Selbsterfüllende Prophezeiung
Die Selbsterfüllende Prophezeiung (self-fulfilling prophecy) wurde von Robert K. Merton in die soziologische Debatte eingebracht, ebenso wie ihr logisches Gegenstück (self-destroying prophecy).
Sie ist grundsätzlich von der Prognose in den Naturwissenschaften zu unterscheiden. Denn das Objekt einer soziologischen Vorhersage kann selber ein sozial handelndes Subjekt sein, weil es die Voraussage mit zu hören und darauf zu reagieren vermag. So kann eine 'falsche' Prognose (etwa: "Morgen geht die XYZ-Bank pleite!") dazu führen, dass die vollkommen solide XYZ-Bank durch einen jähen Abzug aller Gelder ihrer Gläubiger insolvent wird und falliert. Umgekehrt kann eine solide Voraussage (etwa: "Im Hauptbahnhof wird um 12:00 Uhr eine Bombe hochgehen!") durch rechtzeitige Nachsuche und Entschärfung der tatsächlich vorhandenen Bombe falsch werden.
In beiden Fällen ist also das Eintreten bzw. Nichteintreten der soziologischen Voraussage (noch) nicht ihre Rechtfertigung bzw. Widerlegung. Praktisch ist dies z. B. ein Alltagsproblem der Demoskopie (unter anderem bei Wahlprognosen) und des Warnwesens, sogar der Geheimdienste. Daraus folgt, dass – zumindest auf den ersten Blick – solide soziologische Vorhersagen von unfundierten oder gar Scharlatanerien nicht leicht zu unterscheiden sind.
So führen Kritiker von Horoskopen häufig an, dass positive Vorhersagen (etwa: "Du wirst in dieser Woche beruflichen Erfolg haben" oder "Du hast Glück in der Liebe") zu einer Änderung des Verhaltens führen (man wird fleissiger Arbeiten oder weniger Schüchtern auftreten) so dass die Prophezeihung wahr werden kann.
Theoretisch wird ein ungewöhnlich schwieriges Problem aufgeworfen, weil in den Prognosen der experimentalen Naturwissenschaften durch die genaue Einhaltung einer Versuchsanordnung die uns geläufige zweiwertige Logik oft reicht: Die Prognose ist dann je nach Versuchsausgang entweder wahr oder falsch (W|F). Für die Prognose in den Sozialwissenschaften wird aber zur Aufnahme aller Optionen der hörenden Betroffenen eine erkenntnistheoretisch mehr-als-zweiwertige Logik benötigt (z. B. die Güntherlogik - siehe Gotthard Günther). Beispiel: Auf die Prognose, ein Schiff werde morgen nach der Ausfahrt kentern, kann der Kapitän damit reagieren, dass er sich diesem Entweder-Oder von Kentern|Nichtkentern gar nicht stellt, sondern eine dritte Option wählt, nämlich im Hafen liegen bleibt - ein bereits von Aristoteles überlegtes Beispiel: Wie das logisch fassen? (Günther setzt hier neben "W" und "F" den dritten Wert "V" ein.)
Siehe auch: Thomas-Theorem, Prognose, Prophezeiung
Literatur
Grundlage:
- Robert K. Merton: Soziologische Theorie und soziale Struktur. Berlin 1995 [Orig. 1949], S.399-413.
Allgemein:
- Lars Clausen, Zur Asymmetrie von Prognose und Epignose in den Sozialwissenschaften. In: Ders., Krasser sozialer Wandel, Opladen (Leske + Budrich) 1994; ISBN 381001141X
Zum Realismus des Ansatzes:
- Markus Schnepper, Robert K. Mertons Theorie der self-fulfilling prophecy. Frankfurt a. M. u. a. (Peter Lang) 2004; ISBN 363152420X