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Deutungsmuster

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Unter Deutungsmuster werden in der Wissenssoziologie im individuellen Wissensvorrat abgelagerte Sinnschemata verstanden, die als Sinnzusammenhänge die Wahrnehmung vorprägen und als handlungsleitende Orientierungsmuster das Universum von Sinn so reduzieren und strukturieren, dass Identität und Handeln möglich wird.

Das Konzept der Deutungsmuster geht zurück auf Alfred Schütz. Nach Schütz setzt sich der alltägliche Wissensvorrat zusammen aus Typisierungen von Erfahrungen und bewährten Problemlösungen. Diese Schemata werden in der Erfahrung aktualisiert, indem die Wahrnehmung einen Gegenstand als ein Exemplar einer Typenklasse erfasst und gleichzeitig seine individuell besonderen Merkmale gegenüber dem Typus bestimmt. Mit einander verbundene Deutungsschemata bilden Sinnzusammenhänge und Typen, die die Wahrnehmung strukturieren und unter der Vorherrschaft des pragmatischen Motivs im Alltag nicht relevante Deutungsmöglichkeiten unterdrücken. Typisierende Deutungen sind also selektiv, wobei die Selektion Kriterien subjektiver Relevanzen unterliegt, die zwar individuell und situativ variieren, aber wesentlich sozial bedingt, mit dem Wissenserwerb sozialisiert und auf gesellschaftliche Handlungsprobleme bezogen sind. Erlebnisse werden so immer im Rahmen bereits vorgeformter Sinnzusammenhänge wahrgenommen und gedeutet.(siehe auch Gestalttheorie)

Komplexe typisierender Problemlösungen, die sich aufgrund gesellschaftlicher und subjektiv-biographisch bedingter Interessenlagen entwickeln, können auch als soziale Deutungsmuster bezeichnet werden. Soziale Deutungsmuster bilden handlungsanleitende Alltagstheorien, die es den Gesellschaftsmitgliedern erlauben, ihre sozialen Erfahrungen in einen übergreifenden Sinnzusammenhang zu bringen. Sie besitzen eine identitätsstiftende Funktion, die den Einzelnen in der sozialen Gruppe, der er sich zugehörig fühlt, verorten, und seine individuelle Biographie mit den gesellschaftlichen Handlungsanforderungen synthetisieren.

Die interne Logik und Konsistenz der sozialen Deutungsmuster stellt die Aufrechterhaltung individueller und sozialer Handlungsfähigkeit sicher. Deutungsmuster sind aber dennoch nicht als in sich abgeschlossene, ausformulierte und vorgefertigte Interpretationsraster zu verstehen, sondern müssen - jeder Erfahrung zwar implizit mitgegeben - in einer akutellen Handlungssituation immer erst "ausbuchstabiert" und im konkreten Lebenslauf individuell ausdifferenziert werden. Sie sind offen für Veränderungen, indem die Interpretations- und Übertragungsregeln prinzipiell die Möglichkeit zu Thematisierung, Reflexion und argumentativem Handeln bereit stellen.

Da im Alltag gerade die typischen und typisch wiederholbaren Aspekte des Handelns von Interesse sind, und die Bewältigung von Routinesituationen ein "Rezeptwissen" verlangt, reichen in vielen Situationen die vorhandenen Typisierungen aus, um erfolgreiche Deutungen und Handlungen zu vollziehen. Erst gänzlich neue Erfahrungen zwingen zu einem bewussten Überdenken der Deutungsschemata, ihrer teilweisen Revision oder Umstrukturierung und unter Umständen zur Bildung neuer Typen.

Auch Inkonsistenzen zwischen den Elementen des Wissensvorrates, zwischen den verschiedenen Deutungsmustern, werden so immer erst in der Konfrontation mit einem Handlungsproblem sichtbar, das sich nicht umstandlos vorhandenen Schemata fügt. In der "natürlichen Einstellung" (Edmund Husserl) besteht im allgemeinen sonst keine Motivation, alle Wissenselemente thoretisch in Übereinstimmung zu bringen. Hieraus erklärt sich die Resistenz des Alltagsbewusstseins/-wissens gegenüber neuen Ideen und Theorien, sowie auch auf der anderen Seite krisenhaftes Erleben von Identitätsveränderungen in biografischen Übergängen oder durch das Einwirken großer Mengen an neuen, nicht unter die bisherigen Deutungsmuster subsumierbarer Informationen und Erfahrungen.

Für die empirische Analysepraxis konturiert wurde die Kategorie ‘Deutungsmuster’ 1973 durch ein Manuskript von Ulrich Oevermann, das erst drei Jahrzehnte später (Oevermann 2001) durch die Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift einer breiten Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Unmittelbar im Anschluss an das Manuskript Oevermanns entstanden in den siebziger und frühen achtziger Jahren zunächst eine ganze Reihe von Aufsätzen (Überblick bei: Plaß/Schetsche 2001), in denen die theoretische Skizze auf die unterschiedlichste Weise interpretiert und ergänzt wurde. Während die theoretischen Diskussionen in jenen Beiträgen stark von dem Anliegen einer Weiterentwicklung des Deutungsmusterkonzepts bestimmt waren, konzentrieren sich die vereinzelten Beiträge der neunziger Jahre (typisch: Meuser/Sackmann 1992, Lüders/Meuser 1997) darauf, die Ergebnisse der älteren Debatte zu resümieren und sie in einen wissenschaftshistorischen Kontext zu stellen. Diese Debatte wurde durch einen Versuch Oevermanns zur „Aktualisierung“ seines Konzepts (Oevermann 2001a) und einen unmittelbar darauf antwortenden Vorschlag von Plaß und Schetsche (2001) zu einer wissenssoziologischen Fundierung der Deutungsmusteranalyse fortgesetzt. Das letztgenannten – an das theoretische Programm von Berger und Luckmann anschließende – theoretisch-methodische Programm schließt einen radikalen Perspektivenwechsel ein: Deutungsmuster wird vom subjektorientiertes Schematakonzept zur Formkategorie sozialen Wissens.

Literatur

  • Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie (1932). Frankfurt/Main 1974
  • Dewe, Bernd: Soziale Deutungsmuster. In: Kerber, H./Schmieder, A. (Hrsg.). Handbuch zur Soziologie, Reinbek, 2. Auflage 1996