Stufentheorie (Harmonik)
Die Stufentheorie, von Jacob Gottfried Weber (1779–1839) entwickelt und später von Simon Sechter (1788–1867) ausgebaut, ist ebenso wie die Ende des 19. Jahrhunderts von Hugo Riemann (1849–1919) begründete Funktionstheorie ein Mittel zur beschreibenden Analyse der Harmonik eines Musikstückes. Beide Systeme haben sich bis in die heutige Zeit mit Modifikationen und Erweiterungen erhalten.
Mit Hilfe der Stufentheorie lässt sich der harmonische Bauplan eines Stückes verallgemeinernd veranschaulichen, so dass Vergleiche zu Stücken in anderen Tonarten einfacher werden, da die Symbole in Bezug auf die jeweilige Grundtonart zu lesen sind. Zwei Stücke werden so "auf einen (allgemeinen) Nenner gebracht". Gleichzeitig stellt die Stufentheorie umgekehrt harmonische Wendungen bereit, die sich auf sämtliche Tonarten übertragen lassen.
Grundlagen
Die Grundlage der Stufentheorie bildet eine beliebige Tonleiter, die das Tonmaterial der Grundtonart des Stückes bereitstellt. Dies kann z. B. eine Dur- oder Molltonleiter sein, aber auch jegliche andere (traditionelle oder neu erfundene) Skala wie Pentatonik, Kirchentonarten, Ganztonleitern etc.
Nummerierung
Dabei nennt man zunächst die einzelnen Töne (vom Grundton aufwärts betrachtet) Stufen und nummeriert diese mit römischen Zahlen.
Am Beispiel einer D-Dur-Tonleiter:
Dreiklänge für Moll-Tonleitern
Über jeder dieser Stufen lässt sich nun ein Dreiklang konstruieren, indem zwei Terzen darüber geschichtet werden. Die dazu benötigten Töne entstammen ebenfalls dem Material der Tonleiter, sie sind leitereigen.
Aufgrund der verschiedenen Abstände innerhalb der Akkorde entstehen hier drei verschiedene Arten von Dreiklängen:
- Moll (große Terz – kleine Terz) - Stufen I, IV und V
- Dur (kleine Terz – große Terz) - Stufen II, III und VI
- vergrößert (kleine Terz – kleine Terz) - Stufe VII
Zum Beispiel beschreibt eine II in jeder beliebigen Dur-Tonart immer einen Molldreiklang, nämlich denjenigen Dreiklang, der mit leitereigenen Tönen über der zweiten Stufe der jeweiligen Tonleiter gebildet wird.
Dreiklänge für Dur-Tonleitern
Betrachtet man die Akkordbildung für Moll (hier c-Moll), ergibt sich folgende Verteilung:
- Moll - Stufen I, IV und V
- Dur - Stufen III, VI und VII
- vermindert - Stufe II
Erweiterung der Stufensymbole
Eine Erweiterung der römischen Zahlen wird dann nötig, wenn
- den Dreiklängen ein vierter, fünfter,... Ton hinzugefügt wird
- ein Ton des Dreiklangs durch einen anderen ersetzt wird
- ein anderer als der Grundton tiefster Ton (=Basston) ist
- ein Ton des Dreiklangs nicht leitereigen ist.
Im Folgenden werden diese Fälle erläutert:
Vierklang, Fünfklang,...
Es ist möglich, den Ausgangsdreiklang durch Aufschichtung weiterer Terzen zu erweitern. Das Ergebnis sind Vierklänge, Fünfklänge, ... Dies wird mit (arabischen) Zahlen angezeigt, die rechts oben (wie ein Exponent) neben die römische Zahl geschrieben werden. Ihr Wert gibt das Intervall des zusätzlichen Tones in Bezug auf den Grundton des Dreiklangs an: eine 7 bezeichnet die Septime, eine 9 die None usw. Da die Intervalle 1 (Grundton), 3 (Terz) und 5 (Quinte) ohnehin im Dreiklang enthalten sind, werden diese Töne nicht bezeichnet, sofern sie leitereigen sind.
In C-Dur:
Tonersetzung
Ebenso gekennzeichnet werden Töne, die einen Dreiklangston ersetzen sollen. Das Ergebnis sind Vorhaltsakkorde (der ersetzte Ton wird "vorenthalten", häufig (nicht unbedingt in Jazz-Musik) löst sich dieser Vorhalt aber auf, indem der dreiklangsfremde in den dreiklangseigenen Ton zurückgeführt wird). Dabei gilt: 4 ersetzt 3, 6 ersetzt 5, 9 ersetzt 8 (oktavierter Grundton).
In C-Dur:
Hörbeispiel
Umkehrungen
Beschreibt das Stufensymbol eine Umkehrung des Akkords, so wird der Basston – ebenfalls in Intervallform – unter der römischen Zahl vermerkt. Grundsätzlich kann jeder Ton zum tiefsten Ton gemacht werden, sowohl die ursprünglichen Dreiklangstöne wie Hinzugefügte oder Ersetzende (Vorhalte). Aufgrund der strengen Regeln der Satztechnik, die die Bewegung der Stimmen zwischen einzelnen Akkorden festlegt, gibt es aber große Differenzen in der Häufigkeit der so verwendeten Töne. Meist findet man hier nur die 3 und die 7, seltener die 5. Schon diese relativ naheliegenden Töne haben klare Konsequenzen für die Stimmführung. In C-Dur: Datei:Stufentheorie6.PNG
Fremdton
Selten ist die Quinte des Dreiklangs betroffen, fast nie der Grundton, dafür die Terz umso mehr. Dies rührt daher, dass die Terz (groß oder klein) den Dreiklang in Dur oder Moll einordnen lässt. Will man zum Beispiel die V. Stufe einer Molltonleiter (ursprünglich ist dieser Dreiklang ein Moll-Dreiklang, s. o.) mit dem für diese Stufe charakteristischen Leitton versehen, um die dominantische Wirkung zu verstärken, muss die (kleine) Terz um einen Halbton erhöht werden. Dies geschieht, indem eine 3 mit Kreuz (#) rechts neben die römische Zahl gestellt wird. Da die Veränderung der Terz die häufigste dieser Art ist, wird oft die 3 weggelassen und nur ein Kreuz geschrieben. Meint man einen anderen Ton, ist dieser in jedem Fall zu bezeichnen. Dies lässt sich ebenfalls mit hinzugefügten oder ersetzenden Tönen durchführen, wenn sie nicht leitereigen sein sollen. Eine Erniedrigung des Tones wird analog mit einem b gekennzeichnet.
In c-Moll:
Verwendung
Anders als die Funktionstheorie beschreibt die Stufentheorie keine Spannungsbeziehungen zwischen Akkorden. Da sie aber wesentlich elementarer aufgebaut ist, hat sie große Vorzüge: Mit ihrer Hilfe lassen sich manche Akkorde, bei denen die Funktionstheorie an Grenzen stößt, ohne weiteres erfassen, da sie im Grunde keine Deutung des Klangs vornimmt, sondern "lediglich" die verwendeten Töne beschreibt. Siehe hierzu die Probleme bei der funktionsharmonischen Deutung des Tristan-Akkords.
Die Stufentheorie könnte diesen Akkord eindeutig beschreiben mit , sagt aber wenig über den Zusammenhang aus. Diese Schreibweise ist – zugegeben – auch nicht wirklich anschaulich, aber möglich.
Besonders sinnvoll ist der Einsatz der Stufentheorie, wenn man Sequenzen kennzeichnen möchte; die Intervallbeziehungen der Akkorde untereinander lassen sich leichter erkennen und zeigen oft musikalische Zusammenhänge über größere Strecken, die bei der Verwendung von Funktionen nicht so offensichtlich wären.
Da Barockmusik und Jazz in hohem Maße auf Sequenzenbildung basieren, ist für die Beschreibung dieser Stilrichtungen die Stufentheorie wohl die Angemessenste. Hinzu kommt, dass im Jazz praktisch kein Dreiklang ohne die oben erwähnten Erweiterungen benutzt wird, auch hier liefert die Stufentheorie ein hervorragendes Mittel. So ist jedem, der sich mit Jazz nur ansatzweise (praktisch und/oder theoretisch) beschäftigt, die Harmoniefolge "II-V-I" als die Wendung schlechthin wohlbekannt.
Beispiel einer Analyse
Ein einfaches Beispiel, um anhand der Stufentheorie eine Sequenz zu zeigen und gleichzeitig die verschiedenen Einsatzmöglichkeiten von Stufen- und Funktionstheorie zu erläutern, sei ein Abschnitt aus Mozarts Zauberflöte aus dem Quintett Nr. 5: Klangbeispiel im MIDI-Format (2kB)
Zunächst zu den ersten drei Takten, die als Sequenz gekennzeichnet sind:
- Die ersten zwei Klänge I-V stehen im Abstand einer Quinte (Differenz vier Stufen). Ebenso verhalten sich die folgenden Klänge VI-III und IV-I. Alternativ könnte man schreiben VI-X statt VI-III sowie IV-VIII statt IV-I. Die Stufen X und VIII existieren jedoch nicht und dienen hier nur der besseren Veranschaulichung der Differenzen.
- Die Klangfolge des ersten Taktes wird also von einem jeweils anderen Ausgangspunkt wiederholt, sie wird sequenziert.
- Diese Ausgangspunkte am Beginn jeden Taktes (I-VI-IV) haben den Abstand einer Terz (Differenz zwei Stufen), alternativ VIII-VI-IV. In Worte gefasst hieße das: Der aufwärts gerichtete Quintsprung I-V wird in der Sequenz zweimal um eine Terz versetzt wiederholt. Diese Folge wird sogar im vierten Takt scheinbar fortgesetzt, denn der Basston c wäre der Grundton der sequenzgerecht erscheinenden II. Dazu unten mehr.
- Das Erscheinen dieses Tons wird noch zwingender herbeigeführt durch die schrittige Basslinie – sie bewegt sich in Sekunden abwärts und lässt die Stufen V, III und I als Sextakkorde erscheinen.
- Wem beim Abhören des Beispiels die klangliche Nähe zu Pachelbels berühmtem Kanon aufgefallen ist, findet dies bei der Analyse desselben bestätigt: Die Akkordfolge D-A-h-fis-G-D-G-A liefert in D-Dur die Stufen I-V-VI-III-IV-I-IV-V. Obwohl das Stück in einer anderen Tonart steht, sieht man auf den ersten Blick, dass sich die ersten sechs Klänge genauso verhalten wie bei Mozart, das Sequenzmodell ist das gleiche. Unterschiede: bei Pachelbel handelt es sich immer um Dreiklänge in Grundstellung und die Kadenz am Schluss der Phrase wird anders behandelt.
- Betrachtet man nun – zurück bei Mozart – für diesen Abschnitt die Funktionen, wird schnell ersichtlich, warum sich für diese Takte zur Beschreibung eher die Stufentheorie eignet: Zwar scheint am Anfang eine gewisse Regelmäßigkeit zu herrschen, dies suggeriert die elementare Folge T-D-T-D. Doch spätestens mit dem Erscheinen der Subdominante im dritten Takt ist diese Regelmäßigkeit zerstört. Des Weiteren ist die Beschreibung des vierten Klanges als Dominantparallele sehr irreführend, da er in dieser Form keinen dominantischen Charakter mehr hat. Zudem wäre die Folge D-S im strengen Sinne regelwidrig aufgrund der umgekehrten Spannungsempfindung. (Trotzdem kommt diese Folge zum Beispiel in Popmusik oft vor, da diese häufig mit Plagalschlüssen arbeitet: D-S-T klingt hier sehr geläufig)
Der vierte Takt:
- Ist die Sequenz der ersten drei Takte zum Ende gekommen, wird der Basston c (Grundton der II Stufe) umgedeutet zur Terz der VII Stufe bzw. zur Quinte der Dominante. Mozart verlässt hier bewusst das Sequenzmodell, um eine weitere Bewegung in der gleichen Richtung abzufangen. Die sich anschließende Kadenz endet mit einem Halbschluss auf der Dominante. Dies ist nicht ungewöhnlich, da das Prinzip Spannung-Entspannung innerhalb eines achttaktigen Satzes eher die Norm ist. An diesem Punkte sind Stufen- und Funktionstheorie fast gleichwertig, wenn man davon ausgeht, dass die fünfte Stufe als spannungsreicher Klang aufgefasst wird. Hier spielt allerdings schon die Erfahrung mit hinein, dass diese Stufe die Dominante bildet, es handelt sich also eher um eine gedankliche Kombination der beiden Theorien.
Die zweite Hälfte:
- In diesem Abschnitt wäre wahrscheinlich der funktionalen Beschreibung aus verschiedenen Gründen der Vorzug zu geben. Am Anfang signalisiert das lange Verweilen in der Dominante die Ausweichung in dieselbe; der Trugschluss in die Tonikaparallele als absonderliches Ereignis erscheint ebenso deutlicher als die Folge V-VI; das Erscheinen der Subdominante im siebten Takt leitet klar den zweiten "Versuch" ein, die Tonika zu etablieren, worauf sich eine vollständige Kadenz mit Ganzschluss anschließt als stereotype Folge T-S-D-T.
Man sieht, wie sich beide Theorien gut ergänzen und sowohl Vor- als auch Nachteile haben, die sich leicht mit der jeweils anderen Theorie umgehen lassen.
Literatur
- Simon Sechter, "Praktische Generalbaß-Schule", 1835
- Simon Sechter, "Die Grundsätze der musikalischen Komposition", 1853-54
- C. Dahlhaus, "Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität", 1967, 298 S., ISBN 3-7618-0908-5
- Paul Hindemith, "Aufgaben für Harmonieschüler", 1949 (Nachdruck 1985) ,134 S., ISBN 3-7957-1602-0
- Frank Sikora, "Neue Jazz-Harmonielehre", 2003, S. 67ff., ISBN 3-7957-5124-1
- Axel Kemper-Moll, "Jazz & Pop Harmonielehre", 2003, ISBN 3-8024-0349-5
- Frank Haunschild, "Die neue Harmonielehre", 1997, ISBN 3-927190-00-4
- Reinhard Amon, "Lexigon der Harmonielehre", 2005, ISBN 3-476-02082-7