Urchristentum
Als Urchristentum bezeichnet man die Entstehungszeit des Christentums, die vom Tod des Jesus von Nazaret mindestens bis zur Verschriftung der synoptischen Evangelien um etwa 100, maximal bis zur Kanonisierung des Neuen Testaments um etwa 200 reichte.
Die Konsolidierungsphase bis 100 umfasst in etwa jenen Zeitraum, den auch die Apostelgeschichte des Lukas - die erste Kirchengeschichte - darstellt. Sie ist jedoch nicht identisch mit der Geschichte der Jerusalemer Urgemeinde, da diese nur einen, wenn auch besonders hervorgehobenen Teil des Urchristentums bildete.
Dieses verstand sich anfangs noch nicht als eigene Religion, sondern als ein Teil des Judentums. Es wurde auch von anderen jüdischen Gruppen und im Römischen Reich als jüdische Sekte wahrgenommen. Jedoch begriffen auch die ersten Judenchristen seit etwa 48 die Völkermission als Aufgabe aller Christen. Denn ihre Verkündigung war auf weltweite Ausdehnung angelegt. Das Urchristentum umfasste daher bald nicht nur die Gemeinden in Palästina, sondern auch im gesamten östlichen Mittelmeerraum bis hin zu Rom. Mit dem Ende der Urgemeinde um 135 war auch seine Trennung vom Judentum besiegelt.
Viele christlichen Konfessionen und Sekten beanspruchen die wahre Kenntnis des Urchristentums für sich, da sie daraus ihr Selbstverständnis im Gegenüber zu anderen christlichen Richtungen ableiten. Dieser Artikel beschränkt sich jedoch darauf, den historischen Befund möglichst objektiv darzustellen.
Quellen
Das Wissen über das Urchristentum stammt im Wesentlichen aus dem Neuen Testament (NT), hier vor allem aus den Gemeindebriefen des Paulus von Tarsus, den drei synoptischen Evangelien und der Apostelgeschichte des Lukas. Weitere Briefe, das später entstandene Johannesevangelium und die Offenbarung des Johannes spiegeln bereits ein späteres Stadium der Entwicklung des Christentums, als dieses vom römischen Staat als eigene Religion verfolgt wurde.
Das NT wurde durch die Kanonbildung im zweiten Jahrhundert zur Urkunde des Urchristentums. Es beansprucht und behielt bis heute normativen Charakter für die meisten christlichen Richtungen der Folgezeit. Jedoch sind von keiner NT-Schrift außer den echten Paulusbriefen Autor und Umstände der Abfassung zweifelsfrei bekannt. Die historischen Daten lassen sich meist nur indirekt aus diesen Schriften selber erschließen. Hinzu kommen eine Reihe außerbiblischer frühchristlicher Schriften, darunter die sogenannten "Apokryphen". Gemeinsam geben sie Aufschluss über die innere und äußere Entwicklung dieser neuen Weltreligion in der Spätantike.
Zu den urchristlichen Schriften außerhalb des NT gehören die Werke der sogenannten "Apostolischen Väter", die fließend in die Patristik übergehen:
- Erster Clemensbrief: ein Brief der Gemeinde Roms an die Gemeinde in Korinth, entstanden etwa zeitgleich mit dem 1. Petrusbrief (ca. 95);
- die Didache: bestehend aus einem Katechismus (Morallehre), einer Gottesdienstordnung und einer "kleinen Apokalypse" (ca. 100-110);
- die Ignatiusbriefe: verfasst vom Bischof Ignatius von Antiochia an seine Gemeinden auf seinem Weg zum Martyrium in der Zirkusarena (ca. 110);
- der Barnabasbrief: ein antijüdischer Traktat eines unbekannten Autoren zur allegorischen Auslegung des Alten Testaments (zwischen 70-140);
- Zweiter Clemensbrief: die älteste erhaltene christliche Predigt, die sich auf Worte Jesu zitiert, die nicht im NT enthalten sind. Autor und Zeit sind unbekannt.
- der Hirt des Hermas: eine Apokalypse ähnlich der Offenbarung des Johannes, die Visionen, Gebote und Gleichnisse enthält (ca. 150 in Rom verfasst).
Sekundäre Quellen sind auch die Notizen des Hegesippus (ca. 180), die nur durch Zitate bei Eusebius von Cäsarea bekannt sind, sowie Notizen über die Entstehung der Evangelien bei Papias von Hierapolis (um 150), die jedoch heute als weitestgehend unhistorisch eingestuft werden.
Zeitrahmen und Datierungen
Das NT zeigt - anders als andere zeitgenössische Quellen - kein Interesse an exakten Zeitangaben. Das einzige Fixdatum, das es bietet, ist das 15. Regierungsjahr des Kaisers Tiberius, in dem Johannes der Täufer auftrat, also das Jahr 28 (Lk 3,1). Der Todestag Jesu soll nach den drei älteren Evangelien an einem 15. Nisan vor einem Passahfest unter Pontius Pilatus geschehen sein: Das macht die Jahre 30 oder 33 wahrscheinlich. Demnach gingen der Bildung der Urgemeinde zwei bis drei Jahre einer Wanderschaft Jesu mit seinen Jüngern in Galiläa und Judäa voraus. Diese irdische Wirksamkeit Jesu zählt man gewöhnlich noch nicht zum Urchristentum, sondern zu seinen Voraussetzungen.
Seine folgende Geschichte fällt in die Regierungszeit der römischen Kaiser Tiberius und Claudius sowie ihrer judäischen Statthalter Felix, Gallio und Festus, die das NT nennt. Anhand dieser und weiterer Hinweise lassen sich einige Daten ungefähr bestimmen:
- Um 32 oder 34 wurde der hellenistische Christ Stephanus in Jerusalem hingerichtet und ein Teil der Urgemeinde nach Samaria vertrieben.
- Zwischen 32 und 35 erfuhr Paulus seine Bekehrung. Zwei volle Jahre später besuchte er erstmals die Jerusalemer Urgemeinde (Gal 1, 11-18).
- Um 44 ließ Herodes Agrippa I. den Zebedaiden Jakobus hinrichten (Apg 12,2).
- Zwischen 44 und 48 fand das Apostelkonzil statt (Gal 2,1; Apg 15).
- Um 49 vertrieb Kaiser Claudius mit den Juden auch eine christliche Gemeinde aus Rom (Suetonnotiz in Verbindung mit Apg 18,2).
- Danach bereiste Paulus seine Gemeinden in Griechenland und hielt sich ab 50 in Korinth auf, wo er um 52 dem Statthalter Gallio vorgeführt wurde (Apg 18,12).
- Zwischen 52 und 56 befand er sich in Ephesus.
- Um 56 wurde er in Jerusalem gefangengenommen, für zwei Jahre in Cäsarea Philippi, danach in Rom nochmals zwei Jahre inhaftiert (ca. 60).
Hinzu kommen außerbiblische Datenangaben:
- Nach dem Testimonium Flavianum und Notizen Hegesipps wurde Jakobus der Gerechte, Jesu Bruder und späterer Leiter der Urgemeinde, um 62 vom Hohenpriester Ananos II. hingerichtet.
- Nach der Legende des 1. Clemensbriefs starb Paulus bei der Christenverfolgung durch Nero in Rom um 64.
Der Ursprung: Die Auferstehungserfahrungen
Das Christentum begann, als die ersten jüdischen Begleiter Jesu ihn "Messias" (griechisch "Christos") nannten. Dies soll nach Mk 8,27 erstmals auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem erfolgt sein. Da die Evangelien jedoch alle von Christen der 2. Generation verfasst wurden, ist diese Angabe ebenso fraglich wie der Anlass dazu. Ob und in welchem Sinn Jesus sich selbst als Messias sah und bezeichnete, ist historisch umstritten.
Die Kreuzigung Jesu war für Juden, die sich von ihm eine innergeschichtliche Befreiung erhofft hatten (Lk 24, 21), eine Katastrophe. Dies wie auch die Gefahr, als Anhänger eines Zelotenführers mit ihm hingerichtet zu werden, macht ihre Flucht plausibel (Mk 14,50). Obwohl die Texte dies nicht ausdrücklich feststellen, ist ihre Rückkehr in ihre Heimat Galiläa spätetens nach Jesu Hinrichtung wahrscheinlich. Damit dürfte die Gemeinschaft, die Jesus unter ihnen gestiftet hatte, beendet gewesen sein.
Dass es dennoch bald darauf in der Hauptstadt zur öffentlichen Verkündigung kam, Jesus sei der von Gott zur Rettung aller Menschen auferweckte Kyrios Christus (Apg 2,36), ist historisch nur schwer erklärbar. Denn die ersten Anhänger Jesu waren allesamt Juden, für die Jesu Kreuzigung ein Gottesurteil über seinen Anspruch bedeutete: Ein Gehängter galt als endgültig "verworfen" und aus Gottes Volk verstoßen, seine Gegner hatten Recht behalten. Zudem war es ihnen traditionell nach dem 1. Gebot unmöglich, einen Menschen als Gott zu verehren.
Alle Urchristen waren jedoch nach dem NT davon überzeugt, dass Jesus selbst ihren Glauben an ihn bewirkte, indem er sich seinen Jüngern nach seinem Tod als (von Gott) "Auferweckter" offenbart habe. Darauf beziehen sich die ältesten Credoformeln des NT, die nur diese eine Aussage variabel formulieren:
- Er ist auferstanden am dritten Tag nach der Schrift... (1. Kor 15,4)
- Der Kyrios ist wirklich auferstanden und dem Simon erschienen... (Lk 24, 34)
- Er ist auferstanden, er ist nicht hier. (Mk 16,6)
"Auferstehung" bzw. "Auferweckung" meint im jüdischen Kontext kein geistiges Weiterleben nach dem Tod, sondern eine radikale, leibhafte Neuschöpfung des Toten. Zwar gab es diesen Glauben damals im Judentum auch sonst: Aber noch nie war dergleichen von einem nach jüdischem Gesetz Verurteilten und durch Nichtjuden Gekreuzigten berichtet worden. Daher gehen auch nichtchristliche Historiker meist von irgendeiner realen Erfahrung der ersten Judenchristen aus, die sie zu dieser Überzeugung brachte.
Diese betraf auch Jakobus, Jesu Bruder, der ihm zu Lebzeiten nicht gefolgt war, und erbitterte Gegner wie Paulus von Tarsus, der weder sein Auftreten noch seinen Tod erlebt hatte. Zudem erstrecken sich Berichte über Visionen vom auferstandenen Jesus über einen längeren Zeitraum: Paulus berichtet von "500 Brüdern", die eine Kollektivvision erfahren hatten und teilweise noch lebten, so dass er sie den Korinthern um 55 als befragbare Augenzeugen präsentierte (1. Kor 15,6).
Solche Visionen hatten nur spätere Christen: Sie ließen sich also nicht "neutral" von außen beobachten, sondern veränderten die ganze weitere Lebensorientierung der Betroffenen. Daraus erklärt sich auch die Energie, mit der die erste Christengeneration missionierte, Gemeinden gründete und sich auf das erwartete baldige Weltende einstellte.
Wem Jesus als Auferstandener erschien, ist nach den NT-Berichten jedoch nicht eindeutig. Nach einer alten Augenzeugenliste der Urgemeinde erschien er zuerst dem Petrus, danach den versammelten zwölf Jüngern (1. Kor 15, 5f.). Nach dem Johannesevangelium (Jh 20,11-18) dagegen erschien er zuerst der Maria Magdalena; nach Lukas (Lk 24, 13-35) zwei unbekannten Jüngern. Keins der Evangelien bestätigt die genannte Kollektivvision. Der als unecht angesehene Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,9-20) ist ein späterer Harmonisierungsversuch dieser Widersprüche.
In jedem Fall spielten Petrus und einige der Frauen aus Galiläa eine wichtige Rolle dabei, die übrigen Anhänger wieder zusammenzurufen und nach Jerusalem zurückzuholen, um dort eine christliche Gemeinde zu gründen. Deren Leiter sollen nach der lukanischen Darstellung mit dem Kreis der zwölf Erstberufenen identisch gewesen sein. Ihre Autorität führen alle Evangelien auf eine gemeinsame Vision des Auferstandenen zurück, bei der sie ihren universalen Missionsauftrag erhalten haben sollen. Wo diese Vision stattfand, ist ebenfalls widersprüchlich überliefert (Mt/Mk: in Galiläa; Lk/Jh: in Jerusalem).
Der Passionsbericht
Die Auferstehungserfahrung war der Ausgangspunkt der urchristlichen Lehre. Sie stellte seine Anhänger zunächst vor die Frage nach dem Sinn des Todes Jesu und eröffnete ihnen eine neue Perspektive, diesen zu verstehen. Mithilfe der Erinnerung an Jesu Eigenverkündigung wurde seine Kreuzigung als stellvertretender Sühnetod, als ultimative Übernahme des Endgerichts Gottes und gnädige Einladung zur Umkehr gedeutet. Deshalb sind Kreuz und Auferstehung (Auferweckung) in allen urchristlichen Glaubensbekenntnissen eng miteinander verbunden.
Von diesem Kristallisationskern aus wurde bald die Notwendigkeit empfunden, auch das vorherige Leben Jesu auf das zentrale Heilsereignis, seinen Tod und seine Auferstehung, hin nachzuerzählen. So entstand wohl schon im ersten Jahrzehnt der vormarkinische Passionsbericht in Jerusalem, den Markus in sein Evangelium, das vermutlich das älteste darstellt, einbaute und damit den weiteren Evangelien ihre Grundstruktur vorgab.
Urchristliche Gemeinden in Galiläa und Syrien
Unabhängig davon müssen in Galiläa ebenfalls sehr früh christliche Gemeinden existiert haben. So fand man in Kafarnaum eine frühchristliche Pilgerstätte, die sich dort wohl im ehemaligen Wohnhaus des Petrus traf. Die Visionen, von denen Matthäus und Markus erwähnen, fanden allesamt in Galiläa statt; das älteste Evangelium nach Markus wendet sich an palästinische Christen außerhalb Jerusalems.
Galiläische Jesusanhänger sammelten auch jene Reden, Streitgespräche und Gleichnisse Jesu, die erst mündlich, dann schriftlich tradiert wurden und eine weitere Logienquelle für die Evangelien bildeten.
In Damaskus soll schon zur Zeit der Bekehrung des Paulus (um 32-35) eine Gemeinde existiert haben. Sie kann dort im Zuge der Verfolgung der Jerusalemer Gemeinde nach der Hinrichtung des Urchristen Stephanus durch Flucht einiger seiner Anhänger entstanden sein. Aus Syrien stammt wahrscheinlich auch das etwa zeitgleich mit der schriftlichen Logienquelle entstandene apokryphe Thomasevangelium (um 50).
Der Missionsauftrag
Die Aufgabe der Jünger und Apostel war es nun, nicht nur die Lehren des Wanderpredigers aus Nazareth, sondern auch die »frohe Botschaft« (Evangelium) von seiner Auferstehung zu verkünden. Die erste Gemeinde, die sich diesem Auftrag zur Mission verpflichtet sah, war jene in Jerusalem. Hier bildeten die so genannten »Säulen« Petrus, Jakobus und Johannes (vgl. Gal 2,9; Mk 5,37 u.a.) das Zentrum der jüdischen Bewegung. Ihr erster Sprecher wurde Petrus, der später teilweise von Jakobus abgelöst wurde. Petrus selbst gelangte über Syrien nach Kleinasien, wo in Antiochien eine zweite Gemeinde entstanden war, und schließlich nach Rom, als der Einfluss des Paulus und des Johannes in der Hauptstadt des römischen Reiches zunahm.
Sowohl in der Jerusalemer Urgemeinde, als auch den hinzukommenden Gemeinden und Zirkeln war die Erwartung der Wiederkunft (Parusie) Jesu bestimmend, den seine Anhänger jetzt im jüdischen Sinne als Messias sahen. Auch dürften alle frühen Gemeinden sich als Teil des Judentums betrachtet haben, wie die Übernahme des mosaischen Gesetzes und der Tempeldienst der Jerusalemer veranschaulichen. Daneben gab es aber auch griechisch sprechende Judenchristen, die sogenannten Hellenisten, die sich kritisch zum Tempel äußerten, und wohl nicht zuletzt deshalb von den jüdischen Machthabern verfolgt wurden. Selbst innerhalb der christlichen Gemeinde bekamen sie wirtschaftliche Probleme, da sie keinen Zugang hatten zur Armenversorgung des Tempels (dies ist wohl der Hintergrund der Wahl der sieben Diakone).
Das Apostelkonzil
Auf dem Aposteltreffen 43/44 setzte Paulus gegen den anfänglichen Widerstand der Jerusalemer durch, auf die Beschneidung der neu hinzukommenden Christen zu verzichten (vgl. Apg 15,1-35 ; Gal 2, 1-10). Damit war die Abkehr von den Gesetzen Moses und somit die Abtrennung des gesetzestreuen, traditionellen Judentums vom Judenchristentum ins Werk gesetzt. Eine neue Religion, das Christentum, entstand. Während die Jerusalemer Urgemeinde selbst, die weiterhin judenchristlich bestimmt blieb, nun an Bedeutung verlor, eröffnete sich Paulus den Zugang zur römisch-hellenistischen Welt. Von Antiochien aus begann (wahrscheinlich mit einer Zwischenstufe der Bekehrung von Diaspora-Juden) die so genannte Heidenmission (Gal 2,9), die der neuen Lehre den gesamten Mittelmeerraum eröffnen und Paulus selbst zur wichtigsten Führungsgestalt des jungen Christentums machen sollte.
Der jüdische Aufstand von 66 fand so schon ohne Beteiligung der Christen statt. Die Urgemeinde, die in das ostjordanische Pella fliehen musste, wurde zunehmend bedeutungslos. Schon im 2. Jahrhundert galt sie als Sekte des Christentums. Im Bar Kochba Aufstand, spätestens aber mit der Ausbreitung des Islam dürften deren letzte Reste untergegangen sein.
Um so sichtbarer wurden die kleinen (heiden)christlichen Gemeinden. Von ihren Problemen und Streitigkeiten berichten die kanonisierten wie auch die nicht kanonisierten Briefe der ersten Christen. Paulus selbst schrieb mit die ersten dieser Briefe, die schon auf die Zeit von 50 bis 64 datieren. Klemens von Rom, der 99 dem Märtyrertod starb, schrieb mit die ersten Briefe, die nicht mehr in das Corpus des Neuen Testaments aufgenommen wurden. Innerhalb dieser Zeitspanne verschwanden dann auch zunehmend die Apostel, Propheten und Evangelisten (1 Clem 37,3) als Würdenträger und Autoritäten. Und auch, wenn Clemens noch forderte: »Haltet euch an die Heilgen« (1 Clem 46,2), wurde bereits von Paulus vor so genannten »falschen Heiligen« gewarnt (vgl. Eph 7,1; Apg 15,1).
Die Praxis der brüderlichen Belehrung (Mt 18 ,15-18) verschob sich so auf die »Erstlinge«, die Erstgetauften einer Gemeinde, und schließlich die ersten sich herausbildenden Ämter: Episkopen (Bischöfe) (vgl. Eph 4,1), Presbyter und Diakone ersetzten die charismatischen Ämter und konsoldierten die weiterhin autonomen Gemeinden. Dabei war in dem Versuch, die Einmaligkeit Jesu in der irdischen Hierarchie abzubilden, jeweils nur ein Bischof vorzufinden. Diesem monarchanischen Bischof unterstanden zur Hilfe bei der Liturgie die (oft an der Zahl der Apostel orientierten: zwölf) Presbyter. Ein Presbyter hier noch ein Ehrenamt und wurde erst später mit eigenen pfarrähnlichen Verpflichtungen versehen. Die praktischen Arbeiten oblagen dann den Diakonen, von denen eine bestimmte Anzahl nicht bezeugt ist.
Die Herausarbeitung von Hierarchie und Gemeindestruktur erwies sich als um so notwendiger, da sich die Erwartung vom nahen Ende der Welt und der Widerkunft Christi (Parusie), von denen die Jünger noch geprägt schienen, nicht erfüllte. Die Phase der sog. »Parusieverzögerung« wurde nun aber nicht als Ende der eschatologischen Perspektive gesehen, sondern als eine verlängerte Zeit für die Vorbereitungen verstanden. Die gepflegten Werte sollten dies in »Tat und Wahrheit« belegen (1 Joh 3,18): Der Dienst an der und für die Gemeinde wurde hervorgehoben wie auch die Gastfreundschaft, das Beten und Fasten. Das Liebesmahl (Joh 13,34) und der Liebesdienst (Agape) gewann so erweiterte Bedeutung.
Gerade in dieser Kombination von asketischen Vorschriften, die sich auf die Christen selbst bezogen und auch vor deren eigenem Tod (Martyrium) nicht brachen und der praktischen Nächstenliebe, die sich am Dienst an den Armen, Kranken und Verlassenen, den Witwen und Waisen und den Sklaven vollzog, bereiteten sich nicht nur die Anhänger der neuen Religion auf das nahe Ende vor, sondern gewann diese Gemeinschaft auch nach außen ihre enorme Anziehungskraft. Schon Paulus hatte dies im Ansatz erkannt und daher für die Anfänge einer lokalen Mission nicht die größeren Städte selbst, sondern deren arme Vororte bevorzugt.
Als in der Zeit der Christenverfolgungen, die unter Domitian von 81 bis 96 ihren vorläufigen Höhepunkt erlangten, die Mission schwieriger wurde, konnte daher das Gemeindechristentum insgesamt überleben, wenn nicht erstarken. Die nun vermehrt Verfolgten und Getöteten wurden als Christus Nachfolgende anerkannt und verehrt und eröffneten dem jungen Christentum die ebenso wichtige wie problematische Perspektive einer vorweggenommenen »Endzeit« im persönlichen Bekennertod. Sollte später erhobene Forderung nach nahezu obsessivem Martyrium aber auch innerkirchlich zu Abgrenzung herausfordern, fand die Leidensbereitschaft der Christen außerhalb ihrer Gemeinden viel Anerkennung.
Mit dem Tod des Johannes um etwa 100 endet dann die Phase des Urchristentums. Johannes selbst hatte noch den logos in die christliche Lehre eingeführt und so für die kommenden Probleme ebenso den Boden bereitet, wie für die Akzeptanz, die dem (mittleren) Platonismus nun offene Lehre auch in gehobenen Kreisen bald finden sollte. Die so genannte Nachapostolische Zeit des 2. Jahrhunderts, die nun in den Bereich der Geschichte der Alten Kirche gerechnet wird, sollte dann bestimmt sein durch die Frage der Stellung des Sohnes (mit den Extrema Subordination oder Ditheismus), mit der sich Ignatius von Antiochien auseinandersetzte, von der Auseinandersetzung mit dem Gnostizismus, dem Marcionitismus und dem Montanismus und von der Konsolidierung der allmählich über die Gemeindegrenzen hinaus wachsende und sich darüber hinaus auch als solche begreifenden Kirche.
Literatur
- Vorlage:PND
- Stefan Alkier: Das Urchristentum: zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin; Tübingen: Mohr, 1993; ISBN 3-16-146057-X
- Jürgen Becker: Das Urchristentum als gegliederte Epoche; Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 1993; ISBN 3-460-04551-5
- Jürgen Becker (Hrsg.): Die Anfänge des Christentums: Alte Welt und neue Hoffnung; Stuttgart: Kohlhammer, 1987; ISBN 3-17-001902-3
- Klaus Berger: Theologiegeschichte des Urchristentums: Theologie des Neuen Testaments; Tübingen-Basel: Francke, 1994; ISBN 3-8252-8082-9 bzw. 3-7720-1752-5
- Hans Conzelmann: Geschichte des Urchristentums; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 6 1989; ISBN 3-525-51354-2
- Karl Martin Fischer: Das Urchristentum, Teil 1; Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 1985; ISBN 3-374-00295-1
- Joachim Gnilka: Die frühen Christen: Ursprünge und Anfang der Kirche; Freiburg i.B. - Basel - Wien: Herder, 1999; ISBN 3-451-27094-3
- Leonhard Goppelt: Die apostolische und nachapostolische Zeit; In: Die Kirche in ihrer Geschichte, Band 1, Lieferung A.; Göttingen Vandenhoeck und Ruprecht, 21966
- Gerd Lüdemann: Das frühe Christentum nach der Tradition der Apostelgeschichte. Ein Kommentar; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1987; ISBN 3-525-53578-3
- Franz Josef Ortkemper u.a. (Hrsg.): Gemeindestrukturen im Neuen Testament; Bibel und Kirche 56 (2001), Heft 4 (S. 193ff); Stuttgart: Katholisches Bibelwerk Stuttgart, ISSN 0006-0623 (mit mehreren Beiträgen zum Thema)
- Ludger Schenke: Die Urgemeinde; Stuttgart: Kohlhammer, 1990; ISBN 3-17-011076-4
- Wilhelm Schneemelcher: Das Urchristentum; Stuttgart: Kohlhammer, 1981; ISBN 3-17-007242-0
- Walter Schmithals: Theologiegeschichte des Urchristentums: eine problemgeschichtliche Darstellung; Stuttgart: Kohlhammer, 1994; ISBN 3-17-012965-1
- Gerd Theißen: Die Religion der ersten Christen: eine Theorie des Urchristentums; Gütersloh: Kaiser, 32003; ISBN 3-579-02623-2
- François Vouga: Geschichte des frühen Christentums; Tübingen - Basel: Francke, 1993; ISBN 3-8252-1733-7 bzw. ISBN 3-7720-2223-5
- N. T. Wright: The New Testament and the People of God (Christian Origins and the Question of God); Minneapolis: Augsburg Fortress Publishers 1996; ISBN 0-8006-2681-8 Review und Inhalt (englisch)
Siehe auch
- Jerusalemer Urgemeinde
- Alte Kirche, Apostelgeschichte, Kirchengeschichte
- Kanon des Neuen Testaments, Märtyrer, Patristik, Theologie
- Portal: Religion, Portal: Bibel
Weblinks
- http://www2.hu-berlin.de/UrAn/ - HU Berlin: Institut für Urchristentum und Antike
- http://www.biblio.at/religion/index.htm (Button links "Die Bibel online", Einheitsübersetzung incl. Stichwortsuche)
- Aktuelle Literatur zum Urchristentum