NS-Zwangsarbeit im Bereich Büdingen
„Sie wollen dafür Sorge tragen, daß hinsichtlich der in Ihrer Gemeinde eingesetzten polnischen Landarbeiter auch von Seiten der Arbeitgeber der nötige Abstand gewahrt wird."
NS-Zwangsarbeit in Büdingen und in umliegenden Gemeinden. Bericht über einen beinahe vergessenen Teil der Lokalgeschichte
Vorbemerkung
Die öffentliche Diskussion der Zwangsarbeit in der NS-Zeit, die im Zusammenhang mit deren Entschädigung mit einer Verspätung von mehr als einem halben Jahrhundert hauptsächlich in den Medien geführt wurde und ihren Höhepunkt in den Jahren 1999 und 2000 hatte, erreichte auch die Stadt Büdingen. Angeregt durch eine Initiative des Landrates des Wetteraukreises hat die Stadtverordnetenversammlung mit einem Beschluss vom März 2000 die „Erforschung und Dokumentation des Schicksals der Menschen, die in der NS-Zeit zu Zwangsarbeit in Büdingen und den – ehemals selbstständigen – Ortsteilen eingesetzt wurden“ in Auftrag gegeben.
Erste Recherchen im Archiv der Stadt Büdingen ergaben sehr schnell, dass es in Büdingen - vermutlich in allen heutigen Stadtteilen - Zwangsarbeit in bedeutendem Umfang gab. Als Gebietskörperschaften haben nachweisbar auch die Stadt Büdingen und die damals selbstständige Gemeinde Düdelsheim Zwangsarbeitende beschäftigt. Daraufhin hat die Stadtverordnetenversammlung im August 2000 mit großer Mehrheit einen weiteren Beschluss gefasst, in dem es u.a. heißt:
„Vom Sommer 1943 bis zum 1. April 1944 setzte die Stadt Büdingen selbst mindestens 42 zivile Zwangsarbeitskräfte, so genannte Ostarbeiter, ein. Für den Bereich der Gemeinde Düdelsheim ist mindestens ein Zwangsarbeiter nachweisbar. Die Stadtverordnetenversammlung bekennt sich zur Mitverantwortung der Stadt Büdingen und der Gemeinde Düdelsheim für das Unrecht, das diesen Menschen angetan wurde. Die Stadtverordnetenversammlung bedauert das Schicksal dieser Menschen zutiefst. Als einen symbolischen Beitrag zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeitskräfte überweist die Stadt Büdingen einen Betrag von 30.000 DM. (In eine Zustiftung, die die zehn Milliarden DM aufstocken, die zur Entschädigung für NS-Zwangsarbeit im Rahmen der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft je zur Hälfte von der Wirtschaft und dem Bund bereitgestellt wurden. (Anm. 1)) Die Stadtverordnetenversammlung versteht diese Zahlung nicht als Erledigung des Zwangsarbeiterproblems mit Geld, sondern sieht darin einen Beitrag, der es den heute noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern ermöglicht, ihre oft sehr schwierigen Lebensverhältnisse, insbesondere in Osteuropa, ein wenig zu erleichtern.“ (Anm. 2)
Die lokalen Aspekte der NS-Zwangsarbeit werden nur verständlich, wenn man sie vor dem Hintergrund des Ausländer-Einsatzes in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches (Anm. 3) sieht. Dieser Einsatz hatte insgesamt ungeheuerliche Ausmaße:
siehe ausgelagerter Text: NS-Zwangsarbeit
Der Komplex NS-Zwangsarbeit wurde lange Zeit verleugnet oder bagatellisiert. Erst seit den achtziger Jahren wird er erforscht. Dabei sind nicht zuletzt auch die lokalen und regionalen Aspekte von großer Bedeutung. Dazu soll dieser Bericht ein kleiner Beitrag sein. Darüber hinaus ist er ein Versuch, dieses schwierige und – auch in Büdingen – verdrängte Thema zur Sprache zu bringen. Somit ist er vor allem ein Erinnern an das Schicksal beinahe vergessener Menschen, die während des Krieges in Büdingen und den umliegenden Gemeinden lebten und allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer anderen Nationalität verschleppt und unter massivem Verstoß gegen das Völkerrecht unter oft unwürdigsten Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten. Gleichzeitig ist er ein Beleg dafür, dass sich das Unrecht des NS-Regimes auch vor Ort in aller Öffentlichkeit ereignete – also nicht nur im Verborgenen – und dieses nur deshalb so tüchtig funktionierte, weil es zu viele Gedankenlose, Vorurteilsbehaftete, Mitläufer, Nutznießer, kleinere und größere Täter gab und zu wenige, die sich nicht von der NS-Ideologie beeinflussen ließen und im Alltag den kleinen oder auch großen Mut aufbrachten, sich menschlich zu verhalten, nicht mitzumachen.
Die Überlieferung in Bezug auf die NS-Zwangsarbeit in Büdingen ist lückenhaft. Die noch vorhandenen Dokumente finden sich heute im Wesentlichen im Archiv der Stadt Büdingen, in dem sich die Archivalien fast aller heutigen Ortsteile befinden, im Fürstlich Ysenburgischen Archiv Büdingen (Anm. 8) sowie in geringen Teilen auch im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt. Einschlägige Dokumente wurden vermutlich gegen Ende des Krieges und wahrscheinlich auch noch unmittelbar nach Kriegsende – zumindest im Bereich des Landkreises Büdingen – vernichtet. Für den in Frage kommenden Zeitraum sind die auffindbaren Meldekarten der Stadt Büdingen und die Eintragungen in den vorliegenden Anmeldebüchern der heutigen Stadtteile lückenhaft. In diesen wurden alle Personenzugänge – in der Regel auch Zwangsarbeitende – in den Bürgermeistereien vermerkt. Darüber hinaus liegen Eintragungen in den Gemeinderatsprotokollbüchern der Stadt nur bis zum 8. Juli 1942 vor. Möglich ist, dass danach keine Protokolle der Gemeinderatssitzungen mehr angefertigt wurden. 1969 sind offensichtlich weitere Unterlagen im Rahmen einer „Aufräumaktion“ im Gebäude des ehemaligen Landratsamts in der Berliner Straße vernichtet worden. Schließlich sind die einschlägigen Akten von drei Stadtteilen (Anm. 9) insgesamt nicht vorhanden. Es ist daher davon auszugehen, dass die nachweisbaren Zahlen der in Büdingen und den Stadtteilen eingesetzten Zwangsarbeitenden niedriger als die tatsächlichen sind. Auch sind nur (noch) wenige vom alltäglichen Geschehen abweichende Vorgänge in den Akten dokumentiert. Dennoch entsteht bei Durchsicht der verfügbaren Dokumente ein Bild, das die Gesamtsituation der NS-Zwangsarbeit in der heutigen Großge-meinde Stadt Büdingen in wesentlichen Umrissen aufzeigt und das in einigen Details sogar sehr deutlich ist.
Vorab zusammengefasst: In Büdingen und in (vermutlich) allen Stadtteilen, damals selbstständigen Gemeinden, wurden insgesamt mindestens 944 (Anm. 10) Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter eingesetzt, als Waldarbeiter von der Stadt, von (heutigen) Stadtteilen sowie dem Fürsten zu Ysenburg und Büdingen, in der Landwirtschaft, in Gewerbebetrieben, bei den lokalen Anlagen der Reichsbahn, in Privathaushalten, im Mathildenhospital, in einem Kinderheim Frohkind und in einer evangelischen Kirchengemeinde.
Über die NS-Zwangsarbeit in Büdingen und deren Umfang, die für viele von uns heute ebenso erschreckend ist, wie sie zunächst erstaunlich wirken mag, soll hier, soweit das auf Grund der Quellenlage möglich ist, berichtet werden.
Nicht zuletzt ist hier zu erwähnen, dass dies ohne die engagierte Unterstützung von Archivleiter Peter Zinnkann und seiner umsichtigen Recherchen im Archiv der Stadt Büdingen nicht möglich gewesen wäre. Ihm gilt mein besonderer Dank.
Zur Reglementierung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Zivilarbeitenden
Beim Durchsehen der vorhanden Büdinger Dokumente fällt zunächst auf, dass es eine Vielzahl von Anordnungen der unterschiedlichsten NS-Behörden gab, die die Arbeits- und Lebensbedingungen der Zivilarbeitenden grundsätzlich bestimmten. Dabei gab es zwischen den verschiedenen Nationalitäten Abstufungen. So waren die Bestimmungen für Polinnen und Polen deutlich schlechter als für Zivilarbeitende aus Westeuropa. Den härtesten Bedingungen waren die Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion unterworfen.
Sofort nach Kriegsbeginn wurde es aus Sicht der NS-Machthaber und der Mächtigen in der Wirtschaft dringend notwendig und auch möglich, den längst geplanten Ausländer-Einsatz in der Kriegswirtschaft zu realisieren. Zunächst waren davon polnische Kriegsgefangene und Zivilisten betroffen, die nun als Erste massenweise zum Arbeitseinsatz ins Reich gebracht wurden. Organisatorisch zuständig für den Arbeitseinsatz vor Ort waren die Arbeitsämter. Eine Zuteilung ausländischer Zivilarbeitender erfolgte ausschließlich über die zuständige Stelle, hier das Arbeitsamt Büdingen, eine Nebenstelle des Arbeitsamtes Gießen. Kein Bauernhof, kein forstwirtschaftlicher Betrieb, kein Gewerbebetrieb, keine Kommune und kein Privathaushalt erhielten eine Zwangsarbeitskraft, ohne diese dort anzufordern.
siehe ausgelagerter Text: Polen-Erlasse
Bei der Durchsetzung der Anordnungen - insbesondere der rassenideologischen Aspekte - im Landkreis Büdingen war NSDAP-Kreisleiter Emil Görner eine treibende Kraft. Einem Schreiben des Oberstaatsanwaltes des Landgerichts Gießen an den Generalstaatsanwalt in Darmstadt vom 7. November 1942 ist zu entnehmen: „Im hiesigen Landgerichtsbezirk ist es namentlich ein Kreisleiter (Büdingen), (Anm. 19) der mit unerbittlicher Strenge durch die Ortsgruppenleiter ... Fälle der Tischgemeinschaften zur Anzeige bringen läßt.“ (Anm. 20)
Görner überprüfte insbesondere die Bauern im Landkreis Büdingen, ob sie das Verbot der Tischgemeinschaft mit ihren fremdvölkischen Zwangsarbeitenden beachteten.
Neben dem Arbeitsamt und dem NSDAP-Kreisleiter hatte der Landrat (Anm. 21) in Bezug auf die Verwaltung der Zwangsarbeitenden im Landkreis Büdingen eine wichtige Funktion. Er gab die diesbezüglichen Anordnungen „von oben“ an die Bürgermeistereien weiter. Dabei konkretisierte er sie nicht nur, sondern verschärfte sie oft zusätzlich. Vor allem bestand er auf ihrer penibelsten Einhaltung. So schreibt er am 7. März 1940 an die Bürgermeister:
„Es wird mir ständig darüber geklagt, daß die in der Landwirtschaft männlichen und weiblichen Polen in ihrer Freizeit, vor allem an Sonntagen, ihren Aufenthaltsort verlassen und über Land gehen. Vielfach suchen sie dann Polen in anderen Gemeinden auf und tauschen ihre Erfahrungen, die sie jeweils bei ihren Arbeitgebern gesammelt haben, aus. Ein solches Hin- und Herwandern von Ausländern, d.h. Polen, ist aus verschiedenen polizeilichen Gesichtspunkten bedenklich. Meist sind die Polen nicht im Besitz von Ausweispapieren, sodaß eine unter Umständen notwendige polizeiliche Kontrolle unterwegs auf Schwierigkeiten stößt. Es ist deshalb mit einer entsprechenden Regelung demnächst zu rechnen, daß den Polen das Verlassen ihres Aufenthaltsortes verboten ist. (Anm. 22) Einstweilen wollen Sie die polnischen Gesindekräfte und auch ihre Arbeitgeber dahin bedeuten, daß ihnen das Verlassen ihres Aufenthaltsortes untersagt ist.
Ich habe weiterhin feststellen müssen, daß polnische Arbeiter und Arbeiterinnen Schankwirtschaften aufsuchen und dort unverständlicherweise Alkohol verabreicht erhalten. In verschiedenen Fällen haben Polen und Polinnen Einlaß in Kinos erhalten. Diese sprichwörtliche deutsche (Anm. 23) Gutmütigkeit geht zu weit! Offenbar haben die in Frage kommenden Schankwirte und Kinobesitzer die ungeheueren Greueltaten der polnischen Bevölkerung, die an unseren deutschen Brüdern und Schwestern in Polen und an unseren Soldaten begangen wurden, vergessen! (Anm. 24) Dieses gedankenlose Verhalten kann keinesfalls länger zugelassen werden!
Ich beauftrage Sie deshalb, die Inhaber von Schankwirtschaften und Kinobesitzer darauf hinzuweisen, daß den im Kreis eingesetzten polnischen Arbeitern und Arbeiterinnen die Verabreichung von Alkohol, bezw. der Besuch von Schankstätten und Kinos verboten ist. Derjenige Gast- bezw. Schankwirt oder Kinobesitzer, der dieser Aufforderung weiterhin zuwiderhandelt, gibt zu erkennen, daß er nicht über die in seinem Gewerbebetrieb erforderliche Zuverlässigkeit verfügt. Sie wollen die Gast- und Schankwirte und Kinobesitzer hierauf ausdrücklich hinweisen.“ (Anm. 15)
Zwangsarbeitende in der Stadt Büdingen
Zivilarbeitende
Vorgehen gegen schwangere Zivilarbeiterinnen und gegen Kleinkinder
Zwangsarbeitende in Gemeinden um Büdingen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Anmerkungen 1 - 184 unter: NS-Zwangsarbeit im Bereich Büdingen Anmerkungen