Polbewegung
Unter Polbewegung versteht man in Geowissenschaften und Astronomie die langsame Verlagerung der Erdachse innerhalb des Erdkörpers. Sie verläuft in Form einer spiralförmigen Schwingung von 5-10 m, macht also nur etwa 1 Millionstel des Erdradius aus.
Dennoch wurde der Effekt schon um 1860 vermutet und 1885 vom Bonner Astronomen Friedrich Küstner (1856-1936) durch genaue Messungen der Breite nachgewiesen. Aus längeren Messreihen ließen sich die vermuteten Änderungen der Erdachse als kleine periodische Breitenänderungen von etwa ±0,3" herausfiltern. Erst zu Ende des 19. Jahrhunderts hatten die astro-geodätischen Messungen mit Passageinstrumenten und Zenitteleskopen diese Genauigkeitsstufe erreicht.
Perioden und Deutung der Polbewegung
Die genauesten empirischen Untersuchungen der Polbewegung wurden neben Küstner vom Wiener Geodäten Richard Schumann und dem US-amerikanischen Astronomen Chandler vorgenommen. Letzterer entdeckte dabei die Chandler-Periode, die etwa 430 Tage beträgt. Demgegenüber hatte Leonhard Euler für eine starre Erde einen theoretischen Wert von rund 300 Tagen abgeleitet. Die Basis hiefür ist folgende:
Die Symmetrieachse der Erde fällt nicht genau mit ihrer Rotationsachse zusammen, die durch den Schwerpunkt des Erdkörpers verläuft. Darum “torkelt” die Erde ein wenig, was bezüglich eines weit entfernten, statischen Bezugspunkts bemerkbar ist. Der (über gewisse Zeiträume gemittelte) Schnittpunkt der Rotationsachse mit der Erdoberfläche legt den geografischen Nord- und Südpol fest.
Das Verhalten des "Erd-Kreisels" und sein leichtes Taumeln kann mit den Methoden der wissenschaftlichen Mechanik genau berechnet werden, wenn man für ihn einen starren Festkörper mit den Maßen der Erde annimmt. Gibt der Erdkörper (vor allem das plastische Erdinnere) hingegen etwas nach - was die Geologie anhand gefalteter Gesteine schon lange weiß - verlängert sich die Periode dieses Taumelns, weil die Störkräfte nicht mehr so "griffig" ansetzen können.
Aus dem Unterschied zwischen Chandler- und Euler-Periode kann die Starrheit des Erdkörpers berechnet werden - was allerdings durch ihre Schichtung in Erdkruste und Erdmantel erheblich erschwert wird. Doch läßt sich die Verformbarkeit der Erde auch mit anderen Methoden bestimmen, z.B. mittels der Erdgezeiten. Die magnetischen Pole der Erde hängen hingegen nicht direkt mit der Lage der Erdachse zusammen (ihre Bewegung ist auch wesentlich rascher).
Internationaler Breitendienst, IPMS und IERS
Die Polbewegung (früher auch als Polschwankung bezeichnet) ist weitgehend periodisch mit 415 bis 433 Tagen (Chandlersche Periode) und weicht um etwa 10 bis 15 m von der mittleren Lage ab. Die Schwankung der Periodendauer hängt mit jahreszeitlichen Effekten zusammen (Laubfall und Vegetation, Vereisung, Plattentektonik usw.), die auf Massenverschiebungen an der Erdoberfläche oder im Erdinneren zurückgehen.
Um diese Effekte genauer zu untersuchen, wurde 1899 der Internationale Breitendienst gegründet. Er bestand aus 5 Sternwarten auf verschiedenen Kontinenten, aber alle auf 39.8 Grad nördlicher Breite lagen. Durch allabendliche Messung der astronomischen Breite erhielt man eine kontinuierliche Kurve der Polbewegung, wobei die kleinen (unvermeidlichen) Widersprüche der Daten gegenüberliegender Kontinente durch Ausgleichsrechnung minimiert wurden.
Einige Jahre nach Beginn der Raumfahrt konnten die astronomischen Messungen durch Methoden der Satellitengeodäsie ergänzt - und bald auch verbessert - werden. Dafür wurde der International Polar Motion Service gegründet (Abkürzung IPMS). Er ging in den 1990er Jahren in den Erdrotationsdienst IERS über, dessen Resultate nun auf den Daten von 5-6 sehr unterschiedlichen Messmethoden beruhen.
Siehe Spezialartikel: Fundamentalastronomie
Geophysikalische Implikationen
Denkt man sich die Erde als genaue, starre Kugel und völlig symmetrisch rotierend, würde die Erdachse unveränderlich sein und Nord- und Südpol in derselben Position auf der Kugel verbleiben. Tatsächlich hat die Erde jedoch
- eine Abplattung, wodurch die von außen angreifenden Kräfte nicht mehr symmetrisch sind;
- eine gewisse Elastizität und daraus folgende Schwingungen (siehe z.B. Erdbeben)
- und Plastizität (Verformbarkeit in längeren Zeiträumen), erkennbar z.B. an geologischen Faltungen bei der Gebirgsbildung oder an der Kontinentalverschiebung,
- sowie jahreszeitliche Änderungen (Atmosphäre, Meeresströmungen, Vegetation usw.
Dadurch vollzieht die wahre Erdachse sehr komplizierte, aber großteils periodische Bewegungen. Die Massenverlagerungen auf und in der Erde und die Nachgiebigkeit des Erdkörpers lassen sich durch geeignete physikalische Modelle teilweise theoretisch, teilweise empirisch berechnen und jedes Jahr etwas verfeinern. Im Jahr 2003 wurde der Descartes-Preis einer europaweiten Gruppe von etwa 30 Forschern zuerkannt, die unter Leitung der Professoren Véronique Dehant (Königlich Belgisches Observatorium) und Harald Schuh (TU Wien) stehen.
Die Polbewegungen, die meist 0,2 bis 0,3" (6-9 Meter) ausmachen, lassen sich als Schwebung zwischen zwei Perioden von etwa 430 Tagen (Chandler-Wobble) und von Jahreslänge (365½ Tage) deuten. Ihre Amplituden betragen ungefähr 6,3 beziehungsweise 3,2 Meter. Die resultierende Polkurve verläuft annähernd in Form einer Spirale, die in einigen Jahren langsam abklingt. Etwa alle 7 Jahre wird sie erneut zu einem größeren Betrag "angeregt", wovon aber die Ursache noch teilweise unklar ist. Dieser Spiralbewegung überlagern sich kleinere Schwingungen mit Perioden von wenigen Stunden bis zu Jahrzehnten.
Auch spontane kleine Verlagerungen sind manchmal festzustellen, die einige Zentimeter betragen - ausgelöst etwa durch das Seebeben vom 26. Dezember 2004 bei Sumatra, das im Indik den gewaltigen Tsunami auslöste.
Anwendungen und Reduktionen
Die genaue Kenntnis der Lage der Erdachse ist neben der Forschung auch für mehrere Zwecke der Praxis erforderlich, Dazu zählen die Satellitennavigation, die Geoidbestimmung, die Reduktion geodätischer Präzisionsmessungen (siehe Lotabweichung) und auch die Raumfahrt. Würde man die aktuelle Pollage nicht berücksichtigen, wären Fehler in der Position von mehr als 10 Metern die Folge. Beispielsweise würde ein 100 km großes Netz einer Landesvermessung Differenzen von cm...dm erleiden, oder eine Marsrakete würde ihr Ziel um mehrere 1000 Kilometer verfehlen.
Siehe auch:
- Erdrotationsparameter, Ekliptikschiefe, Polkoordinaten
- Internationaler Breitendienst, Geodynamik, Satellitengeodäsie
- Atomzeit, Weltzeit, Bahnbestimmung
- Inertialsystem, Relativität, Baryzentrum