Fischer-Kontroverse
Die so genannte Fischer-Kontroverse gilt als die wichtigste geschichtswissenschaftliche Kontroverse der bundesdeutschen Nachkriegszeit und behandelte die Frage nach der deutschen politischen Strategie vor und während des Ersten Weltkrieges. Ausgelöst zu Beginn der 1960er Jahre durch Schriften des Hamburger Historikers Fritz Fischer, wurde die Debatte sowohl in der historischen Forschung, als auch in der deutschen Öffentlichkeit bis in die 1980er Jahre hinein kontrovers geführt. In den Blickpunkt rückte hierbei vor allem die Frage nach der Gewichtung der deutschen Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Eine politische Diskussion der Kriegsschuldfrage hatte schon im Verlauf der Weimarer Republik stattgefunden, nachdem der Paragraph 231 des Versailler Vertrags eine Alleinschuld der Mittelmächte für den Kriegsausbruch zugewiesen hatte, siehe Kriegsschulddebatte.
Fischers Anstoß
Den Ausgangspunkt der Forschungen Fritz Fischers stellte die Frage nach den deutschen Kriegszielen im Ersten Weltkrieg dar. 1959 veröffentlichte er in der Historischen Zeitschrift (HZ) den Aufsatz "Deutsche Kriegsziele. Revolutionierung und Separatfrieden im Osten 1914-1918". Zwei Jahre später erschien seine Monographie "Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18". In beiden Werken setzte sich Fischer mit pointierten Thesen deutlich von dem in Deutschland bis dahin gültigen Forschungsstand ab und löste damit unmittelbar eine hitzige Debatte aus.
Fischer betonte, dass die deutsche Politik während des Ersten Weltkriegs kontinuierlich von weitreichenden Kriegszielvorstellungen geprägt gewesen sei. Das expansionistische "Septemberprogramm" von Reichskanzler Bethmann Hollweg von September 1914 habe bis zum Kriegsende für Politiker und Militärs gleichermaßen Gültigkeit behalten. Weitergehend postulierte Fischer, dass diese Kriegsziele in einem engen Zusammenhang mit der deutschen imperialistischen "Weltpolitik" vor 1914 zu sehen seien, dass letztlich also die Zielstellung einer deutschen Hegemonie in Europa schon vor dem Krieg konzipiert worden sei.
In das Zentrum der Kontroverse geriet vor allem Fischers Interpretation der deutschen Verantwortung in der Julikrise 1914:
- "Da Deutschland den österreichisch-serbischen Krieg gewollt und gedeckt hat und, im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit, es im Juli 1914 bewußt auf einen Konflikt mit Rußland und Frankreich ankommen ließ, trägt die deutsche Reichsführung den entscheidenden Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges." (Fischer: Griff nach der Weltmacht, S. 82)
Er sprach damit gegen die in der zeitgenössischen deutschen Historiographie vorherrschende Meinung, das Reich sei im Juli 1914 zunächst defensiv orientiert gewesen. In späteren Werken, etwa "Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914" (erstmals 1969) und zuletzt zusammenfassend "Juli 1914" (1983), akzentuierte und verschärfte Fischer, nicht zuletzt in Reaktion auf die teilweise harsch geführten Angriffe, seine Position: Deutschland habe eingedenk seines expansiven Kriegszielkatalogs spätestens seit 1911 bewusst auf einen allgemeinen Krieg hingearbeitet. Zunehmend betonte Fischer, auch im Anschluss an Wehlers Theorie des Sozialimperialismus, dabei innenpolitische Motive.
Verlauf der Kontroverse
Die Reaktionen auf die provozierenden Thesen Fischers fielen in der Bundesrepublik Deutschland zunächst mehrheitlich ablehnend aus. Im Ausland wurde seine Position dagegen eher unterstützt. Als erster und schärfster Kritiker Fischers profilierte sich Gerhard Ritter, der - in der historiographischen Tradition der Zwischenkriegszeit stehend - weiterhin eine grundsätzlich defensive deutsche Politik im Juli/August 1914 apostrophierte. Unterstützt wurde Fischer dagegen in der Bundesrepublik von seinen Schülern wie Immanuel Geiss, in England etwa von John Röhl.
Zu den wichtigsten Kontrahenten Fischers gehörten die Historiker Egmont Zechlin, Karl-Dietrich Erdmann und Andreas Hillgruber. Auch sie erkannten, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, eine initiierende Verantwortung des Deutschen Reiches am Ersten Weltkrieg an. Sie gingen gleichwohl davon aus, dass die Reichsleitung unter dem Reichskanzler Bethmann Hollweg aus dem Gefühl einer für Deutschland unhaltbar gewordenen Defensive heraus die politische - und nur notfalls militärische - Offensive suchte. Die deutsche Politik der Julikrise wurde nunmehr interpretiert als eine
- "Konzeption eines kalkulierten Risikos zur Durchsetzung begrenzter machtpolitischer Veränderungen unter Ausnutzung von internationalen Krisensituationen." (Andreas Hillgruber: Deutsche Großmacht- und Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1977, S. 92)
In ihrer Ablehnung einer deutschen Haupt- oder Alleinverantwortung für den Beginn des Ersten Weltkriegs betonten sie zudem stärker die politischen Entscheidungen und Ziele der anderen Großmächte in der Julikrise. So wurde die Mobilmachung der russischen Armee in diesem Sinne als ein ähnlich wichtiger eskalierender Faktor wie die deutsche "Blankovollmacht" für Österreich-Ungarn vom 5. Juli 1914 angesehen.
Bilanz
Die Fischer-Kontroverse kann heute, nicht zuletzt aufgrund ihrer doch teilweise sehr emotionalen Einfärbung, selbst als ein aufschlussreicher Teil der westdeutschen Nachkriegsgeschichte gelten. Seit den 1980er Jahren ist die Debatte um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs deutlich abgeflaut und heute einer nüchternen Ereignisanalyse gewichen.
Obwohl Fischers Thesen in ihrer äußersten Zuspitzung heute kaum noch vertreten werden, wird seine Arbeit heute doch als eminent wichtiger methodischer und inhaltlicher Impuls für die Historiographie angesehen. Die direkte Wirkung seines Anstoßes war eine andauernde intensive geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit dem Wilhelminischen Zeitalter. Die vor Fischer vorherrschende apologetische Auffassung eines deutschen Verteidigungskrieges wurde in diesem Zusammenhang endgültig widerlegt. Gleichzeitig führte die Kontroverse dazu, dass die Rolle der anderen an der Julikrise beteiligten Staaten sowie deren Kriegsziele in der internationalen Forschung zunehmend kritischer hinterfragt wurden. Indirekt förderte Fischers Impuls eine grundsätzliche Umwälzung innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft seit den 1960er Jahren, die sich nunmehr stärker sozial- und gesellschaftsgeschichtlichen Fragestellungen widmete.
Literatur
- Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Kronberg (Athenäum) 1977 - neue Ausgabe bei Droste 2000 ISBN 3770009029 - die erstmals 1961 erschienene Monographie löste die Fischer-Kontroverse aus.
- J. A. Moses: The Politics of Illusion. The Fischer Controversy in German Historiography, London 1975 (Nachdruck 1985) - Zusammenfassung der englischsprachigen Diskussion.
- Gregor Schöllgen: Griff nach der Weltmacht? 25 Jahre Fischer-Kontroverse, in: Historisches Jahrbuch 106 (1986), S. 386-406 - Bilanz der Kontroverse.
- Gregor Schöllgen (Hg.): Flucht in den Krieg? Die Außenpolitik des kaiserlichen Deutschland, Darmstadt 1991 - Sammelband, der in kontroversen Beiträgen die verschiedenen Interpretationen widerspiegelt.