Inzest
Inzest (auch Blutschande) bezeichnet den Geschlechtsverkehr zwischen nahen Verwandten. Alle Kulturen kennen ein Inzesttabu. Der Begriff ist abzugrenzen von der Inzucht, welches in der Tier- und Pflanzenzucht als ein gebräuchliches Verfahren zur Stabilisierung bestimmter Merkmale angewendet wird. Die früher verbreiteten Eheschließungen unter nahen Verwandten im europäischen Hochadel oder in abgelegenen, ländlichen Gegenden wird ebenfalls nicht als Inzest, sondern als soziale Inzucht bezeichnet.
Inzest als soziologisches Untersuchungsfeld
Universell abgelehnt wird heutzutage der Geschlechtsverkehr zwischen Voll-Geschwistern und Eltern und ihren Kindern. Dieser ist nach den Gesetzen aller Staaten verboten (mit einigen Ausnahmen). In Schweden werden Ehen zwischen Halb-Geschwistern in Ausnahmefällen toleriert. Geschlechtliche Beziehungen zwischen entfernteren Verwandten werden in verschiedenen Gesellschaftssystemen unterschiedlich bewertet: So ist eine Ehe zwischen Vetter und Kusine erster Ordnung in 31 US-Bundesstaaten und in vielen Balkan-Ländern verboten, während sie im arabisch-orientalischen Raum als bevorzugte Form der Heirat gilt. Daneben gilt auch der Geschlechtsverkehr zwischen verschwägerten Personen in manchen Gesellschaften als Inzest. Für Cousin und Cousine zweiten Grades oder noch weiter entfernte Verwandte besteht in keinem Land ein Ehehindernis.
"Verwandtschaft" verbietet jedoch nicht nur Ehen, sie kann sie auch gebieten; "Inzest" als Verbrechen ist das dann nur aus dem Blickwinkel einer fremden Kultur. So ist in etlichen Stammesgesellschaften die Kreuzkusinenheirat vorgeschrieben. Es kann sogar der - dann eheliche - Geschlechtsverkehr zwischen Geschwistern vorgeschrieben sein, meist nur in hoher sozialer Position. Ein bekanntes Beispiel ist die Pharaonendynastien (geschichtlich z. B. der Ptolemäer) im antiken Ägypten (304 v. Chr. - 30 v. Chr.), die Geschwisterehen auf dem Thron vorschrieb; dies wird als Resultat der Machtzentralisierung bei matrilinearer Erbfolge von Hohepriesterinnen bei gleichzeitiger Patrilinearität einer Erbmonarchie angesehen.
Charakteristiken eines Tabus
Zu der Charakteristik eines Tabus zählt auch die aktive Ausgrenzung des Themas. Beim Inzest wird das Vorkommen des Inzests selbst ausgeblendet, d.h., tatsächlicher Geschlechtsverkehr zwischen Geschwistern oder zwischen Eltern und ihren Kindern wird nicht wahrgenommen, verleugnet oder, wenn es nicht anders geht, verharmlost.
Im weiteren werden etwaige Folgen eines Inzests, nämlich die Kinder, in weiten Bevölkerungskreisen offenbar grundsätzlich als behindert angesehen, um eine geistige Abgrenzung gegenüber "normal" entstandenen Kindern zu vollziehen. Selbst in Medizinerkreisen, wo eigentlich bessere Informationen vorliegen sollten, kursieren Gerüchte über Anstalten, in denen angeblich die behinderten Kinder aus Inzestbeziehungen verwahrt würden.
Gesetzeslage heute
Inzest wird in vielen Staaten strafrechtlich verfolgt. In Deutschland und Österreich allerdings nur zwischen in gerader Linie verwandten – also Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, … und deren Kindern, Enkelkindern, Urenkelkindern … – sowie zwischen voll- und halbbürtigen Geschwistern. In Deutschland werden Abkömmlinge und Geschwister nicht bestraft, wenn sie zur Tatzeit jünger als 18 Jahre waren. In Österreich wird nicht bestraft, wer zur Tatzeit jünger als 19 Jahre war und zur Tat verführt wurde. In Deutschland ist der Tatbestand auch erfüllt, wenn das Verwandtschaftsverhältnis im Sinne des Bürgerlichen Rechts bereits erloschen ist. Im Jahr 2003 hat es insgesamt zehn Verurteilungen zu § 173 StGB auf dem Gebiet der früheren Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland) gegeben.
Das französische Strafgesetzbuch, der Code pénal français, stellt Inzest nicht mehr unter Strafe. Verschiedene Länder folgen ihm heute, so wird Inzest heute in Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Portugal, der Türkei, Japan, Argentinien, Brasilien und einigen anderen lateinamerikanischen Staaten nicht mehr bestraft.
Betreffend der Eheschließung ist das kanonische Recht der Kirche strenger als das bürgerliche: Während z.B. für eine katholische Eheschließung zwischen Cousin und Cousine eine kirchliche Dispens erforderlich wäre, ist eine Ziviltrauung nur zwischen Geschwistern sowie Nachkommen und Vorfahren ausgeschlossen, in allen anderen Fällen ohne weiteres möglich.
Biologische Aspekte
Kommt es beim Inzest zur Fortpflanzung, nimmt die Variabilität der Gene bei so gezeugten Nachkommen und der Heterosis-Effekt ab, während die Homozygotie steigt. Dadurch wird das Risiko des Ausbruchs von heterozygoten Erbkrankheiten bei den Kindern erhöht, gleichzeitig werden aber positive Erbmerkmale propagiert.
Meist beruht eine Erbkrankheit darauf, dass ein für den Stoffwechsel notwendiges Protein fehlt, da das entsprechende Gen "nicht richtig funktioniert", weil es (etwa durch Mutation) beschädigt ist. Es kann vorkommen, dass ein betroffenes Individuum eine Erbkrankheit nicht ausbildet, weil es von dem Gen jeweils eine "funktionierende" und eine "nicht funktionierende" Variante besitzt. (Diese Varianten bezeichnet man in der Genetik als Allele.) Wobei die "nicht funktionierende" Variante rezessiv ist, die "funktionierende" Variante hingegen dominant vererbt wurde. Dies hat zur Folge, dass die Erbkrankheit phänotypisch nicht ausgeprägt wird, also das betroffene Individuum selbst gesund ist. Sind nun zwei Eltern genetisch nah verwandt und hat ein Elternteil eine solches "nicht funktionierendes" Gen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der andere Elternteil auch ein solches nicht funktionierendes Gen besitzt. Ist dies der Fall und wird durch die beiden ein Nachkomme gezeugt, so tritt mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der Fall ein, dass der Nachkomme zwei (rezessive) "nicht funktionierende Varianten" des Gens erhält. Dies führt dann zum phänotypischen Zutagetreten der Erbkrankheit bei diesem Nachkommen. Der Nachkomme ist erbkrank, da ihm zwei "rezessive Varianten des nicht funktionierenden Gens" vererbt wurden. ( Eine "dominante Variante des funktionierenden Gens" ist ja nun nicht vorhanden.)
Wegen der großen Anzahl der Gene ist das Risiko für die Ausbildung erblicher Defekte dieser Art bei Nachkommen von genetisch nahe Verwandten recht hoch. So ist jedes zweite bis dritte Kind aus einer Beziehung zwischen Bruder und Schwester auffällig. Etwa jedes vierte ist geistig behindert, jedes siebte hat einen Geburtsdefekt, und jedes achte leidet unter einer bekannten rezessiven Krankheit. Nachkommen aus inzestuösen Beziehungen werden daher aus rechtlicher Sicht als Opfer der Straftat Inzest betrachtet.
Wie hoch die Wahrscheinlichkeit erbkranken Nachwuchses infolge Inzestes tatsächlich ist, ist in neuerer Forschung wohl strittig.
In der Natur sind bisweilen Strategien zur Inzestvermeidung zu finden. Bei Pflanzen sind das etwa Blüten, die erst nur Pollen produzieren und danach zur Bestäubung geeignet sind oder umgekehrt. Bei Tieren und Menschen ist es der Geruchssinn, der genetisch nahe Verwandte in einer Weise riechen lässt, die keine sexuellen Gefühle aufkommen lassen soll und folglich Sex zwischen nahen Verwandten vermeiden hilft. Kinder, die bis zum sechsten Lebensjahr gemeinsam aufwachsen, entwickeln eine instinktive Inzesthemmung, und auch wenn sie nicht verwandt sind, werden sie im Erwachsenenalter höchstwahrscheinlich nicht miteinander sexuell aktiv.
Die Ausbildung eines doppelten Chromosomensatzes, die mit der Sexualität selbst (also der Zeugung von Nachkommen durch mehr als einen Vorgänger) eng zusammenhängt, wird als Mittel der Natur gesehen, die negativen Folgen von Mutationen (erhebliche Benachteiligung des Organismus, wenn eine Gen-Kopie "nicht funktioniert") zu mindern, indem von jedem Gen mindestens eine zusätzliche Kopie in jeder Zelle vorhanden ist.
Die Tierart mit der höchsten bekannten Inzestrate sind die Nacktmulle.
Literarische Verarbeitung
Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament der Bibel wird Inzest einheitlich verurteilt, wobei damit nicht nur Geschlechtsverkehr zwischen nahen Blutsverwandten, sondern auch zwischen nahen angeheirateten Verwandten gemeint ist (siehe 3. Mose 18, 6ff.).
Neben den Inzesten, die in den Schöpfungsmythen vieler Völker vorkommen, kennt die Literaturgeschichte eine Vielzahl von gewöhnlich dramatischen Erzählungen, die das Thema Inzest behandeln. Eine klassische Geschichte ist die Ödipussage, in der ein ausgesetzter Sohn, ohne darum zu wissen, seine Mutter heiratet und mit ihr vier Kinder zeugt. Das Märchen Allerleirauh der Brüder Grimm handelt von einer inzestuösen Beziehung zwischen Vater und Tochter.
Innerhalb der romantischen Literatur erscheint der Inzest teilweise als auslösendes Moment einer tragischen Geschichte. Etwa in E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels erfährt der Leser gegen Ende durch die Genealogie der Protagonisten, dass ein Fall von Inzest Auslöser war für den ausbrechenden Wahnsinn der Hauptfigur und ihres Doppelgängers, die in ihrem Wirrspiel quasi telepathisch verbunden erscheinen. Die Auslöschung der inzestuös entstandenen Familie erscheint als Ziel jener magischen bzw. wahnsinnigen Zustände.
In Richard Wagners Oper Die Walküre entbrennen die Zwillinge Siegmund und Sieglinde in Liebe zu einander. In der Vereinigung der Geschwister (Zitat: "So blühe denn Wälsungenblut") wird der Held Siegfried gezeugt.
Auch in Der Erwählte von Thomas Mann findet sich die Dualität von besonderer Tragik in Verbund mit einer gewissen Auserwähltheit. Hier wird der aus einer mittelalterlichen Erzählung, dem Gregorius Hartmanns von Aue entstammende Protagonist am Ende nach langen Leidens- und Bußejahren zum Papst erhoben. In Thomas Manns Novelle Wälsungenblut ist das Thema Inzest zwischen Geschwistern ebenfalls zentral, in Joseph und seine Brüder taucht es (in den Eltern des Potiphar) am Rande auf.
In Ian McEwans Buch Der Zementgarten übernehmen der minderjährige Jack und seine Schwester Julie nach dem Tod beider Eltern deren Rolle, wobei es in letzter Konsequenz auch zum Inzest zwischen den beiden Geschwistern kommt.
Eine moderne Version ist Max Frischs Homo faber, in dem die (tragisch endende) Geschichte einer inzestuösen Verstrickung von Vater und Tochter geschildert wird. Eine mehr ersehnte als tatsächlich stattfindende Inzest-Liebe zwischen Bruder und Schwester wird weiters in dem Roman 'Partygirl' (2003) von Marlene Streeruwitz geschildert, wobei der Roman deutlich auf die Erzählung Der Untergang des Hauses Usher des amerikanischen Autors Edgar Allan Poe rekurriert.
Eine autobiographische Aufbereitung des eigenen Missbrauchs schildert Kathryn Harrison in Ich bin die Tochter, die keiner sieht (1997, ISBN 3426269791)
Auch Joanne K. Rowling greift die Thematik Inzest im 6. Buch Harry Potter und der Halbblutprinz auf. Es wird schon im 2. Buch angedeutet, dass sich die so genannten Reinblüter nur untereinander verheiraten. Im 6. Buch wird berichtet, dass sich auch Cousin und Cousine verheiraten, wenn keine anderen Reinblüter zur Wahl stehen. Harry erfährt von den letzten wirklichen Reinblütern. Die Familie Gaunt besteht nur aus dem Vater und seinen beiden missgebildeten Kindern.
Weiters lassen sich inzestuöse Motive feststellen in:
- Leonhard Frank. Bruder und Schwester. (1929)
- Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. (1931/32)
- Ingeborg Bachmann. Das Buch Franza. [Fragment, 1979]
- Thomas Bernhard. An der Baumgrenze. (1969)
- Peter Bieri. Der Klavierstimmer. (1998)
- Jeffrey Eugenides. Middlesex. (2003)
Filme
- Homo Faber, 1991, IMDb
- Herzflimmern, 1971, IMDb
- Inzest, 1970, IMDb
- Das Schweigen, 1963, IMDb
- Oldboy, 2003, IMDb
- Höhenfeuer, 1985 IMDb
Siehe auch
Weblinks
- Stand der theoretischen Diskussion
- Beitrag bei Quarks
- Zur Gesetzeslage vergleiche:
- Deutschland: § 173 StGB (mit Rechtsprechungshinweisen)
- Österreich: § 211 StGB ("Blutschande"), § 6 EheG
- Schweiz: Art. 213 des Strafgesetzbuches
- Katholische Kirche: c.1091 CIC
Hilfsorganisationen: