Hanafiten

Die Hanafiten (arabisch الحنفية) sind eine der vier Rechtsschulen (Madhahib) des sunnitischen Islams. Sie gehen zurück auf Abu Hanifa an-Nu'man ibn Thabit (auch al-Imâm al-A'zam (der größte Imâm) genannt), vor allem aber auf dessen Schüler Abu Yusuf und ash-Shaibani.
Die hanafitische Rechtsschule ist seit dem Ende der Zeit der Umayyaden im sunnitischen Islam vorherrschend: Sie ist die am weitesten verbreitete Rechtsschule, der etwa die Hälfte der Sunniten folgen.[1] Im Regelfall sind sie im Theologie Bereich befolger der Maturidiyya Strömung.[2]
Geschichte und Verbreitung

Die hanafitische Rechtsschule hatte sich zunächst im Gebiet des Irak – dem Wirkungsbereich Abu Hanifas – verbreitet, dann aber auch im Gebiet des alten Syriens (as-Sham genannt), welches sich weiter als das heutige Syrien erstreckte. Seit der Zeit der Seldschuken wurde die hanafitische Rechtsschule in den syrischen und anatolischen Gebieten staatlich bevorzugt. Da die malikitische Rechtsschule in diesen Gebieten gar nicht und die sonstigen Rechtsschulen nicht stark vertreten waren, gab diese Unterstützung den Hanafiten starken Auftrieb und sorgte für eine weite Verbreitung unter der Bevölkerung.
Im Osmanischen Reich schließlich wurde die hanafitische Rechtsschule zur „Staatsrechtsschule“ erhoben, das heißt zu derjenigen Rechtsschule, auf die alles in Staat und Gesellschaft abgestimmt war. Die hanafitische Rechtsschule ist daher heute in allen Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches verbreitet. Die Mehrheit stellt sie unter all jenen Sunniten, die zu den Turkvölkern gehören (einschließlich der Türken selbst), sowie unter den Sunniten des asiatischen Festlandes östlich des Irans, also in Afghanistan, Pakistan, Turkmenistan, Indien, China, Usbekistan, Kasachstan, sowie in Südafrika. Die sunnitische Minderheit im Iran ist ebenfalls größtenteils hanafitisch.
Ebenfalls die Mehrheit stellen sie unter den Sunniten des Irak, Jordanien und Libanon. Größere Hanefitische Minderheiten gibt es in Syrien, Ägypten und in Palästina. Auch in den europäischen Gebieten, wo seit der Zeit des Osmanischen Reiches Muslime leben, ist die hanafitische Rechtsschule vorherrschend, das heißt in den Balkangebieten, speziell Bosnien, Sandžak, Albanien, Kosovo, Mazedonien, Rumänien, Serbien, Bulgarien und Griechenland.[3]
Quellen und Methoden der Rechtsfindung
Die wichtigsten Quellen, die von der hanafitischen Rechtsschule anerkannt werden, sind (in absteigender Reihenfolge): Koran, Sunna, Idschma, Qiyas und der Ra'y (Istihsan)
Dabei standen sich Qiyas und Istihsan in der Frühform der Hanafiyya als zwei gegensätzliche Lösungen gegenüber, von denen der Mudschtahid diejenige auswählt, die ihm aufgrund seines Wissens und seiner Erfahrung als besser erscheint:
Qiyas ist hierbei der Analogieschluss, der die Lösung für ein Rechtsproblem aus der Behandlung vergleichbarer Probleme in Koran, Sunna oder Idschma herleitet.
Istihsan (wörtlich: etwas für gut erachten) ist hingegen die Ablehnung eines neuen Qiyas. Falls der Mudschtahid bei der Erarbeitung eines möglichen Qiyas feststellt, dass dieser im Endergebnis nicht dem Sinn der Sharia entspricht oder dass der mögliche Qiyas keine Verbesserung der Rechts bedeutet, so ersetzt er den möglichen Qiyas durch einen freien Ra'y.
Die starke Betonung von Qiyas und Istihsan in den frühen Jahren der Hanafiten war deshalb so wichtig, weil in der Zeit Abu Hanifas zu viele schwache und gefälschte Hadithe in Umlauf waren, und keine wirkliche Systematik zur Bestimmung der richtigen (sahih) unter ihnen vorhanden war.
Dies führte dazu, dass die Rechtsschule zu Lebzeiten Abu Hanifas mehr Quellen bemüht hat als nach seinem Tod. Nach seinem Tod hatten Abu Hanifas Hauptschüler, die Gelehrten Abu Yusuf und Muhammad asch-Schaybani (die zwei Imame) maßgeblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Rechtsschule. Ein weiterer einflussreicher Schüler Abu Hanifas war Zufar ibn Al-Hudhayl.[4]
Anders als Abu Hanifa gingen Abu Yusuf und Muhammad asch-Schaybani stärker auf die Hadith-Grundlage ein. Dies wurde dadurch ermöglicht, dass es mittlerweile einen Katalog als „echt“ (sahih) anerkannter Hadiths gab. Auf dieser Grundlage überarbeiteten und ersetzten sie viele Entscheidungen Abu Hanifas. Die heutige hanafitische Rechtsschule folgt daher in vielen Fragen der Meinung Abu Yusuf und asch-Schaybani und nicht der ursprünglichen Meinung Abu Hanifas. [5]
So wird heute der Istihsan nicht mehr in der Form, wie Abu Hanifa ihn verwendete, eingesetzt. Auch wird der Ra'y (die freie Meinungsäußerung des Mudschtahid, die nicht von direkten Belegen aus Rechtsquellen abhängig ist) heutzutage sehr selten angewandt.

Auslegung des Islamsichen Gebietes
Als einzige der vier sunnitischen Rechtsschulen legt die hanafitische fest, unter welchen Umständen ein zum Haus des Krieges (Dār al-Harb) zugehöriges Gebiet zum Haus des Islam (Dār al-Islām oder: Dār as-Salām) zugehörig wird und umgekehrt. Der Begriff taucht nicht im Koran auf, sondern geht auf Abu Hanifa zurück[6]
Zum Haus des Islam wird nach allgemein anerkannten Regelungen ein Gebiet, wenn es sich unter islamischer Herrschaft befindet und das islamische Recht, die Scharia, dort angewandt wird. In Bezug darauf, wann ein zuvor dem Haus des Islam zugehöriges Gebiet als Teil des Hauses des Krieges zu gelten hat, hat Abu Hanifa folgende Bedingungen festgesetzt, die bis heute in der Rechtsschule dominieren:
- Das Recht der Ungläubigen wird angewandt, islamische Gesetze verlieren ihre Geltung;
- Das jeweilige Gebiet grenzt an das Haus des Krieges;
- Die ursprüngliche Schutzgarantie für Leben und Besitz der Muslime und Dhimmis wird aufgehoben, ungeachtet der Tatsache, ob der neue Herrscher ihnen Schutz gewährt oder nicht.
Diese Bedingungen können erfüllt werden, wenn ein Teil des Hauses des Islam erobert wird oder eine Gruppe von Dhimmis ihren Vertrag mit den Muslimen aufkündigt.[7]
Das Prinzip wurde in den Hanefitisch geprägten Staatsgebilden der Abbasiden, Mamluken, Seldschuken, im Mogulreich speziell unter Aurangzeb und unter den Osmanen angewandt.
Das Osmanische Reich dass von Beginn an ein vornehmlich militärisch geprägtes Staatswesen war, mit der Ausrichtung, das „Reich des Islam“ (Dar al-Islam) durch Eroberung von Territorien abweichenden Glaubens (Dār al-Harb) zu erweitern, handelte und rechtfertigte nach diesem Prinzip bis in das Tanzimat.[8]
Anerkennung als Religionsgemeinschaft in Österreich
Die Hanafiten waren in Österreich aufgrund des Gesetzes vom 15. Juli 1912 betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams nach hanafitischem Ritus als Religionsgesellschaft (RGBl. Nr. 159/1912) gesetzlich anerkannt. Damit wurde der hanafitische Islam in Österreich auf eine Stufe mit den christlichen Kirchen und den jüdischen Gemeinden gestellt. Das Gesetz trat am 10. August 1912 in Kraft. Das Islamgesetz bekräftigt und verstärkt die seit 1874 bestehende staatliche Anerkennung des Islams als Religion durch Österreich. In Europa war Österreich damals führend, was die Beziehung zum Islam betraf.
Kaiser Franz Joseph zog mit dem Islamgesetz die Konsequenz aus seiner Expansionspolitik: 1878 hatte sich die Habsburger-Monarchie Bosnien-Herzegowina faktisch einverleibt (formelle Annexion erst 1908) – und dadurch eine große Zahl von Muslimen zu Bürgern der Monarchie gemacht.
Kaiser Franz Joseph stimmte auch dem Bau einer Moschee in Wien zu und spendete 250.000 Goldkronen. Wiens Bürgermeister Karl Lueger stellte dafür ein Grundstück am Laaer Berg bereit. Nur der Erste Weltkrieg verhinderte den Bau der Moschee. Nach dem Zerfall der Donaumonarchie verblieben nur wenige Muslime in Österreich (weniger als 1.000).
Das Islamgesetz gilt in Österreich auch nach dem Ersten Weltkrieg weiter. Mit Wirkung vom 24. März 1988 wurde im Islamgesetz die Wortfolge „nach hanafitischem Ritus“ in Artikel 1 und in den Paragraphen 5 und 6 als verfassungswidrig aufgehoben und die Geltung des Gesetzes somit auf alle Muslime erweitert. Das Gesetz heißt seitdem im Langtitel „Gesetz vom 15. Juli 1912, betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams als Religionsgesellschaft“ (vgl. BGBl. Nr. 164/1988).
Liste bekannter Hanefitischer Gelehrter
- Muhammad ibn Abidin; Syrien
- Muhammad Tahir al-Qadri; Pakistan
- Muhammad Abu Zahra; Indien
- Ashraf Ali Thanwi; Indien
- Husain Ahmad Madani; Indien
- Šāh Walīyullāh ad-Dihlawī; Indien
- Muhammad Zakariya al-Kandahlawi; Indien
- Abu Mansur al-Maturidi; Usbekistan
- Ömer Nasuhi Bilmen; Türkei
- Mustafa Sabri; Türkei & Ägypten
Siehe auch
- Fiqh (islamische Rechtswissenschaft)
- Dar ul-Ulum Deoband
- Abu-Hanifa-Moschee
Literatur
- Eherecht, Familienrecht und Erbrecht der Mohamedaner nach dem hanefitischen Ritus. Wien. Aus der kaiserlich-königlichen Hof- und Staatsdruckerei. 1883. 8°.IV, 194 pp.
- Muhammad Abu Zahra Abu Hanifa, Diyanet Publikation 1999, ISBN 975-19-1869-3
- Nicola Melis, Trattato sulla guerra. Il Kitāb al-ğihād di Molla Hüsrev, Aipsa, Cagliari 2002, 13-9788887636406.
Weblinks
Fußnoten
- ↑ Das große Handbuch des Islam (Neuübersetzung des "Ilmihal" von Ö. N. Bilmen). Astec, (Bochum 2012), ISBN 978-605-8752-51-1.
- ↑ mb-soft.com:Maturidi
- ↑ Das große Handbuch des Islam (Neuübersetzung des "Ilmihal" von Ö. N. Bilmen). Astec, (Bochum 2012), ISBN 978-605-8752-51-1.
- ↑ Muhammad Abu Zahra: Abu Hanifa, Publikation 1999, ISBN 975-19-1869-3
- ↑ Ahmad A. Reidegeld: Handbuch Islam, Spohr-Verlag 2005 (ISBN 3-927606-28-6)
- ↑ "Dar Al-Islam And Dar Al-Harb: Its Definition and Significance" von Ahmed Khalil, oberes Drittel
- ↑ Rudolph Peters: Islam and Colonialism. The doctrine of Jihad in Modern History. Mouton Publishers, 1979. S. 12
- ↑ Alan Palmer: Verfall und Untergang des Osmanischen Reiches. Heyne, München 1994 (engl. Original: London 1992), S. 1–448 S.51ff