Verlust der Beweismittel gefährdet ist § 485 Abs. 3 ZPO. Dies kann im Falle eines Behandlungsfehlers manchmal notwendig sein, um den Befund zu sichern (deshalb frühere Bezeichnung Beweissicherungsverfahren), bevor durch weitere Behandlungsmaßnahmen der Zustand verändert werden könnte und dafür eine Eilbedürftigkeit besteht. Dabei biete ein einseitig von einer Partei eingeschalteter Gutachter nicht die Gewähr der Unabhängigkeit wie ein gerichtlich bestellter Gutachter. Privatgutachten sind daher vor Gericht nicht als Beweismittel zugelassen, sondern nur als qualifizierter Parteivortrag. Sofern bereits eine solche Begutachtung erfolgte, ist nach § 485 Abs. 3 ZPO eine erneute Begutachtung im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 412 ZPO möglich, nämlich wenn der Sachverständige erfolgreich wegen Befangenheit abgelehnt wurde oder aber das erstellte Gutachten unzureichend ist.
Schlichtungsstellen
Beim Verdacht eines Behandlungsfehlers kann ein medizinisches Privatgutachten weiterhelfen. Eine weitere Möglichkeit, um klären zu lassen, ob die ärztliche Behandlung fachgerecht ausgeführt wurde, bieten die Schlichtungsstellen. Das Verfahren kommt jedoch nur in Gang, wenn der beschuldigte Arzt bzw. die beschuldigte Institution dem Schlichtungsverfahren zustimmt. Zur Prüfung von Beschwerden und Haftungsfragen hat die Ärzteschaft in Deutschland Gutachterkommissionen [10] und Schlichtungsstellen bei den Landesärztekammern und den Landeszahnärztekammern eingerichtet. Die Kosten eines von der Schlichtungsstelle beigezogenen Gutachters und die jeweils geltende Verfahrenspauschale trägt der Versicherer des Arztes bzw. der Krankenhausträger. Der antragstellende Patient muss lediglich seine Kosten einschließlich der Kosten seines Rechtsvertreters und seine eventuellen Reisekosten tragen. Es liegt im Ermessen des in Anspruch genommen Arztes, dem vom Patienten beantragten Schlichtungsverfahren zuzustimmen. Die außergerichtliche Schadensregulierung ist davon abhängig, welches Verständnis die Seite des in Anspruch genommenen Arztes bzw. Krankenhauses von der Sach- und Rechtslage besitzen.
Sozialrecht
Ärztlicher Bereich
Die Krankenkassen sollen die Versicherten bei der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen unterstützen (§ 66 SGB V), etwa indem die medizinischen Unterlagen beim Arzt angefordert werden und einem Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) zur Prüfung vorgelegt werden. Sollte sich der Verdacht eines Behandlungsfehlers bestätigen, wird hierüber ein schriftliches Gutachten erstellt, das dem Versicherten kostenfrei zur Verfügung gestellt wird.
Zahnärztlicher Bereich
m zahnärztlichen Bereich gibt es – im Gegensatz zum ärztlichen Bereich – ein durch das SGB V geregeltes [11] flächendeckendes Gutachterwesen für gesetzlich Versicherte, das aus zwischen den Krankenkassen und den Kassenzahnärztlichen Vereinigungen einvernehmlich bestellten Gutachtern für die Bereiche Zahnersatz, Parodontologie und Kieferorthopädie besteht. Gegen ein solches Gutachten gibt es Widerspruchsmöglichkeiten (Obergutachter, Prothetikausschuss) und daran anschließend ist der Rechtsweg über die Sozialgerichte geöffnet. Das zahnärztliche Begutachtungsverfahren ist für den Versicherten kostenlos. Eventuelle Schmerzensgeld- und Schadenersatzforderungen sind jedoch davon getrennt im Zivilverfahren zu erstreiten, denn das Gutachterverfahren führt nur zur Honorarrückforderung.[12]
Zivilrecht
Der Behandlungsfehler ist eine Pflichtverletzung, § 280 BGB, aus dem Behandlungsvertrag, § 630aff BGB, und zugleich eine unerlaubte Handlung (Delikt, § 823 Abs. 1, 2 BGB). Aus beidem schuldet der Behandelnde Schadensersatz. Daneben kommen bei Klinikärzten Ansprüche gegen das Krankenhaus in Betracht, für das der Arzt als sog. Gehilfe gehandelt haben kann.
Der Behandelnde ist nach § 630f BGB verpflichtet, alle wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen, insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien und ihre Wirkungen, Eingriffe und ihre Wirkungen, Einwilligungen und Aufklärungen. Diese Dokumentation kann die spätere Aufklärung eines Verdachts auf einen Behandlungsfehler erleichtern.
Anspruchsvoraussetzungen
Normalerweise muss der Patient dem Behandler Gelegenheit zur Nachbesserung einer fehlerhaften Behandlung geben (soweit dies medizinisch überhaupt möglich ist), jedoch nicht immer, wie das OLG Thüringen entschieden hat. [13] Im Arzthaftungsrecht muss er es nicht, wenn er anschließend Schadensersatz und Schmerzensgeld von dem behandelnden Arzt wegen dessen Behandlungsfehler verlangt. Das gesetzliche Erfordernis eines Nacherfüllungsverlangens § 281 BGB kann nur für solche Schadensersatzpositionen relevant werden, die dem Komplex Schadensersatz statt Erfüllung zuzurechnen sind; das sind z.B. Nachbehandlungskosten für eine wegen des Behandlungsfehlers notwendig gewordene Nachbehandlung. Für den „einfachen“ - materiellen und immateriellen - Schadensersatz nach §§ 280, 253 Abs. 2 BGB ist eine Aufforderung zur Nacherfüllung entbehrlich, da dieser nach Beendigung des Behandlungsvertrags (d.h. mit Erbringung der Hauptleistungen) nicht mehr besteht. Ein Behandlungsabbruch seitens des Patienten (wegen verlorenen Vertrauens) ist dabei im Regelfall als Kündigung des ärztlichen Behandlungsvertrags anzusehen.
Schadensersatz
Der Schadensersatz umfasst insbesondere die notwendigen Heilbehandlungskosten.
Schmerzensgeld
Zusätzlich kann der Arzt Schmerzensgeld schulden. Anhaltswerte kann die Celler Schmerzensgeldtabelle des Oberlandesgericht Celle geben. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dürfen für ein angemessenes Schmerzensgeld (§ 253 BGB) grundsätzlich alle in Betracht kommenden Umstände eines Falles berücksichtigt werden, darunter der Grad des Verschuldens des Schädigers, die Dauer von Schmerzen, Einschränkungen des Lebens und die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers als auch des Geschädigten, usw.. Im internationalen Vergleich ist jedoch die Höhe der ausgeurteilten Schmerzensgelder gering. Das Schmerzensgeld hat sowohl Ausgleichs- als auch Genugtuungsfunktion, es ist übertragbar und vererblich. Der Klageantrag auf Zahlung von Schmerzensgeld ist einer der wenigen Fälle, in denen ein unbestimmter Antrag zulässig ist. Die Höhe des Schmerzensgeldes kann in das Ermessen des Gerichts gestellt werden.[14]
Beweislast
Die objektive Beweislast für einen Behandlungsfehler liegt beim Kläger, also dem Patienten bzw. dessen Erben. Ebenfalls muss der Kläger beweisen, dass der Behandlungsfehler einen Schaden verursacht hat. Der heute im Zivilrecht gebräuchliche Ausdruck Arzthaftung betont diese Frage nach der Kausalität: Nicht jeder Fehler des Arztes begründet eine Schadenersatzpflicht; vielmehr muss auf diesen Fehler ein konkreter Schaden zurückzuführen sein. Die Kausalitätsproblematik ist ein Schwerpunkt vieler Schadensersatzprozesse im Bereich des Arzthaftungsrechts.
Beweislastumkehr
Zu einer Beweislastumkehr kann der Kläger jedoch gelangen, wenn es ihm nachzuweisen gelingt, dass dem von ihm geltend gemachten Schaden, ein grober Behandlungsfehler zu Grunde liegt.
Grober Behandlungsfehler
Ein grober Behandlungsfehler wird von der Rechtsprechung angenommen, wenn:
„[…]der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf“
Die Feststellung eines groben Behandlungsfehlers ist eine Rechtsfrage, d. h. sie wird vom Gericht und nicht vom medizinischen Sachverständigen getroffen. Das Gutachten eines Sachverständigen kann laut BGH dafür lediglich Entscheidungsgründe liefern.[16]
Beim Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers wird die Ursächlichkeit des groben Fehlers für den Schaden widerleglich vermutet.[17]
Eine Beweislastumkehr wird auch angeordnet, wenn Beweismittel nicht ordnungsgemäß gelagert wurden. Ebenso können unvollständige oder verfälschte Dokumentationen, einschließlich nachgetragener Änderungen oder angeblich verlorene Dokumente sowie ein ungesicherter oder unregistrierter Zugang zu Änderungsmöglichkeiten in Datenbanken der Fallakten zur Beweislastumkehr führen. Ebenso bewertet werden verbrannte und nicht rekonstruierte, sondern weggeworfene Dokumentationen. Beispielsweise hat das Oberlandesgericht Hamm in seinem Urteil vom 12. Dezember 2001[18] grobe Verstöße eines Essener Klinik-Pathologen gegen die Befundsicherungspflicht als groben Behandlungsfehler gewertet und die Beweislast daher umgekehrt.
Regelmäßig stellen zum Beispiel Versäumnisse im Rahmen der ärztlichen Sicherungsaufklärung (therapeutische Aufklärung) einen groben Behandlungsfehler dar, weshalb hier folglich regelmäßig von einer objektiven Beweislastumkehr auszugehen ist.
„[…] Eine Verletzung der Pflicht des behandelnden Arztes zur therapeutischen Aufklärung (Sicherungsaufklärung), die als grober Behandlungsfehler zu werten ist, führt regelmäßig zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden, wenn sie geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; eine Wahrscheinlichkeit für ein Ergebnis einer Kontrolluntersuchung ist in einem solchen Fall nicht erforderlich […] Eine Umkehr der Beweislast ist schon dann anzunehmen, wenn der grobe Behandlungsfehler geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; nahelegen oder wahrscheinlich machen muß der Fehler den Schaden dagegen nicht“
Weitere typische Bedingungen für eine richterliche Anordnung der Beweislastumkehr sind:
- unterlassene Befunderhebung[20]
- offensichtlich falsche Behandlung, also grobe Behandlungsfehler und auch Medikationsfehler
- Keimübertragung durch Infektion in einem beherrschbaren Bereich[21][22]
- Verwendung fehlerhafter Geräte, falsche oder nicht dokumentierte Geräteeinstellungen oder unterlassene Gerätewartung (abgelaufene Prüfzeichenfristen).
Ein Arzt haftet jedoch nicht zwangsläufig für einen groben Behandlungsfehler, wenn der Patient eine dringend notwendige anschließende Behandlung durch einen anderen Mediziner verweigert (OLG Koblenz). [23] Der Patient ist demnach zur Mitwirkung verpflichtet, wenn er damit den Schaden - auch bei einem groben Behandlungsfehler - mindern kann (Schadensminderungspflicht).
Beweiserleichterung
Der Arzt unterliegt einer Dokumentationspflicht bezüglich seiner erhobenen Befunde, der Diagnosen und der unternommenen oder veranlassten Behandlungen. Eine unterlassenen Dokumentation bildet selbst noch keine eigenständige Anspruchsgrundlage in einem Kunstfehlerprozess. Das Gericht kann aus der Nichtdokumentation einer aufzeichnungsbedürftigen Maßnahme schließen, dass die Maßnahme unterblieben ist, was zur Beweiserleichterung für den Patienten führen kann.[24]
Ähnliche Erleichterungen gewährt die Rechtsprechung für den Nachweis des Verschuldens; im Rahmen der vertraglichen Haftung wird das Vertretenmüssen ohnehin kraft Gesetzes vermutet.
Verjährung
Der Schadensersatzanspruch kann mit Eintritt der Verjährung nicht mehr durchgesetzt werden. Die dreijährige Verjährungsfrist beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den Anspruch begründeten Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste (§ 199 Abs. 1 BGB).
Ergänzend sei hier angeführt, die Verjährung wird nicht gehemmt, wenn ein Gutachten beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) in Auftrag gegeben wird.
Strafrecht
Nach der Rechtsprechung ist selbst jede fehlerfreie Heilbehandlung eine tatbestandliche Körperverletzung (§ 223 StGB), die jedoch nicht strafbar ist, solange sie mit wirksamer Einwilligung des Patienten durchgeführt wird. Unumstritten ist das für fehlerhafte Behandlungen. Weil in sie der Patient nicht eingewilligt hat, ist die Tat auch rechtswidrig. Im Strafprozess ist der Patient gegebenenfalls Nebenkläger oder Zeuge. Stirbt der Patient an den Folgen des Behandlungsfehlers, kommt fahrlässige Tötung oder ausnahmsweise gar Totschlag in Betracht.
Standesrecht
Zudem können Behandlungsfehler standesrechtliche Folgen haben. Darüber entscheiden die Ärztekammern, [25] Zahnärztekammern oder die zuständigen Berufsgerichte auf der Grundlage der jeweiligen Berufsordnungen oder die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen im Rahmen ihrer Disziplinarordnungen.[26][27]
Berufsrecht
In besonders schweren Fällen kann der Zulassungsausschuss gemäß §§ 26, 27 Zulassungsverordnung für Vertrags(zahn)ärzte das teilweise oder vollständige Ruhen der Zulassung als Vertrags(zahn-)arzt oder die Entziehung der Zulassung[28] [29] anordnen. Als ultima ratio kann die zuständige Landesregierung den Entzug der Approbation verfügen, was einem Berufsverbot gleichkommt.
Medizinischer Dienst der Krankenversicherung
Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) hat 2012 die von ihm festgestellten Behandlungsfehler veröffentlicht, wonach er im Jahre 2011 insgesamt 4068 Behandlungsfehler festgestellt habe. [30] Die Zahlen sind jedoch kritisch zu sehen, weil die vom MDK – meist nur nach Aktenlage − festgestellten Behandlungsfehler oft nicht zum Erfolg in einem Schadenersatzprozess führen, weil einerseits die Kausalität zwischen ärztlichem Handeln und Gesundheitsschaden nicht nachgewiesen werden kann und andererseits eine körperliche Untersuchung durch einen medizinischen Sachverständigen zu anderen Ergebnissen führt. Der MDK hat z. B. unter den von ihm festgestellten 4068 Behandlungsfehlern in 134 Fällen Falschbehandlungen von Zahnkaries festgestellt, die damit auf Platz drei der häufigsten Fehler gelandet sind. Bei rund 120 Millionen zahnärztlichen Behandlungsfällen pro Jahr in Deutschland ist dies eine Quote von 0,0001 %, bei allen Zahnbehandlungen zusammen eine Quote von 0,0003 %. Ein Behandlungsfall besteht dabei aus allen bei einem Patienten in einem Quartal erbrachten Einzelleistungen.
Die Krankenkassen beauftragen den Medizinischen Dienst im zahnmedizinischen Bereich zur Begutachtung der Planung von andersartigem Zahnersatz, bei Kiefergelenkserkrankungen, implantologischen und außervertraglichen Leistungen sowie zur Stellungnahme zu Fragen der stationären zahnmedizinischen Versorgung, teilweise zu Zahnersatz-Mängelgutachten und vermuteten sonstigen Behandlungsfehlern. Das bundesmantelvertraglich vereinbarte Gutachterverfahren wird hingegen regelmäßig ohne Beauftragung des MDK für die Bereiche Zahnersatz, Parodontologie und Kieferorthopädie durchgeführt.
Der MDK hat nach eigenen Angaben im Jahre 2012 12.483 Behandlungsfehlerbegutachtungen durchgeführt, wovon in insgesamt 3.845 Fällen ein Behandlungsfehler festgestellt wurde. In 21,7% wurde ein Behandlungsfehler mit Kausalität und bei 9,1% ein Behandlungsfehler ohne Kausalität festgestellt.[31]
Auswahl der durch den MDK 2011 und 2012 bundesweit festgestellten zehn häufigsten Behandlungsfehler:
Art | Anzahl 2011 | Anzahl 2012 |
---|---|---|
Kniegelenksarthrose | 159 | 131 |
Hüftgelenksarthrose | 140 | 152 |
Zahnkaries | 134 | 124 |
Oberschenkelbruch | 111 | 105 |
Pulpitis | 108 | 156 |
Unterschenkelbruch | 85 | 81 |
Dekubitus | 81 | |
Rückenschmerzen | 58 | |
sonst. Zahnkrankheiten | 73 | 66 |
Unterarmbruch | 67 | |
Sonst. Bandscheibenschäden | 50 | |
Bandscheibenschäden | 58 | 50 |
Siehe auch
Heilbehandlung: Rechtsbeziehungen im Zusammenhang mit einer medizinischen Therapie.
Literatur
- Preventing Medication Errors. Committee on Identifying and Preventing Medication Errors and the Board on Health Care Services. Hg. Philip Aspden et al. National Academies Press, Washington, D.C., 2007. ISBN 978-0-309-10147-9.
- Medication Errors. Hg. Michael R. Cohen. 2. Auflage. American Pharmacists Association, Washington, D.C., 2007. ISBN 978-1-58212-092-8.
- Martin Lindner: Irren ist ärztlich. In: Bild der Wissenschaft. 2/2004, S. 18–23, ISSN 0006-2375
- Stefanie Bachstein: Du hättest leben können. Verlagsgruppe Lübbe, 3.Aufl. 2007, ISBN 3-404-61480-1. Vorwort von Prof. Dr. med. Thomas H. Loew, Uniklinik Regensburg. Das Buch von Stefanie Bachstein zeigt die Traumatisierung beider Seiten, die der Ärztin und die der Betroffenen nach einem tödlichen Behandlungsfehler. Das Buch erhielt im Rahmen des Publizistikpreises 2004 der Stiftung Gesundheit Hamburg, eine besondere Erwähnung. Infos u. Leseprobe (Brief an die Ärztin) unter www.stefanie-bachstein.de
- Michaewl Imhof: Ärztliche Behandlungsfehler - Was tun? Ein Ratgeber für Patienten, Angehörige und medizinisches Personal, Schulz-Kirchner Verlag, Idstein 2011 ISBN 978-3-8248-0867-0
- Herbert Pröpper, Johann Neu: Ein außergerichtlicher Weg zur Einigung. Arbeit und Ergebnisse der Norddeutschen Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen. Hamburger Ärzteblatt 1/2012, S. 12–17
- Marina Tamm: Der Haftungsumfang bei ärztlichem Fehlverhalten und Rechtsdurchsetzungsfragen im Arzthaftungsrecht; JURA 2009, 81
Weblinks
- Das ÄZQ – Kompetenzzentrum von BÄK und KBV für Leitlinien, Patienteninformation, Patientensicherheit und ärztliches Qualitätsmanagement
- Aktionsbündnis Patientensicherheit.
- WHO-Programm „Safe Surgery saves Lives“ (25. Juni 2008, Washington DC)
- Zahnärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung ZZQ im Institut der Deutschen Zahnärzte IDZ
- Publikationsreihe "Arzt und Arzthaftung"
Einzelnachweise
- ↑ Leitlinien sind nicht dem medizinischen Standard gleichzusetzen, Dtsch Arztebl 2008; 105(37): A-1937 / B-1665 / C-1629
- ↑ Siehe jeweils § 1 Abs. 2 Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) und der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ)
- ↑ Aktionsbündnis Patientensicherheit
- ↑ Bundesverfassungsgericht - Urteil vom 6. Dezember 2005 (AktZ.:1 BvR 347/98)
- ↑ Medizin in Deutschland – Fast 3.900 Behandlungsfehler bundesweit. In: Süddeutsche Zeitung vom 18. April 2007
- ↑ Pressemitteilung der Bundesärztekammer Abgerufen am 16. September 2012
- ↑ Kohn LT, Corrigan JM, Donaldson MS (eds.) To err is human. Building a safer health system. Washington, DC: National Academy Press, 1999.
- ↑ Leape LL, Berwick DM. Safe health care: are we up to it? Br Med J 2000;320:725-6.
- ↑ Reducing error. Improving Safety. Schwerpunktheft Br Med J 2000;320(7237).
- ↑ Bundesärztekammer: Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen bei den Ärztekammern
- ↑ KZV Hamburg: Anlage 4 zum Gesamtvertrag mit den Primärkassen
- ↑ Anlagen 6, 9, 10a, 10b, 12 und 14 zum Bundesmanteltarifvertrag - Zahnärzte (BMV-Z), zum Beispiel § 4 der Anlage 12
- ↑ OLG Thüringen, Entscheidung vom 29. Mai 2012 (Az.: 4 U 549/11)
- ↑ BGH, ständige Rechtsprechung, Senatsbeschluss vom 30. September 2003 - VI ZR 78/03 - VersR 2004, 219
- ↑ BGH, Urteil vom 11, Juni 1996, Az. VI ZR 172/95, Volltext = VersR 1996, 1148
- ↑ Jurion: BGH, 21. Juli 1998, VI ZR 15/98
- ↑ BGH, Urteil vom 25. Oktober 2011, Az. VI ZR 139/10, Volltext
- ↑ OLG Hamm, Urteil vom 12. Dezember 2001, Az. 3 U 119/00.
- ↑ BGH, Urteil vom 27. April 2004, Az. VI ZR 34/03, Volltext = VersR 2004, 909
- ↑ BGH Urteil vom 28. Juni 1988 (VI R 217/87)
- ↑ BGH Urteil, in VersR 1991, 467 ff.
- ↑ BGH Urteil, NJW 2007,1682 ff.
- ↑ OLG Koblenz (Beschlüsse vom 27. Juni und 27. August 2012; Az.: 5 U 1510/11), abgerufen am 14. September 2012
- ↑ Jurion: BGH VI ZR 170/88
- ↑ Bayerische Landesärztekammer, Heilberufe-Kammergesetz (PDF; 235 kB)
- ↑ KZV Baden-Württemberg Disziplinarordnung
- ↑ KV Nordrhein Disziplinarordnung (PDF; 42 kB)
- ↑ Zulassungsordnung Zahnärzte
- ↑ Zulassungsordnung Ärzte
- ↑ MDS: Behandlungsfehlerstatistik des MDK 2011
- ↑ MDS: Behandlungsfehlerstatistik des MDK 2012