Römische Pietà

Michelangelos römische Pietà, häufig auch als vatikanische Pietà bezeichnet, ist eine der bekanntesten Darstellungen dieses in der abendländischen Kunst sehr beliebten Sujets. Die Marmorstatue ist in den Jahren 1498 bis 1499, nach anderen Quellen bis 1500, in Rom entstanden, zum Zeitpunkt der Fertigstellung war Michelangelo in seinen Mittzwanzigern. Es handelt sich um eines der bedeutendsten Werke der abendländischen Bildhauerei und ein herausragendes Beispiel für die Kunst der Hochrenaissance. Die Statue befindet sich im Petersdom im Vatikan zu Rom.
Geschichte
Die Entstehung der Pietà fällt in die Zeit von Michelangelos erstem Romaufenthalt von 1496 bis 1501. Neben der werkimmanenten Bedeutung ist die römische Pietà Michelangelos kunsthistorisch auch insofern interessant, als es sich um die erste (bekannte) von einem italienischen Bildhauer geschaffene Skulptur dieses Typs handelt. Gleichzeitig ist die römische Pietà auch die erste aus einer Reihe von mehreren Pietà-Darstellungen Michelangelos (allerdings sind die übrigen Werke unvollendet geblieben). In kunsthistorischer Hinsicht ist weiterhin zu bemerken, dass Michelangelos römische Pietà eine der ersten Gruppen - wenn nicht die erste - in der neueren Skulptur sein dürfte, welche antiken Skulpturen hinsichtlich der technischen Meisterschaft nicht unterlegen ist.[1] In die Entstehungszeit der Pietà fällt auch die Arbeit an einer Bacchus-Statue – Michelangelo muss an beiden Werken parallel gearbeitet haben.
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Pietà, vor 1550, Museo dell' Opera del' Duomo, Florenz
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Pietà Palestri, Zuschreibung ungeklärt, Accademia delle Arti del Disegno (Galleria dell' Accademia), Florenz
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Pietà Rondanini, 1552-1564, Galleria Nazionale d'Arte Antica, Mailand
Die Pietà ist, wie die meisten Kunstwerke jener Zeit, ein Auftragswerk. Im Jahr 1497 beauftragte der französische Kardinal Jean Bilhères de Lagraulas, Abt von Saint Denis und Botschafter Karls VIII. beim Vatikan, durch Vermittlung des römischen Adligen und Bankiers Jacopo Galli, Michelangelo mit der Herstellung einer Pietà aus Marmor, welche das Grabmal des Kardinals in der Kapelle von Santa Petronilla im Petersdom schmücken sollte. Die Beauftragung einer Pietà durch den französischen Geistlichen mag von der Popularität von Versperbildern in Frankreich hergerührt haben - in Italien war dieses Sujet zur damaligen Zeit dagegen noch recht neu. Ende 1497 erhält Michelangelo eine erste Vorauszahlung für den Auftrag. Der schriftliche Vertrag wurde erst im Jahr 1498 verfertigt. Im Vertragstext werden die Vorstellungen des Kardinals genau spezifiziert: „Eine Pietà aus Marmor, das heißt die bekleidete Jungfrau Maria mit dem toten, unbekleideten Christus im Arm.“ Der Vertrag sah eine lebensgroße Statue vor, die – so der explizite Vertragstext – alle bis dahin in Rom bekannten Marmorkunstwerke an Schönheit übertreffen sollte – eine, wie Ragionieri zurecht anmerkt, angesichts der Fülle antiker Statuen in Rom äußerst kühne Forderung.[2]
Die ersten Zeichnungen und Modelle für die Pietà wurden von Michelangelo vermutlich bereits im Sommer 1497 angefertigt. Ebenfalls in diesem Jahr begab sich Michelangelo nach Carrara, um persönlich in den dortigen Marmorbrüchen einen Marmorblock für die Statue auszuwählen, eine Vorgehensweise, der er auch später treu blieb. Die eigentliche Arbeit an der Statue begann erst im Jahr 1498, vollendet wurde sie im Jahr 1499 [3] oder 1500[4]. Zum Zeitpunkt der Vollendung war der am 6. März 1475 geborene Michelangelo etwa 25 Jahre alt. Lübke sieht in der Pietà den Abschluss der Jugendperiode in Michelangelos Schaffen.[5]
Michelangelo erhielt für die Pietà ein Honorar von 450 Golddukaten.[6] Der ursprüngliche Standort der Statue war, wie in dem Vertrag mit dem Kardinal vereinbart, die Kapelle von Santa Petronilla in Alt-Sankt-Peter. Von dort wurde sie jedoch bereits 1517 im Zuge der Erweiterungsarbeiten am Petersdom wieder entfernt. Seit dem Jahr 1749 befindet sich die Pietà an ihrem heutigen Standort in der ersten Kapelle des rechten Seitenschiffs im Petersdom, sie wird nach der Statue auch als „Kapelle der Pietà“ bezeichnet.
Für die Verbringung zur Weltausstellung in New York im Jahr 1964 wurde die Pietà zum bisher ersten und bisher letzten Mal aus dem Petersdom entfernt.
Am 21. Mai 1972 wurde die bis dahin frei stehende Statue von einem geistesgestörten Attentäter durch etliche Hammerschläge schwer beschädigt. Die Schäden betrafen u.a. den linken Arm und das Gesicht der Jungfrau. Für die Restaurierung wurden soweit möglich Originalfragmente verwendet, wo nötig ergänzt durch eine Paste aus Marmorpulver und Polyester.[7] Der Expertengruppe unter der Leitung von Deoclecio Redig de Campos ist es letztlich gelungen, die Statue originalgetreu wiederherzustellen. Seit dem Anschlag befindet sich die Pietà hinter einer Scheibe aus Panzerglas.
Aufstellung
Die Statue ruht auf einem Podest und kann nur von unten und von vorn sowie aus einiger Entfernung betrachtet werden. Diese - nach Wölfflin „barbarische“[8] - Aufstellung vermittelt einen anderen Eindruck von der Statue als die eigentlich vorgesehene Betrachtung auf „gleicher Augenhöhe“. Bspw. ist der Oberkörper der Madonna weiter nach vorn geneigt, als es die jetzige erzwungene Perspektive vermittelt. Auch macht es diese Aufstellung unmöglich, das Antlitz des Erlösers eingehender zu betrachten. Kleinere Details sind aus der Entfernung gar nicht zu erkennen. Die ebenerdige Kopie in den Vatikanischen Museen erlaubt eine bessere Perspektive.
Vorbilder
In ikonographischer Hinsicht lässt sich der Ursprung der römischen Pietà bei nordeuropäischen Vesperbildern verorten, auf denen die Muttergottes allerdings eher als schmerzgeplagte alte Frau dargestellt ist. Nach Weinberger entstand damals in Italien ein Bedürfnis nach bildhauerischen Darstellungen der Pietà durch entsprechende aus Deutschland importierte Figuren, die den ästhetischen Anforderungen italienischer Kunstliebhaber freilich nicht gerecht werden konnten.[9]
Michelangelo ist nicht der erste italienische Künstler, der sich das Sujet der Pietà bzw. des Vesperbildes aneignete. Eine sehr frühe Darstellung in der italienischen Malerei ist das 1368 entstandene Tafelbild Cristo in pietà et il donatore Giovanni di Elthini von Simone di Filippo (genannt Simone dei Crocefissi), Museo Davi Bergellini, Bologna. Darüber hinaus finden sich in der italienischen Malerei frühere Darstellungen der Beweinung Christi - ein Sujet, das sich nicht immer eindeutig von dem der Pietà abgrenzen lässt. Häufig aufgegriffen wird der Bildtyp der Pietà bzw. auch der Beweinung Christi ab der Mitte des 15. Jahrhunderts von norditalienischen Malern - bspw. Giovanni Bellini (1437 bis 1516), welche, ähnlich wie später Michelangelo, keinen zu Tode gemarterten Christus zeigen, sondern den Tod Jesu im Zeichnen des in der Renaissance erwachenden Humanismus als Schlaf ästhetisieren.[10] Ein bekanntes Beispiel für die Darstellung einer Beweinung Christi in der norditalienischen Malerei ist das im Jahr 1495 entstandene Bild (siehe Abbildung) von Pietro Perugino aus der Malerschule von Ferrara.[11]
- Nordische Vesperbilder; Peruginos Beweinung Christi
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Pietà in der St.-Georgs-Kirche (Dinkelsbühl)
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Krakauer Pietà, 1390-1400, Erzdiözesemuseum Olmütz
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Perugino, Beweinung Christi, 1495, Palazzo Pitti (Florenz)
Beschreibung
Material und Abmessungen
Michelangelos Pietà ist aus weißem Carrara-Marmor gefertigt, der kaum Einschlüsse aufweist. Die Oberfläche ist stark poliert und erscheint glänzend. Die Abmessungen der Statue betragen: Höhe: 174 cm; Breite: 195 cm; Tiefe: 69 cm.
Allgemeine Beschreibung
Bei der Statue handelt es sich um eine Gruppe, welche, wie bei diesem Sujet üblich, die Muttergottes in sitzender Position zeigt, den vom Kreuz genommenen Leichnam Jesu auf ihren Knien und in ihrem Arm wiegend. Den Untergrund bildet ein Felsen, bei dem es sich gemäß der biblischen Überlieferung um Golgota, den Ort der Kreuzigung Jesu, handeln müsste. Die Madonna ist vollständig bekleidet, wohingegen ihr Sohn bis auf ein um die Hüften geschlungenes Tuch unbekleidet ist. Die Figuren sind anatomisch präzise dargestellt, Muskeln, Sehnen, Blutgefäße und sonstige anatomische Merkmale sind sorgfältig herausgearbeitet, was der Skulptur zusätzliche Spannung und Dynamik verleiht. Die insoweit naturgetreue Darstellung verdankt sich nicht zuletzt Michelangelos anatomischen Studien, namentlich der Sektion von Leichen.
Maria ist deutlich größer dargestellt als ihr Sohn (stehend würde die Madonna über zwei Meter messen). Diese Besonderheit in der Gestaltung ist auf die technische Schwierigkeit zurückzuführen, eine Gruppe bestehend aus einer Frau, die einen erwachsenen Mann auf den Knien hält, in einer ausgewogenen Komposition darzustellen: Würden die natürlichen Größenverhältnisse gewahrt, müsste der Körper Jesu fast zwangsläufig als zu groß und zu schwer erscheinen, um von Maria auf dem Schoß gehalten werden zu können.[12] Nach Justi wollte Michelangelo „den Eindruck der Schwere ... verhüten, das Lasten des Körpers auf dem Schoß der Frau ... verschleiern... Er hat dies erreicht durch Stellung, Ansicht, Umfang und Form der Gestalten“.[13]
Die Disproportionalität der beiden Figuren wirkt auf den Betrachter keineswegs irritierend. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass ein direkter Größenvergleich wegen der unterschiedlichen Positionen der Figuren, insbesondere der sitzenden Position Marias, schwierig ist; zum anderen hat Michelangelo darauf geachtet, bei den Häuptern und Händen der Figuren, welche einen direkten Vergleich ermöglichen, die Proportionen zu wahren. Überdies gewinnt der Oberkörper Marias die für die Komposition benötigte Weite insbesondere durch das aufgebauschte Gewand, was dem Betrachter ganz natürlich erscheint. Hinzu kommt, dass der Körper Jesu in der schmalen Seitenansicht dargestellt ist, im Gegensatz zur breiten Frontansicht des Körpers der Madonna. Ein Vergleich zwischen Michelangelos Pietà und dem oben abgebildeten Vesperbild in der St.-Georgskirche in Dinkelsbühl mit dem völlig „unnatürlich“ wirkenden, weil viel zu kleinen Jesus zeigt, wie meisterhaft Michelangelo dieses Problem gelöst hat. Anderseits zeigt das Beispiel der Krakauer Pietà (siehe Abbildung), welches Ergebnis andere Künstler mit einer proportionalen Darstellung beider Figuren erzielt haben.
Auffällig ist der monumentale Faltenwurf des Gewandes der Madonna, wie er für das Quattrocento und das Cinquecento typisch ist. Wölfflin bemängelt einen „etwas aufdringlichen Reichtum“[14] der Gewandpartien. Die großzügige Dimensionierung derselben im unteren Teil der Gruppe ist jedoch kein Selbstzweck sondern dient, neben der unterschiedlichen Größe der Figuren, auch dazu, eine natürlich und ungezwungen wirkende Positionierung des Leichnams Jesu im Schoß und Arm Marias zu ermöglichen. Die Gewandpartien erfüllen so scheinbar eine stützende Funktion und fördern die kompositorische Ausgewogenheit des Werks.
Die Gruppe weist mit weniger als 70 cm nur eine geringe Tiefe auf. Die Rückseite wurde von Michelangelo zwar ebenfalls ausgeführt, jedoch weniger sorgfältig und detailreich als die Vorderseite. Aus den genannten Gründen kann die Gruppe ihre volle Wirkung nur in der Frontalansicht, nicht jedoch in der Seiten- oder gar der Rückansicht entfalten.
Komposition
Die Statue zeigt einen pyramidalen Aufbau. Marias Haupt bildet den Scheitelpunkt, von welchem aus die äußeren Linien des Werks sich nach unten hin auffächern. Auf der vom Betrachter aus gesehen rechten Seite bilden Marias Haupt, ihr linker Arm und das linke Bein Jesu eine Linie, auf der gegenüberliegenden Seite wird die pyramidale Komposition durch einen monumentalen Faltenwurf von Marias Gewand unterstützt. In der Senkrechten zeigt die Gruppe eine Dreiteilung: der obere Teil wird vom Haupt und Oberkörper Marias gebildet, der Mittelteil von Jesu Leichnam, der untere Teil wird vom Faltenwurf des Gewandes der Muttergottes dominiert. Diese Dreiteilung korrespondiert mit einer von oben nach unten zunehmenden Tiefe der Statue. Hervorzuheben sind weiterhin die vom Betrachter aus gesehen nach rechts unten verlaufenden diagonalen Linien, gebildet vom Haupt und Oberkörper Jesu, seinem rechten Arm und dem weit geschwungenen Faltenwurf im unteren Teil. Diese ausgefeilte Geometrie verleiht dem Werk kompositorische Ausgewogenheit. Wölfflin urteilt über die Komposition wie folgt: „Zwei lebensgroße Körper in Marmor zur Gruppe zusammenzubinden, war an sich etwas Neues und die Aufgabe, der sitzenden Frau einen männlichen Körper auf den Schoß zu legen, von der schwierigsten Art. Man erwartet eine harte durchschneidende Horizontale und trockene rechte Winkel; Michelangelo hat gemacht, was keiner damals hätte machen können: alles ist Wendung und Drehung, die Körper fügen sich mühelos zusammen, Maria hält und wird doch nicht erdrückt von der Last, der Leichnam entwickelt sich klar nach allen Seiten und ist dabei ausdrucksvoll in jeder Linie.“[15]
Maria

Die Madonna ist dem Betrachter frontal zugewandt. Sie stützt den Leichnam ihres Sohnes mit ihrem rechten Arm ab, der linke Arm ist leicht abgewinkelt, mit nach oben zeigender halb geöffneter Handfläche, eine Geste, in welcher nach Bode der „stumme Schmerz der Mutter“[16] zum Ausdruck kommt. Marias Blick ist nach unten gerichtet, die Augenlider sind gesenkt. Bemerkenswert ist, dass ihr Blick nicht zum Antlitz ihres toten Sohnes geht, ja nicht einmal direkt auf den Körper. Es scheint fast, als habe sie sich vom Leichnam ihres Sohnes abgewandt. Der Ausdruck im Gesicht der Madonna ist schwer zu deuten, wirkt jedoch eher entrückt als trauernd. Nach Justi ist das Antlitz der Madonna "näher besehen ausdruckslos"[17]. Ein Merkmal, das von vielen Kommentatoren hervorgehoben worden ist, ist die Schönheit der Gesichter Marias und Jesu.[18] Dies gilt insbesondere für die Madonna, der Michelangelo nach Clément eine „eigentümliche jugendliche und herbe Schönheit“[19] verliehen hat.
Anders als seine (nordeuropäischen) Vorgänger zeigt Michelangelo die Muttergottes nicht als schmerzgeplagt - die Madonna Michelangelos ist keine typische Mater Dolorosa, wie sie so vielen Künstlern vor und nach ihm dargestellt worden ist. „Das verweinte Gesicht, die Verzerrung des Schmerzes, das ohnmächtige Umsinken hatten Frühere gegeben; Michelangelo sagt: die Mutter Gottes soll nicht weinen wie eine irdische Mutter. Ganz still neigt sie das Haupt, die Züge sind regungslos und nur in der gesenkten linken Hand ist Sprache: halbgeöffnet begleitet sie den Monolog des Schmerzes.“[20] Roeck begründet die augenfälligen Unterschiede zwischen nordeuropäischem Vesperbild und Michelangelos römischer Pietà mit den unterschiedlichen kulturellen Kontexten im cis- und transalpinen Europa: „Der beruhigte Schmerz der jugendlichen Madonna, die den ‚schönen‘ Leichnam ihres Sohnes auf dem Schoß hält, zielt auf die sachverständige, mit antiken Formen vertraute Gesellschaft; zum ‚Mitleid‘ anzuregen, diese Aufgabe des Andachtsbildes hat ein einfaches geschnitztes Vesperbild, das die kummervolle Maria mit der starren Leiche Christi zeigte, auf völlig andere Weise erfüllt als die schimmernde Marmorfigur."[21] Justi spricht mit Bezug auf die Madonna von ‚Seelenruhe‘ bzw. ‚Stille der Seele‘.“[22]
Eines der auffälligsten Merkmale der Statue ist der Umstand, dass die Madonna zu jung dargestellt ist, um die Mutter eines erwachsenen Sohnes sein zu können - tatsächlich erscheint Maria jünger als ihr Sohn. In dieser Hinsicht kombiniert Michelangelo die seinen Zeitgenossen vertraute Darstellung der jungen Maria mit dem Jesuskind mit den üblichen Vesperbildern, auf denen eine gealterte Madonna zu sehen ist. Es handelt sich hierbei um eine Innovation Michelangelos, die unter seinen Zeitgenossen einige Irritationen auslöste. Eine gängige Interpretation lautet, dass die Jungfrau Maria aufgrund ihrer Unbeflecktheit und makellosen Tugendhaftigkeit nicht in demselben Maße dem natürlichen Alterungsprozess unterliege wie gewöhnliche Menschen.[23] Diese Interpretation geht auf Michelangelo selbst zurück, der gegenüber seinem Freund, Schüler und ersten Biographen Ascanio Condivi (1512-1574) äußerte: „Weißt du nicht, dass keusche Frauen sich viel frischer erhalten als die, welche es nicht sind? Um wie viel mehr aber eine Jungfrau, welcher sich niemals die geringste sündhafte Begierde in die Seele verirrte! Aber noch mehr ... müssen wir glauben, dass die göttliche Kraft ihr noch zu Hilfe kam, damit der Welt die Jungfräulichkeit und unvergängliche Reinheit der Muttergottes um so deutlicher erschiene.“[24]
Die Darstellung der Mutter Gottes als junge Frau könnte auch durch einen Vers Dantes in der Göttlichen Komödie inspiriert sein, wo in der ersten Zeile des 33. Gesangs des Paradieses Maria als „Vergine Madre, figlia del tuo figlio“ („Jungfräuliche Mutter, Tochter deines Sohnes“) angesprochen wird.[25] Für Dantes Einfluss könnte der Umstand sprechen, dass Michelangelo mit der Göttlichen Komödie wohlvertraut war.
Im Übrigen lässt der Anachronismus, welcher der Statue innewohnt, auch an die in der mittelalterlichen Theologie verbreitete Vorstellung von Maria als „Braut Christi“ denken, welche nach Mariae Himmelfahrt an der Seite ihres Sohnes Jesu Christi als Himmelkönigin thront. Insofern ist Michelangelos Idee, den über 30-jährigen Jesus mit einer jugendlichen Maria zu kombinieren, durchaus nicht neu, auch wenn Michelangelo wohl eher nicht an diese spezielle theologische Interpretation gedacht hat.
Jesus
Während die Madonna überlebensgroß dargestellt ist, weist die Darstellung Jesu eine natürliche Größe auf. Diese Disproportionalität der beiden Figuren kann beim Betrachter den Eindruck erwecken, Jesus sei im Tod wieder zum Kind geworden, das von seiner Mutter im Schoß gehalten wird - Nagel spricht im Hinblick auf das Vesperbild ganz allgemein davon, dass dieses mit einer emotionalen Reminiszenz an die Jungfrau mit dem Jesuskind befrachtet sei.[26] Im Gegensatz zu Maria ist der Erlöser etwa in dem Alter dargestellt, das er der Überlieferung zufolge zum Zeitpunkt der Kreuzigung gehabt hat.
Die relative Fragilität - die „mageren, zarten Formen“[27] - des „vollendet schönen nackten Körpers Christi“[28], der schlaff herabbaumelnde Arm und das im Tod nach hinten geneigte, in die Armbeuge Marias gebettete Haupt des Erlösers erwecken beim Betrachter tiefes Mitgefühl. Der Sohn Gottes wird hier in seiner Menschlichkeit – und Sterblichkeit – gezeigt. Gleichzeitig wird hierdurch die Größe des Opfers offenbar, das Jesus für alle Menschen vollbracht hat. „Der Christuskörper … scheint bis über die Ruhe des Todes hinaus die Martern zu empfinden, welche der Gott-Mensch zu erdulden gehabt.“[29] Nach Wölfflin verleihen die „emporgedrückte Schulter und das zurückgesunkene Haupt ... dem Toten einen Leidensaccent von unübertrefflicher Kraft“[30]. Vasari urteilt über den Christuskörper: „Wir müssen den Gedanken aufgeben, jemals eine andere Statue mit so schönen Gliedmaßen zu finden oder einen Leib, der mit so großer Kunst ausgeführt ist ... oder einen Toten, der so tot ist wie dieser.“
Die Spuren, welche die Nägel und die Lanze am Leib Jesu hinterlassen haben, sind leicht angedeutet, nicht jedoch jene Wunden, welche die Dornenkrone verursacht haben müsste. Überhaupt weist das Haupt, im Gegensatz zum übrigen Leichnam, keinerlei Zeichen des Martyriums auf, insbesondere wirkt das Antlitz Jesu im Tod völlig gelöst. Durch diese gegensätzliche Gestaltung von Körper und Antlitz gelingt es Michelangelo, gleichzeitig die Agonie des Menschensohns am Kreuz und die Entrücktheit des Gottessohns nach dem selbstgewählten Opfertod zu veranschaulichen.
Signatur
Die Pietà ist die einzige Statue, die Michelangelo signiert hat; in die schmale Schärpe, die quer über die Brust der Madonna verläuft, ist in römischer Antiqua gemeißelt: MICHEL.A[N]GELVS BONAROTVS FLORENT[INVS] FACIEBA[T]. (Michelangelo Buonarroti aus Florenz [hat dies] angefertigt.) Vasari gibt als Grund für die Signatur an, dass Michelangelo eines Tages zufällig Zeuge geworden sei, wie eine Gruppe von Besuchern aus der Lombardei die Statue einem Künstler aus Mailand (Cristoforo Solari) zugeschrieben habe. Die Signatur ist auch ein Hinweis darauf, dass Michelangelo selbst seine Pietà als ein außergewöhnliches Werk angesehen hat. Bei späteren Werken war eine Signatur aufgrund von Michelangelos großer Bekanntheit nicht mehr notwendig.[31]
Stil
Ebenso wie spätere Werke Michelangelos wirkt die Pietà äußerst dynamisch, ein Eindruck, der vor allem durch die in fließenden Bewegungen erstarrten Figuren und den dramatischen Faltenwurf des Gewands der Muttergottes hervorgerufen wird. Die Darstellung entspricht eher der hellenistischen[32] Lust an Dramatik und Leidenschaft als der Ausgewogenheit und Ruhe der griechischen Kunst der Klassik. Stilistisch markiert Michelangelos Pietà, obwohl sie chronologisch der Hochrenaissance zuzuordnen ist, bereits die ersten Anfänge des Barock. Darüber hinaus sehen Kunsthistoriker in der Pietà einen Ausdruck des in der Renaissance in Italien erwachenden modernen Menschenbildes – der Geburt des Individuums. „Der Marmor zeigt nicht mehr bloß eine Schönheit abstrakter, allgemeiner Art; von einer mächtigen Hand bearbeitet, spiegelt er Gedanken und Gefühle wider.“[33]
Rezeption
Die Pietà wurde von Michelangelos Zeitgenossen sofort als bedeutendes Kunstwerk gewürdigt und war darüber hinaus sofort nach ihrem Bekanntwerden ein bedeutendes öffentliches Ereignis in Rom.[34] Michelangelo wurde durch diese Arbeit mit einem Schlag von „einem geachteten Künstler zum berühmtesten Bildhauer Italiens“[35]. Vasari spricht von „grandissima fama“ (höchstem Ruhm), den Michelangelo mit der Statue erlangt hat.
Das Urteil der Nachwelt über die Pietà ist einhellig: „Seither haben eigentlich alle Kunsthistoriker und Biographen das Urteil ‚perfekt‘ für die Pietà vergeben.“[36]
Vasari äußert sich wie folgt über Michelangelos Pietá: „Kein Bildhauer oder sonstiger noch so außergewöhnlicher Künstler darf auch nur daran denken, in der Darstellung oder an Anmut zu erreichen, was Michelangelo hier geleistet hat, oder bei aller Anstrengung sich mit ihm an Feinheit, Reinheit oder Meißelbehandlung des Marmors zu messen; denn hier findet man alles, was die Kunst vermag und leisten kann.“
Rezeption in der Kunstgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts
Lübke sieht in der Pietà „eine herrlich aufgebaute, tief empfundene und edel vollendete Marmorgruppe, in den Köpfen von ergreifendem Ausdruck“[37].
Nach Müller ist die Pietà „eine wunderbar herrliche Gruppe von großer Einfachheit in der Composition; Weichheit und Milde, und von entzückender Schönheit in den Köpfen“[38].
Grimm, der die Pietà als Michelangelos Hauptwerk bezeichnet, fällt folgendes Urteil: „Was vor dieser Arbeit in Italien von Bildhauern geleistet worden ist, tritt in Schatten und nimmt das Ansehen von Versuchen an, denen es irgendwo fehlt, sei es am Gedanken oder in der Ausführung: hier deckt sich Beides. Künstler, Werk und Zeitumstände greifen ineinander ein, und es entstand etwas, das vollkommen genannt zu werden verdient.“[39]
Burckhardts Urteil fällt wie folgt aus: „Hier zuerst in der neueren Skulptur kann wieder von einer Gruppe im höchsten Sinne die Rede sein; der Leichnam ist überaus edel gelegt und bildet mit Gestalt und Bewegung der ganz bekleideten Madonna das wunderbarste Ganze. Die Formen sind anatomisch noch nicht ganz durchgebildet, die Köpfe aber von einer reinen Schönheit, welche Michelangelo später nie wieder erreicht hat.“[40]
Bode bezeichnet die Pietà als die edelste plastische Schöpfung Michelangelos.[41]
Justi findet folgende Worte: „Dies ist die Pietà Michelangelos, die er in seinem Lebensmorgen am Ausgang des alten Jahrhunderts, am größten Ort der Welt, für den ersten Tempel der Christenheit schuf. Sie steht ebenso hoch als Ausdruck religiöser Ideen wie als Kunstwerk der Bildhauerei.“[42]
Rezeption in der bildenden Kunst
Der sizilianische Bildhauer Antonello Gagini schuf im Jahr 1512 eine Pietà in Marmor, welche durch Michelangelos Pietà inspiriert ist. Das Werk befindet sich heute in der Kirche Matrice di Maria Santissima Addolorata in Soverato (Kalabrien). [43]
Käthe Kollwitz wurde zu ihrer in den Jahren 1937/38 geschaffenen 38 cm hohen Plastik einer Pietà durch Michelangelos römische Pietà inspiriert.[44] Eine vierfach vergrößerte Nachbildung des Werks befindet sich in der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer des Kriegs und der Gewaltherrschaft (Neue Wache) in Berlin, Unter den Linden.
Rezeption im Film
Michelangelos Bildfindung seiner römischen Pieta hat auch ihren Niederschlag in der Bilderwelt des Films gefunden. Alfred Hitchcock ìnszeniert in seinem Film Topas ein Paar nach der Folterung durch den kubanischen Geheimdienst nach dem Vorbild der römischen Pieta.
Der koreanische Regisseur Kim Ki Duk wurde nach eigenen Angaben zu seinem in Venedig preisgekrönten Film "Pietà" durch Michelangelos Werk inspiriert, das er bei einem Besuch im Petersdom als „Zeichen vom Teilen des Schmerzes der gesamten Menschheit“ verstand.[45] Das Plakat zum Film ist eine eindeutige Reminiszenz an die Pietà.
Repliken und Kopien
Die Pietà wurde vielfach in Marmor/Gips und Bronze kopiert – oftmals für die Aufstellung in Kirchen, auch finden sich Darstellungen des Werkes in der Malerei.. Eine Kopie befindet sich in den Vatikanischen Museen, in Deutschland ist eine Nachbildung in der katholischen Sankt-Hedwigs-Kathedrale in Berlin zu besichtigen.
Michelangelos Pietà ist als Vollplastik, Relief, Medaille, farbiges Heiligenbildchen und dergleichen ein beliebtes Objekt im römischen bzw. katholischen Devotionalienhandel.
Quellen
- Ascanio Condivi
- Vita di Michelagnolo Buonarroti raccolta per Ascanio Condivi da la Ripa Transone (Rom 1553). Teil I: Volltext mit einem Vorwort und Bibliographien (Fontes. 34) Volltext
- Das Leben des Michelangelo Buonarotti. Das Leben Michelangelos beschrieben von seinem Schüler Ascanio Condivi. Aus dem Italienischen übers. u. erl. von Hermann Pemsel. München 1898.
- Giorgio Vasari
- Le vite de' piú eccellent architetti, pittori, et scultori italiani daCimabue insino a' tempi nostri. Erste Ausgabe Florenz 1550. Zweite erweiterte Ausgabe Florenz 1558.
- Das Leben des Michelangelo. Hrsg. von Alessandro Nova. Bearb. von Caroline Gabbert. Neu ins Deutsche übers. von Victoria Lorini. Berlin 2009. (Edition Giorgio Vasari). ISBN 978-3-8031-5045-5
Literatur
- Umberto Baldini: Michelangelo scultore. Rizzoli, Mailand 1973.
- Wilhelm Bode: Die Italienische Plastik [1922]. 2006, ISBN 1-4068-3213-8, 9781406832136.
- Jacob Burckhardt: Der Cicerone. [1855]. Band 2 der Kritischen Gesamtausgabe, C.H.Beck 2001, ISBN 3-406-47156-0, 9783406471568.
- Tobias Burg: Die Signatur: Formen und Funktionen vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert. LIT Verlag Münster, 2007, ISBN 3-8258-9859-8, 9783825898595.
- Charles Cléments: Michelangelo, Leonardo, Raffael. Deutsch von Carl Clauss, E.A. Seemann, 1870.
- Rona Goffen: Renaissance Rivals: Michelangelo, Leonardo, Raphael, Titian. (Teil 3: Michelangelo Buonarotti.) 2. printing. Yaele Univ. Press 2004. . ISBN 0-300-10589-4.
- David Greve: Status und Statue: Studien zu Leben und Werk des Florentiner Bildhauers Baccio Bandinelli, Band 4 von Kunst-, Musik- und Theaterwissenschaft, Verlag Frank & Timme GmbH, 2008.
- Herman Grimm: Leben Michelangelo's. [1868]. Band 1, 3.Auflage, 1868.
- Carl Justi: Michelangelo. Neue Beiträge zur Erklärung seiner Werke. Erstausgabe Leipzig 1900.
- Wilhelm Lübke: Grundriss der Kunstgeschichte. 3. Auflage, Ebner & Seubert, 1866.
- Carola Marx: "Ich will wirken in dieser Zeit". Käthe KOllwitz in der Kunstmetropole Berlin zwischen Gründerzeit und Drittem Reich, in: Matthias Harder, Almut Hille (Hrsg.): "Weltfabrik Berlin": Eine Metropole als Sujet der Literatur; Studien zu Literatur und Landeskunde, Verlag Königshausen & Neumann, 2006,
ISBN 3826032454, 9783826032455.
- Gioia Mori: The Fiteenth Century: the Early Renaissance, in: Marco Bussagli (Hrsg.): Rome. Art & Architecture, Könemann 1999, S.344-401.
- Friedrich Müller : Die Künstler aller Zeiten und Völker: oder Leben und Werke der berühmtesten Baumeister, Bildhauer, Maler, Kupferstecher, Formschneider, Lithographen etc. von den frühesten Kunstepochen bis zur Gegenwart. Ebner & Seubert 1857.
- Alexander Nagel: Gifts for Michelangelo and Vittoria Colonna, in: Michael Wayne Cole (Hrsg.): Sixteenth-century Italian art, Blackwell anthologies in art history, Wiley-Blackwell, 2006, ISBN 1-4051-0840-1, 9781405108409, S.324 ff.
- Pina Ragionieri: Michelangelo: The Man and the Myth. University of Pennsylvania Press 2008, ISBN 0-8122-2054-4, 9780812220544.
- Josef Rattner, Gerhard Danzer: Die Geburt des modernen europäischen Menschen in der italienischen Renaissance 1350-1600: literarische und geistesgeschichtliche Essays. Königshausen & Neumann, 2004, ISBN 3-8260-2934-8, 9783826029349.
- Bernd Roeck: Das historische Auge: Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit : von der Renaissance zur Revolution. Vandenhoeck & Ruprecht 2004, ISBN 3-525-36732-5, 9783525367322.
- Edith Weinberger: Michelangelo the Sculptor.. Taylor & Francis 1967.
- Heinrich Wölfflin: Die klassische Kunst: eine Einführung in die italienische Renaissance. F. Bruckmann, München 1914.
Weblinks
- Details der Skulptur, Fotos: Robert Hupka
- Carl Justi: Michelangelo. Neue Beiträge zur Erklärung seiner Werke. Berlin 1909
- Commons: Pietà in Saint Peter's Basilica – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
- Commons: Repliken – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Einzelnachweise
- ↑ Burckhardt, S.531.
- ↑ Ragionieri, S.118.
- ↑ Baldini, S.92
- ↑ Weinberger, S.68.
- ↑ Lübke, S.517.
- ↑ Rattner/Danzer, S.135.
- ↑ Doris Wacker: Die Kunst zu bewahren. 2. Auflage München 2002.
- ↑ Wölfflin, S.44.
- ↑ Weinberger, S. 68.
- ↑ Greve, S.288.
- ↑ Mori, S.370.
- ↑ Weinberger, S.68.
- ↑ Justi, S.92.
- ↑ Wölfflin, S.45.
- ↑ Wölfflin, S.44.
- ↑ Bode, S.97.
- ↑ Justi, S.91.
- ↑ Burckhardt, S.531.
- ↑ Clément, S.31.
- ↑ Wölfflin, S.44.
- ↑ Roeck, S.128.
- ↑ Justi, S.91.
- ↑ Grimm, S.164.
- ↑ Grimm, S.164.
- ↑ Mori, S.370.
- ↑ Nagel, S.339.
- ↑ Justi, S.92.
- ↑ Bode, S.97.
- ↑ Clément, S.32.
- ↑ Wölfflin, S.44.
- ↑ Burg, S.163.
- ↑ Vgl. z.B. die Laokoon-Gruppe
- ↑ Clément, S.31.
- ↑ Clément, S.32.
- ↑ Grimm, S.161.
- ↑ Rattner/Danzer, S.134.
- ↑ Lübke, S.517.
- ↑ Müller, S.210.
- ↑ Grimm, S.163.
- ↑ Burckhardt, S.531.
- ↑ Bode, S.97.
- ↑ Justi, S.98.
- ↑ http://www.calabriaonline.com/col/arte_cultura/arte_calabra/gagini05.php
- ↑ Marx, S.64.
- ↑ Manin, Giuseppina: Denaro, follia, Michelangelo: la via della redenzione; . In: Corriere della Sera, 5. September 2012, S. 42–43.