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Diogenes von Oinoanda

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Diogenes von Oinoanda ist der Autor einer umfangreichen Inschrift, die an der Rückwand einer Säulenhalle an der Agora der Stadt Oinoanda (latinisiert: Oenoanda) in Lykien (Kleinasien) angebracht worden und nur in Fragmenten erhalten geblieben ist. Im Originalzustand erstreckte sie sich über mindestens 40 m und umfasste mehr als 120 Textspalten; damit war sie ein in ihrer Art einzigartiges Denkmal. Die Inschrift wird meist auf das Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. datiert, nach neueren Forschungen käme aber auch schon das erste Viertel des 2. Jahrhunderts (so Smith) oder sogar die Zeitenwende um Christi Geburt (so Smith/Canfora) in Frage. Über ihren Verfasser ist sonst nichts bekannt. Möglicherweise ist er identisch mit einem gewissen Flavianus Diogenes, einem römischen Bürger aus Oinoanda, der aus anderen Inschriften bekannt ist. Außerdem gibt es die Vermutung, dass Diogenes von Oinoanda mit dem Autor Diogenes Laertios identisch sein könnte.

Inhalt der Inschrift

Die Inschrift, die so angebracht war, dass Vorübergehende sie leicht lesen konnten, umfasste in etwa folgende Texte (die genaue Zuweisung der erhaltenen Fragmente ist teils umstritten):

  • Eine Einleitung, in der Diogenes seine Wendung zur Philosophie und die Anbringung der Inschrift erklärt.
  • Diogenes' Abhandlung Über die Natur, d.h. die Prinzipien der epikureischen Physik und Weltsicht.
  • Diogenes' Abhandlung über Ethik unter dem (erhaltenen) Titel „Diogenes von Oinoandas Auszug über die Affekte und die Handlungen“.
  • Diogenes' lange Abhandlung Über das Alter, die das Greisenalter gegen die üblichen Vorwürfe verteidigt.
  • Einen Brief des Diogenes an einen gewissen Antipatros über die unendliche Zahl der Welten, in dem Diogenes die schon in der Antike oft angegriffene epikureische Lehre verteidigt, dass es unendlich viele Welten (κόσμοι, kosmoi) gebe.
  • Einen Brief an seine Mutter, vielleicht in der traditonellen Form einer Trostschrift, von dem v.a. ein Abschnitt über die Bedeutung von Träumen erhalten ist.
  • Das Testament des Diogenes sowie einen offenen Brief an seine Freunde, in denen er vom Leben Abschied nimmt und erneut die Anbringung der Inschrift erwähnt.
  • Diverse Maximen und Sentenzen Epikurs, die teils auch in anderen Quellen überliefert, teils nur hier belegt sind.

Zusammen bildeten diese Texte einen vielfältigen und überaus lebendigen Abriss der Lehre Epikurs.

Schicksal und Bedeutung der Inschrift

Die Säulenhalle wurde später jedoch zerstört, vermutlich von einem Erdbeben 140/141 n. Chr.; die Reste der Inschrift wurden bei der Neuerrichtung der Agora verbaut. So sind lediglich 212, teils größere Fragmente der Inschrift erhalten, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts von französischen, deutschen und österreichischen Forschern entdeckt und erstmalig publiziert worden – gewisse Teilbereiche der Lehre Epikurs, die in der Inschrift behandelt gewesen sein müssen, sind in den erhaltenen Fragmenten jedoch unterrepräsentiert (z.B. die Physik). Die Inschrift zeigt, dass ihr Verfasser ein begeisterter Anhänger der Lehre Epikurs war, der im hohen Alter dafür sorgen wollte, dass diese Philosophie möglichst vielen Menschen bekannt werde. Diogenes kennt sich offensichtlich in der epikureischen Lehre gut aus; verschiedene Details dieser Doktrin sind einzig in seiner Inschrift überliefert.

Folgt man der üblichen späten Datierung, so bildet die Inschrift insgesamt ein bedeutsames Zeugnis dafür, dass der Epikureismus im 2. Jahrhundert n. Chr. noch eine bedeutsame Bewegung darstellte. Aber auch bei einer früheren Datierung ist es zumindest erstaunlich und bewundernswert, wie Diogenes in seinem eher abgelegenen Städtchen ein so immenses Werk zusammenstellen konnte. Die Inschrift stellt wohl den bedeutsamsten aus der Antike bekannten Versuch da, Philosophie 'für alle' (bzw. für alle, die lesen konnten) zugänglich zu machen, waren geschrieben Bücher doch relativ teuer. In der Einleitung heißt es (Frg. 2 Chilton, col. IV-VI):

Außerdem ist es richtig und billig, auch jenen Menschen zu helfen, die nach uns leben werden (gehören doch auch sie zu uns, obwohl sie noch nicht geboren sind), und schließlich gebietet die Menschlichkeit, auch den zu uns kommenden Fremden Hilfe zu gewähren. Da also die Hilfe, welche diese Inschrift leisten soll, eine beträchtliche Zahl von Menschen betrifft, habe ich beschlossen, die hilfreichen Heilmittel [der epikureischen Lehre] allgemein zugänglich zu machen.

Literatur

Ausgaben und Übersetzungen

  • Diogenes Oenoandensis fragmenta, edidit C. W. Chilton, Leipzig (Teubner) 1967. – Griechischer Text mit lateinischer Einleitung, Rekonstruktion, einem Faksimile sowie griechischem Index
  • Diogenes of Oinoanda: The Epicurean Inscription, hrsg. von M. F. Smith, Oxford 1993. – Neueste und wissenschaftliche führende Ausgabe des griechischen Textes
  • Diogenes of Oenoanda: The Fragments, hrsg. v. C. W. Chilton, Oxford 1971. – Englische Übersetzung mit ausführlicher Einleitung und Kommentar
  • Griechische Atomisten. Texte und Kommentare zum materialistischen Denken der Antike, übers. und hrsg. von Fritz Jürs, Reimar Müller und Ernst Günther Schmidt, Leipzig 1977 und Nachdrucke. – ISBN 3-379-00245-3 – Deutsche Übers. der meisten Fragmente auf S. 427–450

Sekundärliteratur

  • Tiziano Dorandi: Diogenes [18] von Oinoanda, in: Der Neue Pauly Bd. 3 (1997), Spalte 604 f. – Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes
  • Richard Phillipson: Diogenes von Oinoanda, in: Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE) Supplementband V (1931), Spalte 153–170. – Zusammenfassung der Entdeckungs- und älteren Forschungsgeschichte
  • M. F. Smith, Luciano Canofora: Did Diogenes of Oinoanda know Lucretius? In: Rivista di filologia e di instruzione classica 121 (1993), S. 478–499. – Neue Diskussion um die Datierung der Inschrift