Standpunkt-Theorie
Standpunkt-Theorie ist eine Methode zur Analyse intersubjektiver Diskurse. Sie sagt aus, dass die Erkenntnis der Welt sozial situiert sei und dass es bessere und schlechtere Standpunkte gebe, von der aus die Welt betrachtet und interpretiert werden könne. Tendenziell sei der Blickwinkel einer dominierten Gruppe besser geeignet für eine objektive Wahrnehmung als die Perspektive vom Standpunkt einer unterdrückerischen Gruppe.
Die Standpunkt-Theorie ist oftmals Bestandteil von "Identitätspolitiken".
Thesen der Standpunkt-Theorie
- Ein Standpunkt beeinflusst, welche Haltung die Menschen der sozial konstruierten Welt gegenüber einnehmen.
- Alle Standpunkte schaffen Voreingenommenheiten oder Vorurteile.
- Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bestimmt weitgehend den Standpunkt, den das Individuum einnimmt.
- Die Ungleichheiten zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen begünstigen unterschiedliche Standpunkte.
- Alle Standpunkte sind voreingenommen, aber einige Standpunkte können objektiver sein als andere.
- Der Standpunkt einer untergeordneten Gruppe ist vollständiger, weil diese mehr Grund hat, eine dominante Gruppe zu verstehen, und weil sie weniger Interesse hat, den Status quo aufrecht zu erhalten.
Hegels Standpunkttheorie
Standpunkttheoretische Konzepte setzen in der Regel bei Hegels "Herr und Knecht"-Kapitel in der "Phänomenologie des Geistes" an. Nach Hegel habe der Knecht einen erkenntnistheoretischen Vorteil gegenüber dem Herr.
- Zwei Bewusstseine stehen sich in einem paradigmatischen Kampf auf Leben und Tod gegenüber. Eines der beiden wird merken, dass es am Leben hängt und daher den Kampf abbrechen. Es ist von nun an der Knecht und muss dem Herrn dienen. Der Knecht wird nun sowohl den Herrn als anderes Bewusstsein anerkennen als auch sich selber im Produkt seiner Arbeit für den Herrn erkennen:
- "Im Herrn ist ihm das Fürsichsein ein andres oder nur für es; in der Furcht ist das Fürschichsein an ihm selbst; in dem Bilden wird das Fürsichsein als sein eigenes für es, und es kommt zum Bewusstsein, dass es selbst an und für sich ist." (Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 154)
- Das Bewusstsein des Knechts wird somit in einem dialektischem Prozess zum Selbstbewußtsein. Zum wahren Selbstbewußtsein wird es allerdings erst, wenn es seine Todesfurcht überwindet.
Marxistische und von Marx beeinflusste Standpunkttheorien
Marx hat Hegel auf den Produktionsprozess im Kapitalismus bezogen, in der sich Herr und Knecht - Kapitalisten und Proletarier - in einer organisierten gesellschaftlichen Beziehung als Klassen gegenüberstünden. Aus der Perspektive des Proletariers sei der Ablauf des Produktionsprozesses prinzipiell verfügbar, da seine Anstrengung die Beziehung zwischen Selbst und Gegenstand erst hervorbringe. Vom Standpunkt der herrschenden Klasse hingegen seien die tatsächlichen Praktiken und die hierfür erforderlichen materiellen Bedingungen nicht sichtbar. Aus dem Standpunkt des Proletariats resultiere sein Klassenbewusstsein, wenn es von der "Klasse an sich" zur "Klasse für sich" werde.
Georg Lukács machte in "Geschichte und Klassenbewußtsein" den historischen Prozess aus als das, worin sich die Wahrheit der Praxis einer Klasse ausbilde.
Nach Pierre Bourdieu beruhen die Machtverhältnisse einer Gesellschaft, die sich unter anderem im Raum der Lebensstile zeigen auf der Verfügung von Klassen über Kapitalsorten. Bourdieus Standpunkttheorie ist eine der Kritik an der von ihm so genannten "Scholastik", der scheinbar voraussetzungslosen und folgenlosen Erkenntnisproduktion, die aber in Wirklichkeit auf inkorporiertem d.h. verinnerlichtem Bildungskapital des familiären Umfeldes beruht. Die scholastische Situation sei "ein Ort und ein Zeitpunkt sozialer Schwerelosigkeit". Es sei wichtig, dass die Subjekte der Objektivierung sich selber objektivieren.
Feministische Standpunkttheorie
Die Feministischen Standpunkttheorien kritisieren Weltanschauungen , in deren Zentrum Männer stehen, beziehungsweise Männlichkeiten als Maßstab und Norm verstanden werden. Darüberhinaus vertreten sie die Position, dass aufgrund des patriarchalen Herrschaftsverhältnisse Frauen einen objektiveren Zugang zur Welt hätten. Bekanntere feministische Theoretikerinnen der Standpunkttheorie sind Nancy Hartsock, Patricia Hill Collins, Sandra Harding und Dorothy Smith.
Sandra Harding unterscheidet die schwache Objektivität, welche lediglich vom Wissenschaftler und von der Wissenschaftlerin eine Objektivität verlangt, von der strengen Objektivität, welche sich dadurch auszeichne, dass der Wissenschaftler und die Wissenschaftlerin den Standpunkt ihrer eigenen sozialen Gruppenzugehörigkeit in die Forschung bewusst miteinbezögen und die Forschung beim Leben der dominierten Gruppe begönnen. Sie fordert von Angehörigen dominanter Gruppen ein "verräterisches Bewusstsein", womit die eigene Arroganz und Ignoranz gegenüber dominierten Gruppen beendet werden solle. Allerdings müsse berücksichtigt werden, dass die Menschen über verschiedene Gruppenzugehörigkeiten gleichzeitig verfügten und somit oftmals gleichzeitig dominierten und dominanten Gruppen zugehörig seien.
Donna Haraway teilt mit der feministischen Standpunkt-Theorie die Kritik an der scheinbaren Objektivität der (patriarchalen) Wissenschaft, die nicht die soziale "Situiertheit von Wissen" mitbedenke. Sie spricht in diesem Zusammenhang vom "Gottes-Trick", da der Wissenschaftler so täte, als nähme er eine Position von außerhalb ein, als sei sein Standpunkt erhaben und gottähnlich.
Literatur
Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a, M. 2001
Haraway, Donna J.: Monströse Versprechen: Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft, Hamburg 1995
Harding, Sandra: Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht, Hamburg 1989
Harding, Sandra: Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu, Frankfurt a. M. 1994
Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1986
List, Elisabeth / Herlinde Studer (Hrsg.): Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, Frankfurt a.M. 1989
Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923), Neuwied und Berlin 1970
Smith, Dorothy E.: Eine Soziologie für Frauen, Hamburg 1999