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Leitkultur

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Europäische Leitkultur

Der Begriff Europäische Leitkultur wurde 1996 geprägt vom Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi. Er bezeichnet einen Wertekonsens basierend auf den Werten der „kulturellen Moderne“ (Jürgen Habermas) und beinhaltet:

Im Rahmen der Debatte über Integration von Migranten in Deutschland regte Bassam Tibi an, eine solche Europäische Leitkultur für Deutschland zu entwickeln. Er sprach sich für Kulturpluralismus mit Wertekonsens, gegen wertebeliebigen Multikulturalismus und gegen Parallelgesellschaften aus. Er stellte „Einwanderung“ (gesteuert, geordnet) gegen „Zuwanderung“ (wildwüchsig, inkl. illegale Migration und Menschenschmuggel).

Das Wort „Leitkultur“ und seine Konnotationen

Der Wortbestandteil „Leit-“ weckt nicht nur, wie von Bassam Tibi wohl gemeint, die Assoziationen „anleiten“ und „sich leiten lassen von“, sondern auch „leiten“, „führen“ und natürlich „sich unterordnen“. Der Wortbestandteil „Kultur“ wurde in der Vergangenheit beispielsweise im Kopf eines Deutschen zuallererst als „Deutsche Kultur“ gedacht – historisch etwa als Gegenstück zur französischen/britischen Zivilisation. Von dort ist der Gedanke nicht weit zur Kulturnation, also einer (möglicherweise auch ethnisch) exklusiv definierten deutschen Gesellschaft, ganz entgegen den Intentionen von Bassam Tibi.

Der allgemeine Wissensstand in den Kulturwissenschaften oder der Soziologie allerdings geht im Rahmen der Epoche der Postmoderne nicht von mehr einer vorherrschenden (z.B. deutschen) Kultur aus, sondern beschreibt alle möglichen verschiedenen, sich teilweise widerstrebenden (auch internationalen) Kulturen, die stetig im Fluss sind. Damit verbunden existiert auch eine Vielfalt an Identitäten, die kaum einer Kultur untergeordnet werden können. Vorstellungen von "Leitkultur", sagen Kritiker, berge Gefahren eines unreflektierten Ethnozentrismus.

Deutsche Leitkultur als tagespolitischer Kampfbegriff

Im Rahmen der Debatte über die Änderung des Einwanderungsrechts bezeichnete der damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Friedrich Merz, am 25. Oktober 2000 in der Tageszeitung „Die Welt“, notwendige Regeln für Einwanderung und Integration als „freiheitlich-demokratische“ deutsche Leitkultur, und initiierte damit eine heftige politische Diskussion. Auch er argumentiert damit gegen Multikulturalismus und Parallelgesellschaften. Friedrich Merz und wie auch Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm forderten, Zuwanderer müssten sich der „deutschen Leitkultur“ anpassen. Sie hätten einen eigenen Integrationsbeitrag zu leisten, indem sie sich an die in Deutschland gewachsenen kulturellen Grundvorstellungen annäherten. Merz verlangte des Weiteren eine Einwanderungsregelung mit dem Ziel, jährlich nur etwa 200.000 Ausländer aufzunehmen. Bei mehr würde die „Integrationsfähigkeit“ der einheimischen Bevölkerung überfordert. „Leitkultur“ wurde bis 2004 eine polemische Formel, die sich gegen die Bundesregierung, aber auch konkurrierend gegen die Neue Rechte wandte.

In Folge wurde an der Publizitätsfront zwischen Opposition und Regierungskoalition Kritik vor allem seitens der Koalitionsparteien laut. Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) meinte dazu, in der Einwanderungspolitik müsse es um die Integration, nicht aber um die Assimilation der Zuwanderer gehen. Özdemir betonte, wer unter dem Begriff der deutschen Leitkultur den Versuch verstehe, Menschen zu assimilieren, sozusagen um jeden Preis ihre Anpassung an hiesige Lebensverhältnisse fordere, der verkenne die gesellschaftliche interkulturelle Realität in Deutschland.

Vor allem deutschlandkritische ausländische Medien sahen durch den von Merz gewählten Begriff ideologische Gemeinsamkeiten zur Germanisierung durch die Nationalsozialisten in den von Deutschland besetzten Gebieten. Damals war es der ansässigen Bevölkerung verboten, ihre Muttersprache zu sprechen.

Siehe auch

Quellen

  • Bassam Tibi, Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust, In: Aus Politik und Zeitgeschehen (Das Parlament), B 52–53/96, S. 27–36.
  • Bassam Tibi, Leitkultur als Wertekonsens, In: Aus Politik und Zeitgeschehen (Das Parlament), B 1–2/2001, S. 23–26.