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Totemismus

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Totemismus ist eine Geisteshaltung, bei der eine Einzelperson oder eine Gruppe von Menschen dauernde Beziehungen zu Tieren, Gegenständen und Erscheinungen (den Totems) unterhält, denen man sich gefühlsmäßig oder in einem mystischen oder verwandtschaftlichen Sinne (Abstammung) verbunden glaubt.

Man unterscheidet zwischen Individual- und Gruppentotemismus, je nachdem ob ein Individuum oder eine ganze Gruppe mit dem Totem in Beziehung steht. In den meisten Fällen ist das Totem ein Tier. In den allermeisten Fällen ist man überzeugt, dass der mythische Urahn und das Totem einen gemeinsamen Ursprung haben. Die enge Mensch-Tier- Beziehung könnte aus der jägerischen Schicht stammen, also relativ alt sein. Das Totemtier wird häufig mit einem Tabu belegt, z.B. mit einem Meidungsgebot.

Die weltanschaulichen und religiösen Grundlagen stammen aus einem Vorstellungsbereich, der den Jägervölkern besonders nahe liegt und eine magische und religiöse Bindung an die Tiere verrät. Die Tiere erscheinen dabei als menschenähnliche, beseelte oder mit Zauberkräften ausgestattete Wesen.

Totemismus und Verwandtschaft

Das Wort Totem stammt aus der Algonkin-Sprache des südlichen Kanada und bedeutet "Verwandtschaft, Familienabzeichen oder auch persönlicher Schutzgeist". Im Totemismus werden Personen als miteinander verwandt angesehen, wenn sie den selben Totem (Nachnamen) haben. Aufgrund des Inzesttabus ist es keinem Gruppenmitglied gestattet, geschlechtliche Beziehungen zu einem Angehörigen des selben Totems aufzunehmen - unabhängig davon natürlich, ob die beiden genetisch miteinander verwandt sind.

Angehörige eines Totems glauben, daß sie in letzter Linie von einer bestimmten Pflanze, einem Tier oder auch einem Stein/Berg/Felsen abstammen, unter dessen Schutz sie stehen bzw. für dessen Schutz sie verantwortlich sind. Sie wähnen sich in einem mystisches Bündnis mit ihrem Totem und tragen auch diesen Namen. Innerhalb der Gruppe waren sie für diesen Totem zuständig, mußten dafür sorgen, daß er in ausreichender Menge vorhanden war, durften diesem selbst aber kein Leid zufügen. Eine Person, die dem Totem des Schweines angehörte, mußte beispielsweise durch Magie oder Jagdzauber für erfolgreiche Schweinejagd sorgen, sagen, wo sich diese aufhalten usw., durfte aber selbst kein Schwein töten oder essen. Auch die Verletzung des Verbotes, dem eigenen Totem zu schaden, wurde als Inzest behandelt und wie die Verletzung des Inzesttabus bestraft.

Der Totemismus ist ein weltweites Phänomen; seine stärkste Ausprägung hat er vielleicht in Australien erfahren. Je nachdem ob die Abstammungsregel matrilinear oder patrilinear ist, erbt man das Totem der mütterlichen oder väterlichen Linie. Dies zeigt, dass der Totemismus in engem Zusammenhang mit Verwandtschaftssystemen steht, bzw. Abstammung mit Hilfe des Totems symbolisiert wird. Es kommt äußerst selten vor, dass das Totemtier von seinem Verehrer getötet und gegessen wird.

Entwicklung des Totemismus

Der Totemismus ist vor allem in einfachen Jäger-Kulturen verankert. Diese Wildbeuter-Kulturen werden zusehends zurückgedrängt, so dass die Bedeutung des Totemismus immer geringer wird. Der Kolonialismus und die christlichen Missionierung haben ebenso dazu beigetragen, dass der Totemismus an Bedeutung verliert. Heute hat der Totemismus seine größte Bedeutung bei den Aborigines in Australien und einigen Indianergruppen in Nordamerika.

Forschungsgeschichte

Fast alle Autoren des 19. Jh. sehen im Totemismus den Ursprung der Religion oder zumindest ihre früheste uns bekannte Form. Alle Theorien basieren auf dem Evolutionismus.

Gelehrte wie William Robertson Smith (1846-1894) (und Sigmund Freud) führen das Opfer auf den Totemismus zurück. Das Totem sei streng tabuisiert, werde aber bei feierlichen Anlässen geschlachtet und gemeinsam aufgegessen. F.B. Jevons vermutete 1896 eine lineare Entwicklung vom Totemismus zur Religion. Der Animismus sei eher eine primitive Philosophie als eine Form religiöser Vorstellungen.

Der Völkerpsychologe Wilhelm Wundt schrieb 1912, "es ergebe sich mit hoher Wahrscheinlichkeit der Schluss, dass die totemistische Kultur überall einmal eine Vorstufe der späteren Entwicklungen und eine Übergangsstufe zwischen dem Zustand der primitiven Menschen und dem Helden- und Götterzeitalter gebildet hat".

John Ferguson McLennan (1827-1881) brachte als erster den Totemismus mit Religion in Zusammenhang. Er sah darin ein Überbleibsel des Fetischismus. Smith ging weiter und erblickte im Totemismus den Ursprung der Religion überhaupt. James Frazer vertrat 1910 in "Totem und Exogamie" den gegenteiligen Standpunkt: "Reiner Totemismus ist in sich selbst ganz und gar keine Religion, denn die Totems werden nicht verehrt, sie sind in keinem Sinne Gottheiten." Deshalb sei nur von einer Verehrung von Totems zu sprechen.

Sigmund Freud

Emile Durkheim

Emile Durkheim übernahm von Smith vier Grundgedanken: (1) dass die primitive Religion ein Clankult sei und (2) dass dieser Clankult totemistisch sei (er glaubte, Totemismus und das Einteilungssystem der Clans bedingten einander automatisch); (3) dass der Gott des Clans der spiritualisierte Clan selbst und (4) dass der Totemismus die elementarste und in diesem Sinne ursprünglichste uns bekannte Form der Religion sei.

Er sah Religion als einheitliches System von Glaubensvorstellungen und Praktiken, die auf heilige Dinge bezogen sind, d.h. auf isolierte und verbotene Dinge. Nach diesem Kriterium kann Totemismus als Religion definiert werden. Welches Objekt wird nun in der totemistischen Religion verehrt? Es ist nach Ansicht von Durkheim die Gesellschaft selbst, was die Menschen verehren. Das Totem ist zugleich Symbol für den Gott oder das Lebensprinzip wie für die Gesellschaft, denn Gott und Gesellschaft sind das gleiche. In dem Totemsymbolen drücken die Clanangehörigen ihre Identität und ihre Gruppenzugehörigkeit aus.

Mit seinem soziologischen Ansatz kappt Durkheim jede Transzendenz der Religion und verlegt sie ins Diesseits, indem er sie im Sozialen begründet.

Kritik

Da es äußerst selten vorkommt, dass das Totemtier getötet und gegessen werde und entbehrt die Opfertheorie von Freud und Smith ihrer wichtigsten Grundlage. Der Totemismus ist zwar weltweit verbreitet, aber zahlreiche wildbeuterische Altvölker (z.B. Pygmäen, sibirische Altvölker) kennen den Totemismus nicht. Daher ist die These Wundts, der Totemismus sei eine allgemeine Durchgangsstufe, nicht stichhaltig.

Siehe auch:

Literatur

  • Josef Franz Thiel: Religionsethnologie, Grundbegriffe der Religionen schriftloser Völker, Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 1984
  • Walter Hirschberg (Hrsg.): Neues Wörterbuch der Völkerkunde, Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 1988
  • Edward E. Evans-Pritchard: Theorien über primitive Religionen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 1981