Elite
Unter „Elite“ (lat.: Auswahl) versteht man die Zusammenfassung überdurchschnittlich qualifizierter Personen („Funktionseliten“) oder die herrschenden bzw. einflussreichen Kreise („Machteliten“) in einer Gesellschaft. Da aber die Begriffe ineinander übergehen, werden sie hier in einem Artikel abgehandelt. Als Gegenbegriff wird häufig „Masse“ benutzt.
Begriffsgebrauch und Begriffsgeschichte
Im 17. Jahrhundert tauchte das Wort erstmalig auf und wurde zur Bezeichnung von hochwertigen und teuren Waren, vor allem von Stoffen („Elitegarn“), verwendet. Erst langsam, innerhalb eines Prozesses von zweihundert Jahren, begann man den Begriff auch auf soziale Zusammenhänge hin auszuweiten.
Gut belegt ist die Verwendung von Elite, und übrigens auch von Kader, im militärischen Bereich. Eliteeinheiten galten – und gelten auch heute noch – als besonders ausgebildete und bewaffnete Truppenteile, während mit dem Wort „Kader“ der erfahrene Stamm eines Heeres, jene Gruppe militärischer Ranginhaber gemeint ist, die Rekruten ausbilden, organisieren und in die Rahmen, in die Kader, der Armee eingliedern.
Im Alltagsleben und in den Massenmedien wird das Wort „Elite“ Personen zugeschrieben, die sich in politischen, wirtschaftlichen, sportlichen, künstlerischen, akademischen usw. Spitzenpositionen befinden. Daneben haftet es organisierten Sozialsystemen an, etwa dann, wenn einer „Eliteuniversität“ (Harvard University) oder einem „Eliteinstitut“ (Massachusetts Institute of Technology, Salzburg Seminar) eine große Autorität in Wahrheitsfragen eingeräumt wird.

Elite - Qualifikation, Begabung und Herrschaft
Angehörige einer Elite haben meist eine besondere Ausbildung und heben sich so in ihrer Leistungsfähigkeit vom Bevölkerungsdurchschnitt deutlich ab. In diesem Sinn ist Elite ein Synonym für „die Besten“ (griech.: aristoi); diese bilden daher, wenn sie herrschen, eine Aristokratie im normativen Sinn des Worts.
Gesellschaftspolitisch kontrovers diskutiert wird die Frage, ob besonders Begabte aktiv gefunden werden sollen bzw. ob die Elitebildung über die üblichen Ausbildungs- und Karrierewege verlaufen soll. Konservative und eher „rechte“ Denker neigen dazu, Elitebildung als Suchprozess zu verstehen, bei dem besondere, z. B. durch Vererbung bereits vorhandene, Begabungen „entdeckt“ und dann zur Entfaltung zu bringen sind. Sie stehen im allgemeinen der Elitebildung positiv gegenüber. Sozialistische und eher „linke“ Denker gehen von einer prinzipiellen Gleichheit aller aus und sehen in der Elite das Ergebnis von Sozialisations- und Lernprozessen. Sie sehen in der Elitebildung keinen Wert an sich. Aus marxistischer Sicht handelt es sich bei dem Wort "Elite" um einen Euphemismus für die herrschende Klasse. Deren Leistungsideologie dient danach dazu, Privilegien, die auf der Aneignung des Mehrwerts und der Unterdrückung der Massen beruhen, zu rechtfertigen.
Die meisten Wissenschaftler sehen das Leistungsspektrum eines Individuums als Zusammenspiel von Erbanlagen, dem sozialen Umfeld sowie der erworbenen Bildung an. Umstritten ist jedoch der Anteil dieser Determinanten. Hinzu kommen in vielen Gesellschaften Faktoren, wie beispielsweise Geschlecht, die den Zugang zur jeweiligen Elite begrenzen.
Elite als soziologischer Begriff
In der Soziologie wird der Begriff sowohl wertneutral als auch in gesellschaftskritischer Absicht gebraucht. Dies gilt sowohl für empirische Ansätze in der Eliteforschung als auch für die Elitetheorie.
Die soziologische Eliteforschung beschreibt den Prozess des Aufstiegs in die Elite, des Verbleibs in ihr, der Durchlässigkeit der Schichten sowie des Elitewechsels. Auch die Zusammensetzung der Elite, etwa nach Konfession, Volkszugehörigkeit, sozialer Herkunft usw. ist Gegenstand soziologischer Forschung. In den USA galt z. B. über lange Zeit das Ideal, dass die Angehörigen der Führungsschicht „WASP“ sein mussten (WASP = weiß, angelsächsisch, protestantisch). John F. Kennedy war – als Katholik – der erste US-Präsident, der nicht dieser Gruppe zugehörte.
Darüber hinaus werden die Privilegien untersucht, die mit der Zugehörigkeit zu einer Elite verbunden sind.
Ein Wechsel der Elite kann vergleichsweise unauffällig oder revolutionär erfolgen. Als einer der ersten hat dies der Soziologe Vilfredo Pareto erkannt und mit reichhaltigem historischen Anschauungsmaterial eine Theorie des Kreislaufs der Eliten gebildet. Er unterscheidet zunächst statisch zwischen der Elite und der Reserve-Elite. Dynamik erlangt seine Theorie in der Zeitdimension. In der Reserve-Elite schlummert das Potenzial zur neuerlichen Elitebildung. Die der herrschenden Elite gegenüber stehende Gegenelite vermag durch Mobilisierung der Masse jene abzulösen. Die Masse selbst kommt nie an die Macht, sondern eine neue Elite herrscht. Sowohl die herrschende Elite als auch die nicht-herrschende Gegenelite bedienen sich Pareto zufolge Erfolg versprechender Derivationen, d.h. "politischer Formeln" (G. Mosca), um die indolente Masse zu täuschen und zu ideologisieren.
In Anlehnung an Niccolò Machiavelli konstruiert Pareto mit den „Löwen“ und „Füchsen“ zwei extreme Typen der Macht, die sich im Kampf um die Führung gegenüber stehen. Die personelle, intellektuelle und moralische Zusammensetzung der Elite ist ein Indikator für das Niveau sozialer Integration. Seiner Theorie zufolge unterliegen allem gesellschaftlichen Handeln so genannte „Residuen“; in der Elitebildung dominieren vor allem deren zwei: entweder gesellschaftsweit rigide und die Gewalt nicht scheuende, persistente Strukturen (das Residuum der „Persistenz der Aggregate“ - Elite der Löwen) oder liberale Einstellungen, die kombinatorische Freiheitsgrade („Instinkt der Kombinationen“ - Elite der Füchse) zulassen und fördern.
Gaetano Mosca und Robert Michels haben als Zeitgenossen Paretos die Unvermeidbarkeit der Herausbildung einer „politischen Klasse“ (Mosca) bzw. einer innerorganisatorischen „Oligarchie“ (Michels) dargestellt. Aus ihren Überlegungen folgt, dass es auch in demokratisch verfassten Systemen notwendig zur Elitebildung kommt.
Spuren hat der Elitebegriff auch in der amerikanischen Soziologie hinterlassen. Die strukturfunktionalistische Theorie der Schule um Talcott Parsons betont die Leistungen, die von Personen in wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen, militärischen, künstlerisch-intellektuellen usw. Spitzenpositionen für die Gesellschaft erbracht werden. Entsprechend verwendet der Strukturfunktionalismus das Konzept der „Funktionseliten“, die jeweils „ihre“ Institutionen in idealer Weise repräsentieren. Dem Gemeinwohl verpflichtet vereinigen sich die gesellschaftlichen Leistungsträger zu einer „strategischen Elite“, die Konsens in zentralen Fragen des Lebens und Überlebens herstellen soll.
Theoretiker der „Machtelite“ wie C. Wright Mills kritisieren diesen soziologischen sowie den politologischen pluralismustheoretischen Ansatz und werfen den Strukturfunktionalisten vor, ein allzu harmonisches Bild der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu zeichnen. In Wirklichkeit steht einer manipulierten Masse ein omnipotenter „Militärisch-Industrieller-Komplex“ gegenüber, der seine Herrschaftsinteressen in einem Regime der „organisierten Unverantwortlichkeit“ durchzusetzen weiß. Der Nicht-Entscheidungsansatz in der amerikanischen Politologie erweitert diese Perspektive dadurch, dass anhand von Fallbeispielen aufgezeigt wird, dass die Elite bestimmte Themen, etwa ökologische Probleme und Minderheitenfragen, durch bewusstes Unterlassen gar nicht erst zum Gegenstand der politischen Agenda werden lässt.
Zitate
- Elite sind diejenigen, die bei dem höchsten Einkommen die geringsten Steuern zahlen. (Carl Schmitt)
- Elite sind wir. (Carl Schmitts Tochter Anima auf die Frage ihres Vaters, was Elite sei.)
- „Die juristische Form, welche sich eine nationale Gemeinschaft gibt, mag so demokratisch, ja kommunistisch sein wie immer, ihre urwüchsige, präjuridische Verfassung besteht dennoch in der Wechselwirkung zwischen einer Elite und einer Masse.“ – José Ortega y Gasset (Aufbau und Zerfall Spaniens)
- Ja, es ist mithilfe von Netzwerken möglich, in bestimmte Positionen zu kommen, ohne die dafür nötige Leistung zu erbringen. Das funktioniert aber vor allem in Ländern, in denen derlei Elite-Netzwerke seit langem bestehen. Die Musterbeispiele sind Frankreich mit den Grandes Ecoles, die USA mit der Ivy League oder Großbritannien mit den Board and Public Schools. - Michael Hartmann, Soziologe und Elitenforscher
- Die Elite der Wissensgesellschaft wird weder aus pubertierenden Cyberjunkies noch kalifornischen Dotcom-Milliardären bestehen, sondern aus all denen, die durch kritischen Umgang mit den neuen digitalen Medien zu ihren mündigen Nutzern geworden sind: die neuen Bildungsbürger. Malte Herwig (Eliten in einer egalitären Welt)
- Ich habe schon von Elite gesprochen, als das andere noch ganz schlimm fanden. Wir brauchen Eliten. Wer sie gezielt fördern will, muss sich um exzellente Bedingungen für exzellente Leute kümmern. - (Annette Schavan, CDU, im August 2005 gegenüber dem SPIEGEL)
- Die Fähigkeit zu unterscheiden und auszuwählen ist eines der Merkmale von Eliten, wie die Beispiele Rechtschreibreform und neue Medien gezeigt haben. In diesem Sinne ist Elitehandeln die tätige Aufklärung des autonomen Subjekts, das selbstbewusste Navigieren durch eine Vielfalt von Informationen und Konventionen - Malte Herwig (Eliten in einer egalitären Welt)
Literatur
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Siehe auch
- Aristokratie, Oligarchie, Meritokratie, Militärjunta
- Adel, Gelehrtenfamilie, Gründerfamilie, Oberschicht, Kader, Akademiker, Intellektuelle, Bildungsbürgertum
- Qualifikation, Eliteuniversität, Kaderschmiede
- Hochbegabung, Begabung, Intelligenz
- Systemtheorie, Gleichheit
- Leetspeak