Völkermord
Der Völkermord (Synonym: der Genozid) ist ein Straftatbestand, der im Völkerstrafrecht entstanden ist, mittlerweile aber auch in verschiedenen nationalen Rechtsordnungen ausdrücklich verankert ist. Des Völkermords schuldig macht sich, wer
- in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten,
- eine der folgenden Handlungen begeht:
- a) das Töten von Angehörigen der Gruppe
- b) das Zufügen von ernsthaften körperlichen oder geistigen Schäden bei Angehörigen der Gruppe
- c) die absichtliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen
- d) die Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung
- e) die gewaltsame Verbringung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe
Dabei ist zu beachten, dass nur die Absicht zur Vernichtung der Gruppe erforderlich ist, nicht aber auch ihre effektive Vernichtung. Die Handlungen unter den Buchstaben a bis e hingegen müssen tatsächlich (und willentlich) begangen werden. Dies bedeutet insbesondere, dass es nicht viele Opfer braucht, damit die Täter sich des Völkermords schuldig machen. Bloss ihre Vernichtungsabsicht muss sich auf die ganze Gruppe oder einen massgeblichen Teil von ihr richten. Die Täter erfüllen den Straftatbestand beispielsweise, wenn sie - in dieser besonderen Absicht - einzelnen Gruppenmitgliedern ernsthafte körperliche oder geistige Schäden zufügen. Dies mag angesichts des Begriffs Völker-Mord erstaunen, wird in dieser Variante doch gar kein Mensch ermordet. Der Ansatzpunkt der Definition ist jedoch ein anderer. Denn es sollen verschiedene Gewaltverbrechen erfasst werden, die sich durch eine besonders menschenverachtende Absicht auszeichnen. Mit anderen Worten: Es geht gewissermaßen um den Versuch, ein Volk zu ermorden. Wer wollte schon verlangen, dass das Volk (genauer: die besondere Gruppe) tatsächlich vernichtet sein müsste, bevor die Täter wegen Völkermord bestraft werden können?
Umgekehrt gilt auch: Unter a) bis e) genannte Maßnahmen sind kein Völkermord, wenn ihr Ziel nicht darin besteht, eine Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten, egal wieviele Mitglieder getötet oder sonstwie beeinträchtigt werden. Solche Maßnahmen sind ebenfalls kein Völkermord, wenn ihr Ziel darin besteht, eine Gruppe auszurotten, die nicht durch nationale, ethnische, rassische oder religiöse Eigenschaften definiert ist. Dies zeigt den problematischen Charakter der Völkermord Definition nach dem Völkerstrafrecht, denn Massenmorde nach sozialen oder geographischen Kriterien sowie zielloses Morden werden vom Völkermord Paragraphen nicht erfasst. Im Völkerrecht nicht bekannt sind die entsprechend der Analogie Völkermord - Mord möglichen Vergehen Völkertotschlag sowie fahrlässige Völkertötung.
Ob hingegen in jedem Fall, wo Einzelne sich des Völkermords schuldig machen, der Rahmen des Geschehens pauschal als "Völkermord" bezeichnet werden sollte, ist eine andere Frage. Denn es ist für die Strafbarkeit Einzelner nicht erforderlich, dass sie ihre Taten im Rahmen eines breit angelegten oder systematischen Angriffs auf die Opfergruppe begehen (im Gegensatz etwa zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit).
Diese Definition kann als mehr oder weniger allgemeingültig bezeichnet werden, denn der Völkermord ist dasjenige völkerstrafrechtliche Verbrechen mit der schärfsten und anerkanntesten Definition: Alle massgeblichen Normierungen stimmen im Wesentlichen mit der Definition von Artikel II der Völkermordkonvention der UNO (s.u.) überein. Andere völkerstrafrechtliche Tatbestände dagegen, insbesondere das Verbrechen des Angriffskrieges (Aggression), sind weitgehend umstritten.
Der Begriff "Genozid" (v. griech.: γένος, génos, = (eigentlich) Herkunft, Abstammung, Geschlecht, (im weiteren Sinne auch) das Volk + lat.: caedere = morden, metzeln) wurde 1943 von dem polnischen Anwalt Raphael Lemkin (1900-1959) geprägt für einen Gesetzesentwurf zur Bestrafung der Nazi-Verbrechen. 1944 übertrug er den Ausdruck ins Englische als genocide.
Völkermorde in der Geschichte
- Völkermord an den Katharern (Albigenser) (1209-1244)
- Völkermord an den Ureinwohnern Amerikas, an den Indianern, Inkas, Mayas und den Azteken (1521-Mitte des 20. Jahrhunderts) Vom Beginn an der Besiedelung Amerikas bis zu den letzten Taten des Ku Klux Klans
- Völkermord an den Ureinwohnern Australiens, siehe Aborigine und Tasmanier
- Völkermord an den Tscherkessen ab 1864 durch das Zarenreich
- Völkermord an den Ureinwohnern des Kongo 1885-1908 durch König Leopold II. von Belgien
- Völkermord an den Herero (1904-1907) durch die deutsche Besatzungsmacht (Kolonialmacht) in Deutsch-Südwest-Afrika, heute Namibia (siehe Aufstand der Herero und Nama)
- Genozid an der indianischen Bevölkerung Feuerlands (1910)
- Völkermord an den Armeniern (1915-1923)
- Kinder der Landstrasse, der Versuch, die fahrende Bevölkerung (Jenische und andere) der Schweiz durch Kindesentzug und -umerziehung sesshaft zu machen (1926-1972)
- Völkermord an den Ukrainern in der kommunistischen Sowjetunion (1932 -1933)
- Völkermorde in Europa unter dem Nationalsozialismus, insbesondere der Holocaust an den Juden (1933-1945)
- Völkermord an den Esten, Letten und Litauern unter Stalin (1941, 1944-53)
- Völkermord an den Juden, Gefangenen (Deutsche, Polen) und den aus politischen Gründen Inhaftierten unter Stalin
- Völkermord in China unter Mao Zedong
- Volkermord an den Papua Indonesiens (1962-heute)
- Völkermord an den Chinesen Indonesiens (1965)
- Burundi (1972)
- Völkermord in Kambodscha (1971-1979)
- Völkermord in Osttimor (1975-1999)
- Völkermorde im Tschad durch Hissène Habré (ethnischen Gruppen im Süden (1984), an den Hadjerai (1987) und an den Zaghawa (1989))
- Völkermord in Ruanda (Tutsi) (1994)
- Massaker von Srebrenica (1995)
- Völkermord an den Hazara und anderen nicht-paschtunischen Bevölkerungsanteilen in Afghanistan durch die Taliban (1996-2001)
- Völkermord an den Fur durch die Dschandschawid in der Region Darfur (2004 - bis heute) im westlichen Sudan mit ca. 300.000 Toten
Ob in jedem Fall der Straftatbestand des Völkermords erfüllt ist oder ob es sich um sonstige Verbrechen wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen handelt, ist in vielen Fällen umstritten (siehe auch die Liste der Verbrechen gegen die Menschheit).
vgl. insbesondere den Artikel in der englischen Wikipedia
UN-Konvention gegen Völkermord
Am 9. Dezember 1948 beschloss die Generalversammlung der UNO in der Resolution 260 die "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" (Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide), die am 12. Januar 1951 in Kraft trat. Die Bundesrepublik Deutschland ratifizierte die Konvention im Februar 1955. Nach der Konvention ist Völkermord ein Verbrechen gemäß internationalem Recht, "das von der zivilisierten Welt verurteilt wird".
Grundlage war die Resolution 180 der UN-Vollversammlung vom 21. Dezember 1947, in der festgestellt wurde, dass "Völkermord ein internationales Verbrechen [ist], das nationale und internationale Verantwortung von Menschen und Staaten erfordert", um den völkerrechtlichen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zu gedenken.
Die Konvention definiert Völkermord in Artikel II als "eine der folgenden Handlungen, begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören:
- a) das Töten von Angehörigen der Gruppe
- b) das Zufügen von ernsthaften körperlichen oder geistigen Schäden bei Angehörigen der Gruppe
- c) die absichtliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen
- d) die Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung
- e) die gewaltsame Verbringung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe
Im deutschen Völkerstrafgesetzbuch (§ 6 VStGB) wie auch im schweizerischen Strafgesetzbuch (Art. 264 StGB) ist die Tat entsprechend der Konvention definiert.
Literatur
- Mihran Dabag/Kristin Platt: Genozid und Moderne, Opladen: Leske+Budrich 1998, ISBN 3-8100-1822-8
- Zeitschrift für Genozidforschung (seit 1999, halbjährlich), Paderborn: W. Fink/ Ferdinand Schöningh, ISSN 14388-8332
- Frank Selbmann: Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2002. ISBN 3936522332
- William A. Schabas, Genozid im Völkerrecht, HIS Edition, aus dem Englischen von Holger Fliessbach, 2003. ISBN 3-930908-88-3,
(Rechtswissenschaftlich exzellent durchdrungen [1]) - Alain Destexhe, Rwanda and Genocide in the Twentieth Century, London/East Haven 1995
(Destexhe erkennt nur die Ausrottung der Armenier im Osmanischen Reich 1915, die deutsche "Endlösung der Judenfrage" und Rwanda 1994 als echte Völkermorde im 20. Jahrhundert an) - Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a. M 2005, S. Fischer Verlag, ISBN 3100894316
- Leonard S. Newman/Ralph Erber (Eds.): Understanding Genocide. The Social Psychology of the Holocaust, Oxford: Oxford University Press, 2002, ISBN 0-19-513362-5
- Dominik J. Schaller/Rupen Boyadjian/Vivianne Berg/Hanno Scholtz (Hrsg.): Enteignet, vertrieben, ermordet. Beiträge zur Genozidforschung, Zürich: Chronos, 2004, ISBN 3-0340-0642-X
Siehe auch
- Völkerstrafrecht
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit
- Vergleichende Völkermordforschung
- Demozid
- Kinder der Landstrasse der Schweiz (1926 bis 1972, Missbrauch des Fürsorgerechts zur Eliminierung der Fahrenden, nach heutigem Schweizer Recht bzw. UN-Konvention ein Völkermord)
- Massenmord, Massaker