Lebensphilosophie
Lebensphilosophie ist eine Richtung der Philosphie, die von Wilhelm Dilthey im 19. Jahrhundert in Abgrenzung zur Naturwissenschaft entwickelt worden ist. Das Werden des Lebens, die Ganzheitlichkeit kann demnach nicht allein mit Begriffen und Logik erfasst und beschrieben werden. Zu einem umgreifenden Leben gehören ebenso nicht-rationale, kreative und dynamische Elemente.
Viele Lebensphilosophen sind Anhänger eines Vitalismus, d.h. Leben entsteht nach dieser Auffassung nicht aus toter Materie, sondern es gibt eine eigenständige Lebenskraft (élan vital, Entelechie).
Die Lebensphilosophie ist also eine das Phänomen des Lebens erklärende metaphysische Lehre. Diese Kritik des Rationalismus findet sich schon grundlegend bei Schopenhauer und Nietzsche, die daher oftmals als Begründer der Lebensphilosophie, ohne dass sie den Terminus verwendeten, angesehen werden. Heute ist die Lebensphilosophie nur noch historisch relevant. Sie beeinflusste vor allem die Vertreter der Existenzphilosophie, lebt aber auch fort in ganzheitlichen Lebensauffassungen, wie sie in der modernen Ökologiebewegung zu finden sind.
Wilhelm Dilthey
Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) wendete sich vor allem gegen die deterministische naturwissenschaftliche Variante von John Stuart Mill, Herbert Spencer u.a. Erleben ist ein Erleben von Zusammenhängen, die nicht einfach in Einzelelemente zergliedert werden können. Diltheys Interesse galt vor allem geschichtlichen Betrachtungen. Hierzu führte er die heute noch übliche Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ein. Während das wissenschaftliche Prinzip der ersteren das des Erklärens ist, muss in den Geisteswissenschaften das Prinzip des Verstehens zugrunde gelegt werden.
Die Naturwissenschaften versuchen aus einzelnen Phänomenen eine allgemeine Regel zu finden. In den Geisteswissenschaften befasst man sich hingegen gerade mit dem einzelnen Phänomen wie einem historischen Ereignis oder einer Biographie. Ein Eckpunkt der Philosophie Diltheys ist der Zusammenhang von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen. Das Prinzip des Verstehens, die Hermeneutik , ist dabei nicht nur auf Texte anzuwenden, sondern auch auf Kunstwerke, religiöse Vorstellungen oder Rechtsprinzipien. Im Verstehen wirkt nicht nur das kognitive Denken, sondern auch das emotive Wollen und Fühlen des Betrachters. Es bedarf einer ganzheitlichen Betrachtungsweise, die z.B. durch eine analytische Psychologie, die Einzelaspekte untersucht, nicht geleistet werden könne. In Folge der Gedanken Diltheys entwickelte sich die Gestaltpsychologie, die vor allem deskriptiv angelegt ist.
Henri Bergson
Henri Bergson (1859 – 1941) sieht einen Unterschied zwischen der erlebten Zeit als Seelenzustand und der analytischen Zergliederung der Naturwissenschaft, der eine am Raum orientierte Vorstellung zu Grunde liegt. Der Mensch nimmt direkt Strukturzusammenhänge wahr, die man nicht teilen kann. Dementsprechend ist die naturwissenschaftlich analytische Psychologie, die einzelne psychische Elemente zu erfassen sucht, nicht geeignet, ein Gesamtbild eines Seelenzustandes zu erfassen. Bewusstsein kann man nur qualitativ erfassen. Physikalisch erfasste Zeit ist determiniert und kausal. Erlebte Zeit als Dauer ist die Voraussetzung für Freiheit. Wahrnehmung erfolgt ursprünglich in Bildern und beinhaltet auch immer zugleich Erinnerung und Bedürfnis, also Vergangenheit und Zukunft. Zur Erkenntnis des ganzheitlichen Wesens von Dingen bedarf es der ergänzenden Intuition.
Hans Driesch
Hans Driesch (1867 – 1941) stellte aufgrund seiner biologischen Forschungen fest, dass Keime, die gespalten werden, sich wieder zu vollwertigen neuen Keimen ausbilden. Hieraus schloss er, dass in der Natur eine nicht kausal bestimmte Naturkraft gäbe, die er in Anlehnung an Aristoteles Entelechie nannte. Aufgrund seiner Auffassungen gilt Driesch als Vertreter des Neovitalismus.
Ludwig Klages
Ludwig Klages (1872 – 1956) betonte den Gegensatz von Leib und Seele einerseits sowie des Geistes andererseits. „Der Takt wiederholt, der Rhythmus erneuert.“ Im Denken des Geistes lösen wir für einen endlichen Moment den Gegenstand aus seiner phänomenalen Wirklichkeit, aus einem stetigen raumzeitlichen Kontinuum. Von Hause aus Chemiker stand Klages als Philosoph und Dichter den Naturwissenschaften kritisch gegenüber. Erkenntnistheorie war für ihn Bewusstseinswissenschaft. An Nietzsche schätzte er die Aufdeckung von Selbsttäuschungen, Wertfälschungen und kompensatorischen Idealen, lehnte aber seine Erkenntnistheorie grundlegend ab. Durch sein ganzheitliches Leben mit ständigem Einsatz für den Naturschutz gilt er als einer der Urväter der modernen Ökologiebewegung.
Georg Simmel
Für Georg Simmel (1858 – 1918) enthält das Erkennen Kategorien a priori, die jedoch im Zuge der Evolution und der Person eine Entwicklung durchmachen. Im Erkennen wird das Chaos der Erlebnisse geordnet. Unser individuelles Denken kann aber nicht die Einheitlichkeit der Totalität voll erfassen. Ideelle Inhalte wie Wahrheit bilden ein von der Psyche unabhängig geltendes Reich. Die Vorstellung der Wahrheit veranlasst den Menschen zu nützlichem Verhalten entsprechend den Lebensanforderungen. Wahr ist, was sich in der Selektion bewährt hat und zweckmäßig war. Das Sollen ist eine ursprüngliche Kategorie, wenn auch in der Praxis die Inhalte wechseln. In ihm kommt der Wille der Gattung zum Ausdruck. Altruismus ist Egoismus der Gattung. Simmel war neben seiner philosophischen Tätigkeit auch ein bedeutender Vertreter der Soziologie.
siehe auch
Rudolf Eucken, Oswald Spengler, Georg Misch, Erich Rothacker, Hans Freyer, Theodor Litt, Jose Ortega y Gasset, Otto Friedrich Bollnow, Eduard Spranger, Ernst Troeltsch
Literatur
- Berdjajew, Nikolaj: Das Ich und die Welt der Objekte, Darmstadt 1951
- Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis und andere Schriften, Frankfurt a.M. 1964
- Bollnow, Otto Friedrich: Die Lebensphilosophie, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1958
- Fellmann, Ferdinand: Lebensphilosophie, Reinbek b. Hamburg 1993
- Klages, Ludwig: Mensch und Erde, 5. Aufl. Jena 1937
- Lessing, Theodor: Europa und Asien. Der Untergang der Erde am Geist, 5. Aufl. Leipzig 1930
- Ortega y Gasset, José: Der Aufstand der Massen, Reinbek 1956
- Simmel, Georg: Lebensanschauung, München/Leipzig 1918