Mystik

Mystik bezeichnet Berichte und Aussagen über die Erfahrung einer höchsten Wirklichkeit. Diese wird oft, aber nicht notwendigerweise, als göttliche Erfahrung bezeichnet. Da der Ausdruck eines Menschen, der diese höchste Wirklichkeit erreicht hat, immer auch von seinem jeweiligen persönlichen Hintergrund (Religion, Kultur) geprägt ist, läßt sich aus phänomenologischer Sicht nicht mit Sicherheit sagen, ob diese höchste Wirklichkeit in den unterschiedlichen Strömungen ein und dieselbe Erfahrung kennzeichnen.
Der Begriff Mystik leitet sich von lateinischen mysticus: geheimnisvoll, geheim; bzw. dem griechischen Wort mystikos zu myein: (Augen und Lippen) schließen, her.
Religionsgeschichtliche Bedeutung
Religionsgeschichtlich versteht man unter Mystik eine Sonderform religiösen Verhaltens, der mit einem bestimmten Frömmigkeitstypus verbunden ist.
Die mystische Gotteserfahrung ist auch in den mystischen Strömungen des Judentums, des Christentums und des Islams bekannt, dort wird sie aber mit unterschiedlichen Begriffen wiedergegeben: Feuer (Mose), Liebe (Johannesbriefe), göttliches Du, tiefstes Selbst (Augustinus, Gott als innerstes Innen), "sanftes, leises Säuseln") (1 Kön 19,12).
In den östlichen Religionen Buddhismus, Taoismus und im Jainismus werden mystische Erfahrungen einer letztendlichen Wirklichkeit in Bezug auf eine göttliche Wesenheit weder abgelehnt noch behauptet, sondern offengelassen, um eine strenge Negative Theologie aussagen zu können.
Von Mystik abgeleitet ist mystisch, ein oft im abwertenden Sinne gebrauchtes Adjektiv, das unverständliches, rätselhaftes und unsinniges Reden bezeichnet, aber oft auch nur geheimnisvoll bedeutet.
Erläuterungen
Mystik gegenüber konventionellem Gottesglauben
Manche Menschen verbieten sich den Glauben an Gott, weil sie meinen, im Glauben einer Illusion anheim zu fallen. Für sie wäre der Glaube an Gott nur akzeptabel, wenn etwas von Gott wirklich erfahrbar wäre. Diese Menschen ersetzen den direkten Gottesglauben teilweise durch Mystik.
Zur Schwierigkeit, über die höchste erfahrbare Wirklichkeit zu reden
Menschen, die die mystische Erfahrung gemacht haben, weisen darauf hin, dass kein Begriff und keine Aussage das Erfahrene auch nur annähernd beschreibt, "dass alle diese Vokabeln irreführender sind, wahrscheinlich irreführender, als wenn man darüber schlicht schweigt". (Carl Friedrich von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, Hanser 1978(5), 536)
Mystiker reden nicht gerne über ihre Erfahrung, weil alle zur Verfügung stehenden Begriffe und Aussagen dem Erfahrenen gegenüber viel mehr falsch als richtig sind. R. Lay beschreibt das so: "Diese Erfahrungserkenntnis Gottes [...] geht einher mit der Unfähigkeit, über Gott zu sprechen. Genauer: Jetzt weiß ein Mensch von einem Gott – aber sein Wissen muss sprachlos bleiben. Wenn er zu sprechen beginnt, weiß er, dass er über etwas anderes spricht, als über Gott. Und das ist ihm peinlich und unangenehm." (Rupert Lay, Credo. Wege zum Christentum in der modernen Gesellschaft, Langen-Müller/Herbig 1981, 93)
Von Thomas von Aquin, dem größten mittelalterlichen Theologen, wird berichtet, dass er alle seine Bücher verbrennen wollte, nachdem er diese Gotteserfahrung gemacht hatte, weil er eben erkennen musste, dass all die Begriffsinhalte des Wortes "Gott" mehr falsch als richtig sind für die Beschreibung dieser Erfahrung.
Buddha wollte das mystisch Erfahrene nicht Gott nennen, weil das, was man allzu oft unter Gott verstehe, die erfahrene höchste Wirklichkeit nicht sei. Denn diese höchste Wirklichkeit sei kein Wesen, das mit Verstand und Willen ausgestattet sei und handele, sondern die höchste Wirklichkeit sei einfach nur da als alles überstrahlender Friede und glückselige Wirklichkeit. Die höchste Wirklichkeit bewahre Menschen auch nicht vor Unglück oder befreie auch nicht aus Lebensgefahren, wenn man sie in Gebeten inständig darum bäte, sondern in der Welt geschehe viel unabänderliches Leid, und dennoch sei alles in dieser höchsten Wirklichkeit geborgen. Die höchste Wirklichkeit erschaffe auch nicht die vielen Weltdinge wie die Quelle einen Bach hervorbringe oder wie ein Künstler sein Kunstwerk erschaffe. Man wisse nichts darüber, wie das Entstehungsverhältnis sei von der letzten Wirklichkeit und den Weltdingen. Die höchste Wirklichkeit sei einfach da als souveräne, unantastbare, absolut erfüllende Wirklichkeit, die prinzipiell von Menschen wahrgenommen werden könne.
Das mystisch Erfahrene wird manchmal als Leerheit (Nichts) beschrieben. Das bedeutet nicht, dass das mystisch Erfahrene nichts wäre, sondern Leerheit besagt, dass das mystisch Erfahrene nicht wie die Weltdinge aus mehreren Einzelheiten zusammengesetzt ist und deshalb im Vergleich zur Welt Leerheit genannt werden kann. Das mystisch Erfahrene wird aber auch als Wirklichkeit beschrieben, in der es kein Leid, keinen Tod und keine Entwicklung mehr gibt, die eine absolute Erfüllung und Seligkeit bedeutet – aber ganz anders, als man sich Glückseligkeit vorstellen kann und zu sagen wüsste.
Das mystisch Erfahrene ist aber so gewaltig und wunderbar, dass theistisch geprägte Menschen dafür kein anderes Wort haben als das Wort für die höchste Wirklichkeit, das Wort Gott. Atheistisch geprägte Menschen, die die mystische Erfahrung gemacht haben, werden diese Erfahrung eher aussagen als die Erfahrung der wahren Natur allen Seins, als die tiefe kosmische Einheit aller Dinge. Denn die höchste Wirklichkeit kann nur in den Begriffen und Vorstellungsformen erfahren und ausgesagt werden, die durch die Sozialisation im Bewusstsein vorhanden sind. Theistisch geprägte Menschen werden gegenüber einer nicht-theistischen Beschreibungsweise kritisch fragen, warum man die absolute Erfüllung gebende Wirklichkeit nur als tiefe naturhafte Weltkraft oder als unpersönlich-kosmischen Weltgrund aussagt und nicht als überpersonale göttliche Wirklichkeit.
Man darf sich nicht vorstellen, dass man in der mystischen Erfahrung Gott erfährt als ein sichtbares Gegenüber, wie man es sonst von der weltlichen Objekterkenntnis her kennt. Von einer "direkten" Erfahrung Gottes kann also insofern nicht die Rede sein, als das Ich diesem Höheren nicht gegenübersteht, sondern umfasst wird von diesem Höheren. Das Ich erfährt "nur", dass es grenzenlos in etwas anderem geborgen ist. Primär erfährt es also eine Wirklichkeit über sich selbst. "Nur" sekundär erfährt es Gott "direkt", inso-fern das Ich mit-wahrnimmt, in was es geborgen ist. Man kann also sagen, Gott selbst sei unsichtbar (vgl. 1 Tim 6,16: "Gott, der in unzugänglichem Licht wohnt, den kein Mensch gesehen hat.").
Zum Problem des vernünftigen Sprechens über Gott siehe Näheres unter dem Link „Analogielehre – vernünftig über Gott sprechen? (Sprachphilosophie und Theologie)“
Christliche Mystik
Allgemein
Christliche Mystiker gibt es viele, angefangen vom Apostel Paulus über die spanischen Mystiker Johannes vom Kreuz und Theresa von Avila über Meister Eckhart über Nikolaus von der Flüe bis Carl Friedrich von Weizsäcker. Die Praxis christlicher Mystiker ist in manchem identisch, in manchem personal unterschiedlich.
Identisch ist allen christlichen Mystikern erstens die Suche nach innerer Vollkommenheit gemäß der Bergpredigt-Seligpreisung Jesu: "Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen." Das Herz, das sind die Affekte. Affekte sind Wahrnehmungsorgane und Handlungsmotive unserer Psyche, z. B. Wut, Angst, Vertrauen, Hass, Neid, Mitleid, Neugier. Unter unreinen Affekten versteht man Handlungsmotive, die Krisen und Konflikte nicht lösen, sondern verfestigen oder bewirken. Reine Affekte sind Handlungsmotive, die Krisen und Konflikte mindern oder gar auflösen. "Wenn die Affekte Organe unserer Wahrnehmung sind, so ist es vernünftig, für möglich zu halten, dass die gereinigten Affekte den Raum freimachen für eine Wahrnehmung des Höchsten." (Carl Friedrich von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, Hanser 1978 (5), 499)
Zweitens ist den christlichen Mystikern identisch die Suche nach einer zureichenden Antwort auf die Lebens-Sinn-Frage. Hierzu schreiben die Philosophen Ludwig Wittgenstein und Rupert Lay:
"Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen... Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit. (Nicht Probleme der Naturwissenschaft sind ja zu lösen.)... Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. ( Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langem Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?)" (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 6.41; 6.4321; 6.521)
R. Lay, in: Grundzüge einer komplexen Wissenschaftstheorie, Bd. 1, Josef Knecht Verlag 1971, Seite 81 f schreibt schreibt hierzu: "Für Aussagen über >Sinn von Welt< mit seinen Entsprechungen (>Sinn von Menschheit<, >Sinn des Lebens<) wollen wir uns die Anmerkung Wittgesteins zu eigen machen: >Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen [...]<. Da (laut Wittgenstein) die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt bedeuten, wäre die Beantwortung der Sinnfrage >unaussprechlich< ( = >mystisch< im Sinne Wittgensteins). Wir stehen hier vor der Problematik, dass eine Frage gestellt wird, die nicht in der gleichen Erkenntnisschicht (und damit Sprachschicht) beantwortet werden kann, in der sie gestellt wurde." Und, so Lay, dies sei der Grund, warum nach Wittgenstein der Sinn des Lebens zwar mystisch erfahren, aber nicht klar aussprechbar sei.
"Wenn Sie längere Zeit regelmäßig meditieren, ist es nicht ausgeschlossen, dass sie ein Erlebnis haben, das man im Zen "satori" nennt, das Erich Fromm als X-Erfahrung bezeichnet. In dieser Erfahrung wissen Sie plötzlich um den Sinn Ihres Lebens, ohne ihn auch nur andeutungsweise verbalisieren zu können. Ihre X-Erfahrung werden Sie im Horizont Ihrer Weltanschauung verarbeiten. Sind sie ein theistisch-religiöser Mensch, werden Sie sie vielleicht als Gotteserfahrung wahrnehmen, orientieren sie sich eher profan, eher als "kosmisches Gefühl", als die Wahrnehmung der Welt, des Lebens, dessen, was real wichtig ist. Sie sind dann am Ende des Sinnsuche angelangt - und wissen darum. Alle Rätsel, die Ihnen die Welt und Ihr Selbst aufgaben, erscheinen gelöst.“(Rupert Lay, Vom Sinn des Lebens, 192)
Paulus als jüdisch-christlicher Mystiker
Nikolaus von der Flüe als christlicher Mystiker
Der Schweizer Mystiker Niklaus von Flüe (Bruder Klaus) gilt Carl Gustav Jung als »der einzige hervorragende schweizerische Mystiker von Gottes Gnaden, [der] unorthodoxe Urvisionen hatte und unbeirrten Auges in die Tiefen jener göttlichen Seele blicken durfte, welche alle, durch Dogmatik getrennten Konfessionen der Menschheit noch in einem symbolischen Archetypus vereinigt enthält« [Ges. Werke, 11, § 487].
In ihrem Buch "Die Visionen des Niklaus von Flüe" zeigt Marie-Louise von Franz, wie die Visionen dieses mittelalterlichen Mystikers ihn dazu drängten, sein christliches mit einem heidnisch-germanischen Gottesbild zu verbinden. Es lassen sich darin aber auch Elemente des mystischen Islam (Sufismus), des mystischen Hinduismus und Buddhismus (Tantrismus) und des mystischen Judentums (Kabbala) nachweisen (vgl. Weblinks).
Hinduistische Mystik
Die Hindus lehren, dass man erfahren könne, mit dem göttlichen Brahman eins zu sein. Diese Erfahrung ist in Worten kaum wiederzugeben, weil alle Begriffe ihr gegenüber viel mehr falsch als richtig sind. In dieser Wirklichkeitserfahrung weitet sich das Bewusstsein ins Unendliche, es ist ohne Grenzen, und man erfährt sich aufgehoben in einer Wirklichkeit unaussprechlichen Lichts und unaussprechlicher Einheit, die Brahman genannt wird. Aufgrund dieser Einheitserfahrung lehren die Hindus, dass die eigene tiefste Wirklichkeit, die Atman-Seele (vgl. Seele: Seelenbegriff im Hinduismus,) eins ist mit dem göttlichen Brahman.
Manche Hindus verstehen das Einssein des Atman mit dem Brahman pantheistisch: So wie ein Salzklumpen sich im Wasser auflöst, so geht der Atman im göttlichen Brahman auf; so wie die Flüsse ins Meer eingehen, so gehen die Atmans ins göttliche Eine ein. Das Atman ist identisch mit dem Brahman.
Und manche Hindus verstehen das Einssein des Atman mit dem Brahman panentheistisch: beim Eingehen der Atman-Seelen in das Brahman lösen die Atmans sich nicht im göttlichen Brahman auf, sondern behalten einen Eigenstand. Das Atman ist mit dem Brahman unauflöslich verbunden.
Es ist nicht einfach, die Einheit des tiefsten Selbst (Atman) mit dem Brahman zu erfahren. So wie man normalerweise wahrnimmt, kann man zwar das Viele erkennen, aber nicht das göttliche Eine, das in allem bzw. bei allem Vielen gegenwärtig ist. Um das göttliche Eine erfahren zu können, muss man seine Wahrnehmungs-Art ändern. Die Konzentrationstechniken des Yoga und die Askese (Enthaltung, Verzicht) wollen helfen, die Wahrnehmungs-Art so zu ändern, dass man das göttliche Eine wahrnehmen kann.
Die Askese dient dazu, dass das Bewusstsein mehr Freiheit erlangt gegenüber den weltlichen Bedürfnissen. Die Askese kann sich auf das Essen und Trinken durch Maßhalten und Fasten beziehen, auf die Sexualität durch sexuelle Enthaltsamkeit (Keuschheit), auf Herrschaft und Macht durch Gehorsam gegenüber Vorgesetzten oder auf Besitz durch Armut. Das Yoga dient dazu, dass das Bewusstsein sich konzentrieren lernt und sich selbst in seinen vielen unbewussten Teilen kennenlernt. Nach jahrelanger Übung kann das Bewusstsein vielleicht dann auch die Erfahrung machen, dass seine tiefste Wirklichkeit, der Atman, eins ist mit dem göttlichen Brahman.
Buddhistische Mystik
In der buddhistischen Mystik, die insbesondere im Mahayana -und Vajrayana verbreitet ist, geht es wie bei allen buddhistischen Schulen nicht um direkte Erfahrung eines göttlichen Wesens, vielmehr ist die Natur des Geistes des Praktizierenden selbst jenseits von Dualität. Sie wird jedoch aufgrund einer temporären Verschleierung nicht als solche erkannt. Aus dieser Nichterkenntnis, auch grundlegende Unwissenheit genannt, entsteht die Vorstellung eines unabhängig von anderen Phänomenen existierenden Ichs und damit geht das Auftreten der Geistesgifte Verwirrung/Dummheit, Hass, Gier, Neid und Stolz einher, die Ursache allen Leidens. Ziel aller Praxis ist es, die Geistesgifte in ursprüngliche Weisheit umzuwandeln, die Ich-Vorstellung aufzulösen und die den unerleuchteten Wesen eigene Aufspaltung der Phänomene in Subjekt und Objekt zu überwinden. Die den fühlenden Wesen innewohnende, bis dahin verschleierte Buddhanatur wird spontan, als immer schon grundlegend vorhanden erkannt. Einen Menschen, der dieses erreicht, nennt man erleuchtet oder schlicht Buddha. Um dies zu erreichen benutzen Buddhisten Praktiken wie Meditation, Gebet, Opferdarbringungen, verschiedene Yogas und spezielle tantrische Techniken.
Islamische Mystik
Die Sufis (islamische Mystiker) glauben, daß Gott in jeden Menschen einen göttlichen Funken gelegt hat, der im tiefsten Herzen verborgen ist. Gleichzeitig wird dieser Funke auch durch die Liebe zu allem, was nicht Gott ist, verschleiert, genauso wie durch die Aufmerksamkeit gegenüber den Banalitäten der (materiellen) Welt, sowie durch Achtlosigkeit und Vergeßlichkeit. Laut dem Propheten Muhammad sagt Gott zu den Menschen: „Es gibt siebzigtausend Schleier zwischen euch und Mir, aber keinen zwischen Mir und euch.“
Die meisten Sufis praktizieren deshalb eine tägliche Übung namens Dhikr, das bedeutet Gedenken (also Gedenken an Gott, bzw. Dhikrullah). Dabei rezitieren sie bestimmte Stellen aus dem Koran und wiederholen eine bestimmte Anzahl der göttlichen Attribute (im Islam neunundneunzig). Darüber hinaus kennen die meisten sufischen Orden (Tariqas) ein wöchentliches Zusammentreffen in sogenannten Tekkes, bei dem neben der Pflege der Gemeinschaft und dem gemeinsamen Gebet ebenfalls ein Dhikr ausgeführt wird. Je nach Orden kann dieser Dhikr auch Musik, bestimmte Körperbewegungen und Atmungsübungen beinhalten.
Moderne religionsunabhängige Mystik
Seit Carl Gustav Jung wird Mystik immer mehr zu einer religionsunabhängigen inneren Kontemplation jenseits der Spaltung in verschiedene Konfessionen und Religionsbekenntnisse. Vorbild dazu ist der Schweizer Mystiker Niklaus von Flüe (Bruder Klaus).
Der englische Philosoph und Nobelpreisträger Bertrand Russell schrieb ein bekanntes Buch "Warum ich kein Christ bin", machte aber als suchender Atheist am Schluss seines Lebens eine mystische Erfahrung. Das Zeugnis darüber (seine beschreibenen Worte) ist oben unter dem Text "Mystische Erfahrung als Liebe" wiedergegeben.
Weiterführendes
Mystik und Rationalität
Mystik wird häufig als irrational, wissenschaftsfeindlich und weltabgewandt bezeichnet.
Jeder Rationalität liegt ein relativer Begriff von Vernunft zugrunde. Rational ist also alles was Erkenntnis (allgemeiner auch Überleben, Erfolg, Glück usw.) bringt. Der Mystiker erfährt dagegen etwas, das er absolute Erkenntnis nennt. Die Rationalität der Mystik hebt relative Rationalität deshalb nicht auf, sondern erweitert sie. Im heutigen Sprachgebrauch wird die Rationalität der Mystik meist transrational genannt.
Der Erkenntnisgewinn in der modernen Wissenschaft grenzt sich durch eine Auswahl von Methoden wie Reproduzierbarkeit, Empirie und Falsifikation von einem Erkenntnisgewinn durch persönliche Erfahrung ab. In diesem Sinn ist mystische Erfahrung definitionsgemäß immer nicht-wissenschaftlich.
Weltabgewandtheit durch die Vermeidung von körperlichen Freuden durch Fasten, Askese und Zölibat oder durch den Rückzug in die Einsamkeit als Eremit hat in den Religionen eine lange Tradition. Anscheinend kann so eine Haltung teilweise zum Erreichen einer mystischen Erfahrung beitragen. Zen-Meister Willigis Jäger, einer der modernen Mystiker in Europa, betont dagegen: "Ein spiritueller Weg, der nicht in den Alltag führt, ist ein Irrweg." Auch die Verse "Der Ochse und sein Hirte", die den Entwicklungsweg eines Zen-Schülers im alten Japan beschreiben, enden mit der Rückkehr auf den Marktplatz.
Erkenntnistheoretische Erörterung der mystischen Erfahrung
Mystische Erfahrung und andere Bewusstseinszustände
- Halluzination
Halluzinationen sind Erlebnisse, die unsere Psyche im Wachzustand produziert. In dieser Form können sie mit mystischen Erlebnissen durchaus verwechselt werden. Anhand einer Reihe von Merkmalen wie Inhalte der Erfahrung, Dauer, Kommunikationsfähigkeit, Ausdruck, Vokabular und Emotionalität versucht man mystische von psychotischen Zuständen zu unterscheiden. So ist ein wesentlicher Unterschied die Neubewertung und Umorganisation aller wichtigen handlungsleitenden Motive, Affekte, Welt- und Selbstbildvorstellungen, die durch eine echte Erleuchtungserfahrung entsteht.
Die mystische Erfahrung ist weder eine Erfahrung im schlafenden Zustand, noch eine im trancehaften Zustand oder der Hypnose. Diese Zustände zeichnen sich besonders durch eine, auf bestimmte Bewusstseinsinhalte verkürzte, Aufmerksamkeit aus. Mystische Erfahrung ist dagegen eine Erfahrung, bei der man sehr wach und aufmerksam ist. So war die Antwort eines Zen-Meisters auf mehrmalige Nachfragen, was (für die Erleuchtung) wichtig sei: „Achtsamkeit, Achtsamkeit, Achtsamkeit“. Physiologische Untersuchen weisen aber daraufhin, dass der Zustand in der Meditation Ähnlichkeiten mit dem Schlafzustand aufweist ('The Psychology of Meditation’, Clarendon Press, Oxford, 1987).
Allerdings lässt sich der skeptische Einwand, die mystische Erfahrung sei nur eine Halluzination, wissenschatlich so wenig entkräften, wie der Einwand, dass man nicht sicher sein könne, jetzt nicht zu träumen, weil man jeden Hinweis auf die Unterschiede von Traumbewusstsein und Wachbewusstsein – das Zeit- Raum- und Kausalerleben ist sehr unterschiedlich – mit dem Hinweis abtun kann, dass man auch einmal einen Traum haben kann, in dem die Traumwirklichkeiten sich wie die Realität verhalten. Aber so, wie man weiß, dass man nicht träumt, wenn man im Wachzustand ist, so weiß man, dass die mystische Erfahrung keine Halluzination ist, wenn man die erste Wirklichkeit erfahren hat – objektiv beweisen lässt sich das nicht, sondern nur erfahren.
Mystische Erfahrung und Wahrnehmung
Allgemein lässt sich sagen, dass alles, was sich von einer ersten Wirklichkeit wahrnehmen und vermitteln lässt, nur Bilder sein können. „So wie man eine Blume auf der Wiese oder eine Wolke am Himmel nur vermittels der optischen Gesetze des menschlichen Auges wahrnehmen kann, so kann auch die Erscheinung des Mystikers psychisch nur nach den Gesetzen der menschlichen Psyche erfolgen.“ (Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Band II, 1989 (5), 402).
Zusammenfassend gesagt, begegnet einem in der mystischen Erfahrung das Göttliche genau in den Bildern und Begriffen, die einem in seinem Kulturkreis bekannt sind: als Licht, als Eins, als Nirwana, liebendes Du... Das Heilige oder Göttliche begegnet einem in den Begriffen und Vorstellungsformen, die dem Bewusstsein durch seine individuell-soziale und individuell-kulturelle Prägung zugänglich geworden sind.
Um von diesen Erscheinungsbildern zur eigentlichen Erleuchtung weiterzugehen, hat der historische Buddha seine Schüler mit folgenden deutlichen Worten motiviert: ’’Wenn dir Buddha begegnet, töte ihn.’’ Auf den christlichen Kulturkreis übertragen, erscheint uns diese Aufforderung sogar noch drastischer.
Mystische Erfahrung als absolute Erfahrung
Prinzipiell unterscheiden sich die Methoden der Erkenntnisgewinnung in der Wissenschaft und der Alltagserfahrung von der Erkenntnisgewinnung in der Mystik. Ohne selbst eine echte und nachhaltige Erleuchtungserfahrung zu verwirklichen, kann man das Wesentliche nicht verstehen. So dienen die Vorträge von Zen-Meistern nicht der Vermittlung von intellektuellen Wissen, sondern der Vorbereitung und der Motivation oder es sind Hilfen auf dem Weg, um die Erfahrung in den Alltag zu integrieren.
Dabei haben Mystiker aller Zeiten und Kulturen immer wieder darauf hingewiesen, dass die erfahrene Wirklichkeit in einer echten mystischen Erfahrung viel intensiver empfunden wird als die Wirklichkeit, die durch Sinneswahrnehmungen und Denkvorgänge vermittelt wird. Der Zweifel des Verstandes, der durch die Aktivität des Denkens entsteht, tritt in den Hintergrund oder löst sich völlig auf. Es macht also nur bedingt einen Sinn den Begriff von Wirklichkeit aus der Philosophie mit der Erfahrung von Wirklichkeit in der Mystik zu vergleichen. Die völlige Abwesenheit von Zweifeln muss allerdings kein Dauerzustand sein. So ist zum Beispiel von Franz von Assisi bekannt, dass er viele Jahre unter einem nicht kontrollierbaren Wechsel dieser Erfahrungsebenen stark gelitten hat.
Wie will man die mystische Erfahrung erklären? Hierzu schreibt C.F.v. Weizsäcker: "»Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen.« (Mt 5,8) Im Herzen sollen wir rein sein. Das Herz – das sind die Affekte. Wir finden uns aber unreinen Herzens vor. Wie können wir im Herzen rein werden? Das Entscheidende wird das Verlangen nach Reinheit sein, eben das Hungern und Dürsten ...(das Bitten und Betteln um den Geist der Liebe, des Vertrauens, des Nicht-Verhärtens... – d. Verf.). Wenn die Affekte Organe unserer Wahrnehmung sind, so ist es vernünftig, für möglich zu halten, dass die gereinigten Affekte den Raum freimachen für eine Wahrnehmung des Höchsten." (Carl Friedrich von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, Hanser 1978 (5), 499 )
Siehe auch
- Christliche Mystik, Kabbala, Sufismus, Zen, Vajrayana (Tantrismus), Yoga
- Liste von Mystikern, Mysterium, mystische Erfahrung
Literatur
Allgemeine Literatur
- René Bütler: Mystik der Welt. Quellen und Zeugnisse aus vier Jahrtausenden. Ein Lesebuch der mystischen Wahrheiten aus Ost und West. Heyne, München 1995, ISBN 3-453-08757-7
- Georg Schmid: Die Mystik der Weltreligionen. Eine Einführung. 4. Aufl. Kreuz, Stuttgart 2000, ISBN 3-7831-1016-5
- Timothy Freke, Peter Gandy: Die Welt der Mystik. Die mystischen Traditionen von Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Islam, Judentum, Schamanismus. Goldmann, München 2001, ISBN 3-442-21540-4
- Annemarie Schimmel: Wie universal ist die Mystik? Die Seelenreise in den großen Religionen der Welt. Herder, Freiburg im Breisgau u.a. 1996, ISBN 3-451-04484-6
- Peter Dinzelbacher (Hrsg.): Wörterbuch der Mystik. 2. Aufl. Kröner, Stuttgart 1998, ISBN 3-520-45602-8
Spezielle Literatur
Forschung
- Karl Albert: Einführung in die philosophische Mystik. WBG, Darmstadt 1996, ISBN 3-534-12948-2
- Peter Widmer: Mystikforschung zwischen Materialismus und Metaphysik. Eine Einführung. Herder, Freiburg i.Br. u.a. 2004, ISBN 3-451-28322-0
- Guttmann, Gieselher: Zur Psychophysiologie der Bewußtseinssteuerung Meditation - Trance - Hypnose: Wurzeln und biologische Korrelate 2002, Tonkassette
Sufismus
- Annemarie Schimmel: Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik. 2. Aufl. Beck, München 2003, ISBN 3-406-46028-3
- Annemarie Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus. Insel, Frankfurt a.M. u.a. 1995, ISBN 3-458-33415-7
Christentum
- Peter Dinzelbacher: Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Schöningh, Paderborn u.a. 1994, ISBN 3-506-72016-3
- Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. 5 Bde. Beck, München 1990-1999.
Kabbala
- Daniel C. Matt (Hrsg.): Das Herz der Kabbala. Jüdische Mystik aus zwei Jahrtausenden. Barth, Bern u.a. 1996, ISBN 3-502-65450-6
- Gershom Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1977, ISBN 3-518-07809-7
Buddhismus
- Daisetz T. Suzuki: Der westliche und der östliche Weg. Über christliche und buddhistische Mystik. Neuaufl. Ullstein, Frankfurt am Main u.a. 1995.
Weblinks
- Artikel "Mystik" in Eislers Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1904)
- Kurzüberblick Mystik
- Zeittafel und Zitate zur Mystik
- Personal Website des Benediktiners und Zenmeisters Willigis Jäger
- Deutsches Portal zum Sufismus
- Schamanistische Mystik
- 68seitiges Infoheft "Mystik" für ev. Religionspädagogen (PDF)
- Essay von Jürgen Kuhlmann über (Zen-)Mystik heute
- Website über die Verbindung von Mythologie und Mystik, insbesondere über den Mythenforscher Joseph Campbell
- Beispiel für moderne Kritik an der Mystik