Jerusalemer Urgemeinde
Die Jerusalemer Urgemeinde war eine der ersten Gemeinschaften des Urchristentums. Sie fand sich nach der Kreuzigung Jesu in Jerusalem zusammen, um dem Volk Israel und allen Völkern die Auferstehung des Messias, Vergebung der Sünden und Jesu Gebote zu verkünden, sich auf die Wiederkunft (Parusie) Jesu und das damit verbundene Weltende vorzubereiten.
Quellen
Das Wissen um Entstehung, Entwicklung, Glauben und Gottesdienstformen der Urgemeinde stammt im Wesentlichen aus der Apostelgeschichte des Lukas (um 100). Hinzu kommen Eigentraditionen der Urgemeinde, die Paulus von Tarsus in seine Gemeindebriefe aufgenommen hat. Auch der vormarkinische Passionsbericht (Mk 14,3-16,8) wurde wahrscheinlich im Kern von Christen aus der Urgemeinde verfasst. Diese älteren Überlieferungen bestätigen die Darstellungen des Lukas nicht nur, sondern korrigieren sie auch in wichtigen Details.
Lukas gehörte zwar einerseits dem Schülerkreis des Paulus an, vertrat aber andererseits schon ein stark stilisiertes, von seinen eigenen theologischen Aussageabsichten bestimmtes Geschichtsbild der zweiten Christengeneration, das die Urgemeinde als weitgehend harmonisch gelenkte Einheit des "apostolischen Zeitalters" (etwa 30 bis 70) idealisiert, um sie als Vorbild für alle späteren christlichen Gemeinden hervorzuheben. Historische Kritik hat dieses Bild in vieler Hinsicht in Frage gestellt.
Keins der vier kanonischen Evangelien stammt aus der Urgemeinde; sie erlauben aber Rückschlüsse auf deren Besonderheiten, wenn man ihre Angaben zur Sendung Jesu und Gebote für die Jünger mit denen der Primärquellen vergleicht. Indirekte Informationen zu Jerusalemer Gottesdienstformen und Ämterregeln ergeben auch nichtkanonische christliche Schriften wie die Didache, eine Art Katechismus von Judenchristen, die der Urgemeinde theologisch und ethisch nahestanden. Wichtige Einzeldaten zur weiteren Geschichte der Urgemeinde stammen ferner aus außerbiblischen Quellen wie dem Testimonium Flavianum (um 90) des jüdischen Historikers Josephus Flavius sowie aus Notizen von Hegesippus (um 180), den der erste Kirchenhistoriker Eusebius von Cäsarea zitierte.
Ursprung
Jesu Anhängerschaft aus Galiläa, die ihm in die Tempelstadt Jerusalem gefolgt war, zerstreute sich wohl schon nach seiner Festnahme (Mk 14,50). Die meisten der erstberufenen Jünger kehrten spätestens nach seinem Tod in ihre Heimatdörfer zurück, da mit Jesu Tod auch seine Predigt vom nahen Reich Gottes widerlegt zu sein schien (Lk 24,21).
Dennoch bildete sich im damaligen religiösen Zentrum des Judentums bald darauf eine erste Gemeinde, die Jesus als den Christus Israels und aller Völker verkündete. Was die Jesusanhänger dazu bewegte, liegt historisch im Dunkeln, hängt aber mit ihren Auferstehungserfahrungen zusammen. Für die Urchristen läutete Jesu Auferstehung die von Israels Propheten verheißene Endzeit ein: Daher deuteten sie die Gründung der Urgemeinde als wunderbares Wirken des Heiligen Geistes, dessen "Ausschüttung" der jüdische Prophet Joel (Kapitel 3) für die Endzeit verheißen hatte. Die Apostelgeschichte (Apg 2) verkündet dieses Pfingstwunder als Vorwegnahme der Ankunft des Gottesreichs, das alle Sprachbarrieren überwindet und alle Nationalitäten in das Lob Gottes aufgrund der durch Jesus erwirkten Sündenvergebung einstimmen lässt (Dan 7,14). Die Urgemeinde verstand sich also als eschatologische Heilsgemeinschaft, in der die Völkerverständigung schon Realität sei und auf den verheißenen Völkerfrieden (Jes 2,2-4) vorausweist.
Mitglieder und Organisation
Die Urgemeinde bestand im Wesentlichen aus "Jüngern" - Männern und Frauen -, die Jesus von Nazaret schon in Galiläa zu seinen Nachfolgern berufen hatte und die ihn auf seinem Weg nach Jerusalem begleitet hatten. Hinzu kamen Juden, aber auch griechischsprachige Proselyten und Sympathisanten des Judentums, die sich durch die Missionspredigten der Urchristen gewinnen und taufen ließen.
Zwölf der von Jesus berufenen männlichen Nachfolger hebt die Evangelienüberlieferung als Erstberufene und Abbild der zwölf Stämme Israels hervor. Ihnen gemeinsam zeigte sich Jesus nach dem Glauben der zweiten Christengeneration als der Auferstandene und berief sie dabei zur Mission: Dies begründete ihre Autorität als Apostel. Als Apostel galt jeder, der nach Jesu Tod Augenzeuge einer Erscheinung des auferstandenen Jesus geworden war. Dieser Kreis ging über die Zwölf hinaus: Erst Lukas, der Verfasser der Apostelgeschichte, identifizierte ihn mit den Leitern und Gründern der Urgemeinde.
Der Zwölferkreis reduzierte sich durch das Ausscheiden von Judas Iskariot auf elf Jünger, so dass die Nachwahl eines Apostels nötig wurde (Apg 1,15-26). Damit wurde das Kriterium eines Apostels - die Berufung durch Jesus selbst - bereits ausgeweitet auf eine von den übrigen Aposteln bestimmte Nachfolgeregelung.
Das starke Anwachsen der Gemeinde brachte Probleme mit sich. Laut Apg 6,1-7 wurden die Witwen aus dem griechischsprachigen Gemeindeteil bei der Versorgung übersehen. Dies deutet auf räumliche Distanz zu dieser Untergruppe hin. Daraufhin habe die Vollversammlung der Urgemeinde sogenannte Diakone ausgewählt, um die gerechte Versorgung aller Witwen sicherzustellen. Genannt werden Stephanus, Philippus, Prochorus, Nikanor, Timon, Parmenas und Nikolaus: Ihre griechischen Namen verweisen ebenfalls darauf, dass es sich um eine Untergruppe handelte, die sogenannten Hellenisten. Zudem wurde nach dem Tod des Stephanus nur ein Teil der Urgemeinde aus Jerusalem vertrieben, während der Zwölferkreis dort geblieben sein soll (Apg 8,1).
Die Aufgabe der Diakone war jedoch nicht klar abgegrenzt: Von Stephanus (Apg 6,8 - 8,1) und Philippus (Apg 8,4-13 und 8,26-40) werden keine diakonischen Dienste berichtet, sondern sie traten ebenfalls als Missionare auf. Daher gilt ihre Berufung als Indiz für erhebliche Spannungen zwischen judäischen und hellenistischen Judenchristen in der Urgemeinde.
Wesentliches Element der Urgemeinde, die nach Lukas (Apg 2) durch die Ausschüttung des Heiligen Geistes an Pfingsten entstand, waren wohl auch Propheten, die wie ihre Kollegen in Korinth direkte Offenbarungen Gottes empfingen, in "Zungen" redeten und verschiedene "Charismen" (Gnadengaben) mitzuteilen hatten (vgl. 1. Kor 12-14). Mit der ungebundenen, auf individuelle Fähigkeiten und Gaben zugeschnittenen losen Organisationsform trat aber auch das Problem der Falschpropheten und Irrlehrer auf, von denen sich bereits die Urgemeinde abgrenzen musste (Apg 20,30).
Bis wann der Zwölferkreis die Leitung innehatte, ist ungewiss. Paulus von Tarsus nennt in seinem Galaterbrief (um 48) bereits nur noch die "drei Säulen" Jakobus, Simon Petrus und Johannes (Gal 2,9). Die Zeugenliste der Urgemeinde (1. Kor 15,3-8) bestätigt, dass Jakobus, der älteste Bruder Jesu, eine eigene Vision des Auferstandenen als Berufung zum Apostel erhielt. Er war zu Jesu Lebzeiten nicht sein Nachfolger gewesen, gewann aber nach Ostern die Leitung der Urgemeinde. Er vertrat in ihr die Gruppe der "Judaisten", die von allen neugetauften Heidenchristen die Beschneidung, also den Übertritt zum Judentum verlangten. Daher nannte Paulus ihn sogar gegenüber Petrus, der sonst in allen Apostellisten an erster Stelle steht, als Hauptpartner seiner Verhandlungen über die Heidenmission.
Bald traten neben die Apostel und Diakone auch noch sogenannte "Älteste" bzw. Presbyter (Apg 11,30: 15,6; 16,4). Deren genaue Aufgaben waren ursprünglich nicht fest umrissen; die wachsende Urgemeinde existierte zunächst ohne "Vorstand". Doch mit der Arbeitsteilung begann auch eine gewisse Ämterhierarchie, die später in das monarchische Episkopat mündete.
Die Mitgliederzahl der Urgemeinde lässt sich nur schätzen. Die Apostelgeschichte nennt 3.000 Erstgetaufte schon nach der ersten Petruspredigt (Apg 2,41), bald darauf 5.000 (Apg 4,4): Diese Zahlen erscheinen angesichts der vom Sanhedrin geduldeten Treffen im Jerusalemer Tempel weit überhöht. Andererseits weist die frühe Arbeitsteilung zwischen Aposteln, Diakonen und Ältesten auf eine nicht mehr von einem dutzend Leitern zu verwaltende Größe hin: Sie wird demnach anfangs irgendwo zwischen 500 (vgl. 1. Kor 15, 6) und 3.000 gelegen haben.
Theologie und Gottesdienst
Das Bild der Urgemeinde ist vor allem durch Apg 2,37-47 bestimmt: Auf die urchristliche Missionspredigt, die ganz auf die Verkündigung der Auferstehung Jesu und seine Erhöhung zum "Kyrios" ausgerichtet ist, folgt die Bekehrung und Taufe neuer Jünger. Diese bedeutet Anteilgabe an der Vergebung der Sünde und damit Aufnahme in die endzeitliche Heilsgemeinschaft, Rettung aus dem erwarteten Endgericht und Empfang des Heiligen Geistes, der zum Halten der Gebote Jesu und zur Ausbreitung seiner "Lehre" befähigt. Folgende Kriterien verbinden die Urchristen zu einer Gemeinschaft:
- Sie blieben beständig in der Apostel Lehre, also im Glauben an die ihnen verkündete Auferstehung Jesu.
- ...und in der Gemeinschaft: Die Urchristen kamen täglich zur Gottesdienstfeier zusammen.
- ...und im Brotbrechen: Sie hielten dort das Abendmahl im Gedenken an das letzte Mahl ihres Herrn.
- ...und im Gebet: Hier könnte das Vaterunser bereits als von Jesus selbst gelehrtes Gebet gemeint sein.
- ...und geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel: Sie setzten den Heilauftrag, den sie als Nachfolger Jesu erhalten hatten (Mt 10), innerhalb der Urgemeinde durch Zuwendung zu den Kranken fort.
- Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Die Gütergemeinschaft war wesentliches, von Lukas hervorgehobenes Kennzeichen der Urgemeinde, das als Folge der Geistausgeißung zugleich die Heiligkeit der Kirche als "Ecclesia" (Herausgerufene) begründete.
- Auch verkauften sie Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem einer in Not war: Die Versorgung der Bedürftigen aus dem Gemeinschaftsbesitz war eine Aufgabe der später hinzugewählten "Diakone".
- Und sie waren täglich und stets einmütig beieinander im Tempel...: Das Jerusalemer Zentralheiligtum blieb auch der Versammlungsort der Christen, so dass diese anfangs dessen kultische Gebräuche einhielten und als Teil des Judentums akzeptiert wurden.
- ...und brachen das Brot abwechselnd in den Häusern...: Die Abendmahlsfeier war anfangs nicht von einem gewöhnlichen Sättigungsmahl getrennt und als Agapefeier mit der Nahrungsverteilung an die Notleidenden verbunden. Diese fand nicht im Tempel, sondern im Kreis der Familie und in Hausgemeinden statt.
- ...nahmen die Speise mit Freuden und lauterem Herzen, lobten Gott und hatten Gnade beim ganzen Volk: Auch dies hebt die Harmonie zwischen Urchristen und der jüdischen Umgebung hervor. Das Lob Gottes einte sie miteinander.
Taufe, Befolgen der Lehre des Auferstandenen (Mt 28,20) und Besitzaufgabe zugunsten Aller bildeten also die gleichrangigen "Aufnahmebedingungen" der Urgemeinde. Gebet, Agapefeier mit Abendmahl, Gotteslob, Glaubensbekenntnis, Heiltätigkeit, Armenfürsorge, öffentliche Missionspredigt, Bereitschaft zum Martyrium - "Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg 5,29) - waren wesentliche Grundelemente ihres Gottesdienstes.
Von einer Schriftlesung erfährt man in diesem Rahmen nichts; anzunehmen ist jedoch, dass diese den öffentlichen Missionspredigten wie in den Synagogen vorausging, weil sie zur Verkündigung des auferstandenen Jesus notwendig dazu gehörte (Lk 24, 27). Die Wortverkündigung war nicht den Aposteln vorbehalten: Vermutlich konnte auch jedes Gemeindeglied seine Gedanken zu den überlieferten Lehren und Schriften vortragen, solange die Versammelten dies nachzuvollziehen bereit waren.
Die ersten Petruspredigten spiegeln die Grundgedanken der apostolischen Mission: Jesus war für sie der durch Israels ganze biblische Geschichte angekündete Heilsbringer des Gottesvolkes, dessen Kreuzestod als Übernahme des Endgerichts die Segensverheißungen an die Erzväter erfüllt, dessen Auferweckung Gottes Versöhnung mit Israel in Kraft setzt, das Heil den Völkern eröffnet und die Hörer der Predigt zur Buße ruft.
Auch die von Paulus aufgenommenen Credoformeln stellen Jesu Selbsthingabe und seine Auferweckung durch Gott ganz ins Zentrum der urchristlichen Glaubenslehre. Die frühe Dogmatisierung des Zwölferkreises in allen Evangelien zeigt zudem: Die Urgemeinde verstand sich als vom zu Gott erhöhten Messias Jesus Christus auserwählte endzeitliche Vorausdarstellung des gesamten Gottesvolks. Ihre Israelmission hatte daher Vorrang.
Gütergemeinschaft
Ob die Mitglieder der Jerusalemer Gemeinde tatsächlich ohne Eigentum lebten und ihren ganzen Eigenbesitz teilten, ist umstritten. Manche Exegeten halten dies für ein Motiv des unhistorischen lukanischen Idealbilds, das auf analoge Überlieferung in der hellenistischen Umwelt - etwa die Gütergemeinschaft des Pythagoras - zurückgreift.
Jedoch formulieren schon sehr frühe Redestoffe der Logienquelle die Besitzlosigkeit als Bedingung der Nachfolge Jesu (Mt 10,9f). Denn die Jünger gehörten zu den Bettelarmen (griech. ptochoi), die damals die Masse der galiläischen und judäischen Bevölkerung (ochlos) stellten. Sie galten aufgrund der Seligpreisungen der Bergpredigt Jesu als das wahre erwählte Gottesvolk (Mt 5,1-11). So wurden auch Reiche zur Besitzaufgabe verpflichtet, um Jesu Jünger werden zu können (Mk 10,21):
- Geh hin, verkaufe alles, was Du hast und gib es den Armen, so wirst Du einen Schatz im Himmel haben, und dann komm und folge mir nach.
Das zielte bei Jesus anders als im Hellenismus nicht auf die Erlangung des eigenen Seelenheils durch asketische Vollkommenheit, sondern auf die reale irdische Vorwegnahme der himmlischen Gerechtigkeit, die Gott den Armen mit dem Kommen des Messias im Judentum verheißen hatte. Das Teilen von Besitz und Nahrung, Gütergemeinschaft und Armenspeisung, wurde daher auch in anderen jüdischen Endzeitgemeinschaften wie dem Kloster Qumran geübt, die sich dabei jedoch nicht an die Mehrheit des Volkes wandten, sondern als "heiliger Rest" in die Wüste zurückzogen.
Erst zur Zeit des Lukas, als die urchristliche Mission die wohlhabenden Küstenstädte Kleinasiens erreicht hatte, wurde aus der für die Jesusjünger selbstverständlichen Besitzaufgabe ein moralischer Appell, der offenbar nur noch ausnahmsweise befolgt und daher besonders hervorgehoben wurde (Apg 4,36f): Manche verkauften ihren ganzen Besitz und brachten das Geld den Aposteln, die davon die gesamte Gemeinschaft versorgten (Apg 5,32-5,37). Diese Armenfürsorge war nun weniger ein Bestandteil der Feindesliebe von Reichen gegenüber Armen (vgl. Lk 6,27-35) als des innergemeindlichen Besitzausgleichs. Sie blieb freilich auch so innerhalb der antiken Klassengesellschaft äußerst ungewöhnlich und attraktiv.
Lukas belegte das Für-sich-Behalten von Besitz, der der Urgemeinde gehörte, mit einem Tabu: Wer sich taufen ließ, ohne all seinen Besitz der Gemeinschaft zu übereignen, der "hinterging" den Stifter der Urgemeinde selbst, den Heiligen Geist, und verlor damit sein Lebensrecht. Diese Heiligkeit der Urgemeinde drückt die Geschichte von Ananias und Saphira analog zu alttestamentlichen Verwerfungserzählungen aus (Apg 5,1-11).
Das christliche Gemeineigentum wurde gelegentlich als frühe Form eines Kommunismus aufgefasst. Dieser Begriff umfasst jedoch auch die gemeinsame Produktion, von der die Apostelgeschichte nichts berichtet. Da die Urgemeinde sich als Vorwegnahme des endzeitlichen Gottesvolks verstand, beinhalteten ihre Heilserwartungen wie die des Judentums jedoch indirekt auch die zukünftige radikale Umwälzung der irdischen Produktionsverhältnisse (vgl. Lk 1,46-55). Dies hat in der Kirchengeschichte vielfältig weitergewirkt, etwa in manchen Mönchsorden, Klostergemeinschaften und Basisgemeinden.
Gruppen und Konflikte
Nach der Apostelgeschichte lebten die Mitglieder der Urgemeinde zunächst harmonisch miteinander. Erste Probleme ergaben sich im Zusammenhang der Armenversorgung: Die sogenannten "Hellenisten" -Judenchristen mit griechischen Namen, die wohl aus der jüdischen Diaspora des Mittelmeerraumes stammten - warfen den übrigen Juden Palästinas vor, ihre Witwen bei der täglichen Versorgung zu benachteiligen (Apg 6,1).
Dies zeigt nicht nur ein Verwaltungsproblem, sondern einen Konflikt um die Führungsrolle der Apostel. Denn die Urgemeinde erhielt eine Armenkollekte aus den übrigen neuen christlichen Gemeinden (Gal 2,10; Apg 11,29): Wer sie verteilen durfte, war offenbar bald umstritten. Mit der Wahl von "Diakonen" erhielten die Hellenisten in der Urgemeinde eine gewisse Eigenständigkeit.
Diesen inneren Konflikt begleitete das Misstrauen der obersten jüdischen Behörde in Jerusalem, des Sanhedrin: Ihm oblag die Wahrung der religiösen Einheit des Judentums. Nach Apg 4 verhörte er Petrus und Johannes und versuchte, ihre Missionspredigt zu unterbinden. Doch die Sympathien der Bevölkerung hätten die Leiter der Urgemeinde bewahrt (v.21). Nach ihrer erneuten Festnahme war es der Rat des Pharisäers Gamaliel, der ihre Freilassung erwirkte (Apg 5, 34-40). Hier spiegelt sich schon die Machtverschiebung im Judentum von Sadduzäern zu Rabbinern zur Zeit des Lukas.
Die Anfänge der Heidenmission gingen wohl von den Hellenisten aus: Denn ihr Führer Stephanus übte Kritik am mosaischen Gesetz und am Tempelkult (Apg 6,13f). Er warf dem Sanhedrin öffentlich Rechtsbruch und Justizmord an Jesus vor. Dem folgte ein Religionsprozess, der mit seiner Steinigung endete (Apg 7,56). Darauf wurde ein Teil der Urgemeinde aus der Tempelstadt vertrieben und zerstreute sich in die Nachbarregionen. Der Zwölferkreis blieb als Keimzelle eines Neuaufbaus der Urgemeinde in Jerusalem bestehen. Von seinen gemeinsamen Aktionen weiß Lukas jedoch nichts zu berichten.
Hellenistische Missionare wie Philippus gründeten neue Gemeinden (Apg 8,40), so dass sich das Christentum in Samaria, Syrien und Kleinasien ausdehnte. So entstand in der kleinasischen Metropole Antiochia die erste große, aus Juden und Heiden gemischte Gemeinde neben Jerusalem. Diesen neuen Christen wurde die Einhaltung der jüdischen Gebote offenbar erlassen: Deshalb wurden sie von gesetzestreuen Juden wie dem Pharisäer Paulus von Tarsus im Auftrag des Sanhedrin heftig verfolgt (Apg 8,1f). Doch nach seiner unerwarteten Bekehrung trat er für die gesetzesfreie Völkermission ein und missionierte zunächst unabhängig von den Aposteln der Urgemeinde im Mittelmeerraum (Apg 8-10).
Die Leiter der Urgemeinde waren sich uneins, ob den Heidenchristen, also Neugetauften nichtjüdischer Abstammung, Auflagen gemacht werden sollten. Deshalb kam es zwischen Petrus, den Lukas als ersten Heidenmissionar darstellt, und Jakobus bald darauf zu Spannungen (Apg. 11). Vor allem die Frage der Beschneidung führte das Urchristentum in eine Zerreißprobe: Sollten Heiden zugleich mit der Taufe auch beschnitten und damit zum Einhalten der ganzen jüdischen Tora verpflichtet werden?
Damit stellte sich die theologische Grundsatzfrage, ob Christsein nur als Teil des Judentums möglich sei oder diesen Rahmen aufhebe. Dies betraf fundamental das Selbstverständnis der Urgemeinde: Diese verstand sich primär als vom Messias aus Sünde und göttlichem Zorngericht gerettete "Vorhut" des noch zu rettenden Gottesvolks Israel. Demnach waren Heidenchristen "Hinzuberufene", die ihre Rettung ganz und gar dem "Gnadenüberschuss" des Heilsmittlers verdankten. Die Unklarheit, was das in Bezug auf den "alten Bund" und das jüdische Religionsgesetz bedeute, drängte auf eine verbindliche Lösung.
Das Apostelkonzil
Weitere Geschichte
Die Urgemeinde hatte die Verfolgung nach der Hinrichtung des Stephanus (um 36) ebenso wie die Hinrichtung von Jakobus dem Älteren unter Herodes Agrippa I. (44) überstanden, wurde also weiterhin von den Führungsgruppen des Judentums geduldet. So konnte sie von Jerusalem aus ihre Juden- und Heidenmissionare in die umgebenden Regionen aussenden.
Aus Notizen der Evangelien lässt sich erschließen, in welchen Gegenden neue christliche Gemeinden gegründet wurden: So listet Mk 3,7 neben Galiläa, Judäa und Jerusalem auch Idumäa (im Süden Judäas), Peräa (im Osten) und Phönizien (Küstenregion im Westen) auf. Mt 4,24f nennt stattdessen die Dekapolis, einen hellenistischen Städtebund im Ostjordanland, und Syrien, Lk 6,17 neben Phönizien auch Samaria. Paulus besuchte nach seiner Bekehrung nicht nur Damaskus, sondern auch "Arabien" (Gal 1,17): Damit war damals das Reich der Nabatäer östlich von Palästina gemeint. Addiert man die Angaben, erhält man ein grobes Bild der Streuung der christlichen Gemeinden in und um Palästina bis etwa 100.
Nach dem Apostelkonzil stellt die Apostelgeschichte fast nur die Missionsreisen des Paulus dar und bietet kaum noch Nachrichten über die Urgemeinde. Den Jerusalemer Zwölferkreis hatte wohl schon ein Dreiergremium unter Führung des ältesten Bruders Jesu, Jakobus, abgelöst (Gal 2,9); die übrigen Apostel treten nicht mehr in Erscheinung. Nur Jakobus und die "Ältesten" werden später nochmals als Empfänger der Armenkollekte, die Paulus beim Konzil aufgetragen worden war, genannt (Apg 21,15ff). Petrus hatte Jerusalem nach dem Konzil verlassen und reiste als Missionar in Kleinasien umher (Gal 2,11-14; 1. Kor 9).
Deshalb gilt Jakobus als nunmehr alleiniger Leiter der Urgemeinde. Er setzte offenbar die Beschlüsse des Apostelkonzils außerhalb Jerusalems durch (Gal 2,12) und befürwortete auch nach den Missionserfolgen des Paulus die Abgrenzung der Judenchristen von den Heidenchristen (Apg 21,21-25). Bis zu seinem Tod behielt die Urgemeinde ihre Vorrangstellung im Urchristentum.
Obwohl Paulus in seinen Gemeinden gegen Gruppen zu kämpfen hatte, die seine gesetzesfreie Heidenmission ablehnten oder verfälschten, setzte er deren Missionare nicht mit seinen Feinden gleich (u.a. den "Überaposteln" in 2. Kor 11,5 und 12,11), sondern erkannte stets den Vorrang der Urgemeinde an: Dies bestätigt seine Kollektensammlung für die Urgemeinde noch um 60 (Röm 15,25-28).
Dennoch wurde das immer stärkere Übergewicht der Heidenmission der Urgemeinde zuletzt zum Verhängnis: Dies zeigt schon der erste Brief an die Thessalonicher (etwa 50 entstanden), wo Paulus heftig gegen die jüdischen Autoritäten polemisiert, die seine Mission verfolgen (1. Thess 2,14f). So wurde er nach seiner Kollektenübergabe in Jerusalem inhaftiert (Apg 21,27ff). Ob dies auch die Urgemeinde selbst betraf, ist ungewiss. Angenommen wird, dass sich ihre Gefährdung in den Jahren vor dem großen Jüdischen Aufstand gegen die Römer immer mehr zuspitzte.
Den außerbiblischen Berichten des Flavius Josephus zufolge nutzten die Sadduzäer unter dem Hohenpriester Ananos (Hannas II.) das Machtvakuum nach dem Tod des Statthalters Festus bis zum Eintreffen seines Nachfolgers, um Jakobus mit anderen Judenchristen Jerusalems hinzurichten. Sein Tod wird auf das Jahr 62 datiert. Mit dem Beginn des Aufstands 68 mussten die verbliebenen Mitglieder der Urgemeinde in das Umland fliehen, da sie sich weigerten, am Aufstand teilzunehmen.
Doch nach der Tempelzerstörung 70 wurde eine Restgemeinde in Jerusalem neu gegründet; Söhne des Jakobus und andere Verwandte Jesu hatten ihre Leitung inne und sorgten für die Kontinuität ihrer Traditionen. Ihre Führungsrolle in der übrigen Christenheit war jedoch nicht mehr zu erneuern. Sie verlor nun immer mehr an Bedeutung für die Ausbreitung des Christentums im römischen Reich, für seine organisatorische und theologische Konsolidierung.
Im Zuge des Bar-Kochba-Aufstands musste der Rest der Urgemeinde 135 erneut aus Jerusalem fliehen und wurde von einer judenchristlichen Gemeinde in Pella im heutigen Jordanien aufgenommen. Damit war die Existenz der Jerusalemer Urgemeinde beendet.
Siehe auch
Literatur
- Hans Conzelmann: Geschichte des Urchristentums; Grundrisse zum Neuen Testament 5; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 61989; ISBN 3-525-51354-2
- Leonard Goppelt: Theologie des Neuen Testaments; UTB 850; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 31978; ISBN 3-525-03252-8
- Ludger Schenke: Die Urgemeinde; Stuttgart: Kohlhammer, 1990; ISBN 3-17-011076-4