Steve Coleman
Stephen "Steve" Coleman (* 20. September 1956 in Chicago) ist ein afro-amerikanischer Jazz-Musiker, Alt-Saxophonist, Bandleader und Komponist.
Herkunft, Einflüsse, Aktivitäten
Steve Coleman wuchs in der South Side von Chicago in einem afro-amerikanischen Umfeld auf, in dem Musik eine wichtige, alltägliche Rolle spielte. Er sang zunächst ein wenig in der Kirche und in den damals aktuellen kleinen Gruppen, die die „The Jackson 5“ nachahmten, und begann mit 14 Jahren Alt-Saxofon zu spielen. Im Alter von 17, 18 Jahren wurde seine Beschäftigung mit Musik sehr ernsthaft. Seine Bemühungen, improvisieren zu lernen, führten ihn zu Charlie Parkers Musik, die sein Vater ständig hörte und die eine wesentliche Bedeutung für seine weitere Entwicklung erhielt, auch zur Musik von Sonny Rollins, John Coltrane und anderer. - Unter den Musikern, mit denen er persönlichen Kontakt hatte, haben ihn in der Anfangszeit vor allem beeinflusst: Von Freeman hinsichtlich der Improvisation, Sam Rivers hinsichtlich der Komposition und Doug Hammond hinsichtlich des konzeptuellen Verständnisses. Auch west-afrikanische Musik bekam für ihn bereits früh eine wesentliche Bedeutung.
Ende der 70er Jahre zog Steve Coleman nach New York. Er wurde bald von etlichen angesehenen Band-Leadern engagiert, etwa von Thad Jones und Mel Lewis, Sam Rivers, Cecil Taylor, David Murray, Doug Hammond sowie Dave Holland. Einen großen Teil seiner ersten Zeit in New York verbrachte er jedoch damit, in einer Straßenmusik-Band, die er mit dem Trompeter Graham Haynes zusammengestellt hatte, ein wenig Geld zu verdienen. Diese Gruppe wurde zur ersten „Steve Coleman and Five Elements“-Band, in der er damals seine Improvisations-Weise entwickelte. Mit dem so genannten „M-Base“-Konzept bemühte er sich in dieser Zeit mit anderen jungen Musikern um gemeinsame Ziele.
Seit den 80er Jahren beschäftigt sich Steve Coleman intensiv mit dem Weltverständnis alter Kulturen, vor allem mit dem alt-ägyptischen. Angeregt wurde er dazu nach eigener Aussage durch das Studium der Musik John Coltranes. Um die heute noch existierenden, mit den alten Kulturen eng verbundenen Musikformen näher kennen zu lernen, unternahm er zahlreiche Reisen nach Ghana, Cuba, Senegal, Ägypten, Indien, Indonesien und Brasilien.
Im Jahr 1985 nahm Steve Coleman seine erste CD als Bandleader (mit der deutschen Firma JMT) auf und hat seither mit einer mehrmals veränderten Kernbesetzung und vielen wechselnden weiteren Musikern eine Reihe von sehr unterschiedlichen Aufnahmen gemacht (in den 90er Jahren mit der großen Firma RCA/BMG, seit 2001 mit der kleinen, französischen Firma Label Bleu). Im Handel nicht mehr erhältliche CDs macht Steve Coleman als kostenlose Downloads auf seiner Website zugänglich. Die CD "Alternate Dimension Series I" hat er nur auf nicht kommerziellem Weg über das Internet zur Verfügung gestellt.
In den 90er Jahren entwickelte er mit Hilfe von Programmierern im Pariser Forschungszentrum für Computer-Musik IRCAM ein improvisierendes Computer-Programm, das dann als „Bandmitglied“ bei einem Auftritt der Coleman-Gruppe am 11.6.1999 in Paris verwendet wurde.
Coleman ist immer wieder als Leiter von Workshops und als Lehrer tätig (unter anderem von 2000 – 2002 als Gastprofessor an der University Of California Berkeley).
M-Base
Nachdem Steve Coleman, Greg Osby, Cassandra Wilson und andere Musiker aus ihrem Umfeld in den 80er Jahren mit ihrer Musik Aufsehen erregt hatten, wurde der von ihnen verwendete Begriff „M-Base“ von Jazz-Kritikern aufgegriffen, um diese neuartige Musik einzuordnen. Aufgrund ihrer stilistischen Vielfalt eignete sich dafür aber dieser Begriff nicht, mit dem lediglich ein gemeinsames Verständnis von den grundlegenden Zielen für die Bemühungen jedes einzelnen um die Entwicklung seiner Musik benannt wurde. Die Enttäuschung der Kritiker darüber, dass der Begriff „M-Base“ also nicht zu einer stilistischen Beschreibung taugt, führte zum – vor allem an Steve Coleman gerichteten – Vorwurf der Unverständlichkeit dieses Begriffes.
„M-Base“ ist eine Abkürzung für „Macro - Basic Array of Structured Extemporizations” und benennt eine gemeinsame Auffassung, nach der eigene aktuelle Erfahrungen durch eine kreative Musik ausgedrückt werden sollen, in der sowohl Improvisation als auch Strukturierung wesentlich sind. Ziel ist eine – wenn auch sehr weit verstandene - gemeinsame musikalische Sprache, in einer Art weit gefasstem Kollektiv.
Elemente dieser Orientierung sind somit:
- Gegenwartsbezug
- Improvisation
- Strukturierung
- Belebung der Kreativität
- laufende geistige Weiterentwicklung als Voraussetzung für musikalische Entfaltung
- eine nicht der „westlichen“ Zivilisation entsprechende, vor allem aus afrikanischen Kulturen stammende Sichtweise und Ausdrucksart
- der Einfluss dieser „nicht-westlichen“ Art auf die musikalische Gestaltung, vor allem hinsichtlich der Entwicklung von Rhythmik und Melodik
- die Verbindung der herausragenden Leistungen der Jazz-Geschichte über die Zeiten hinweg durch die Bedeutung dieser Elemente.
Das M-Base-Konzept weist somit in eine Richtung, die etwa an die kreative Energie bei der Entstehung des „Bebop“ denken lässt, an das lose Kollektiv der daran beteiligt gewesenen Musiker und auch an die Art der damals vorangetriebenen musikalischen Ausdrucksformen – nicht aber an die wenig kreative, ständige Wiederholung damaliger Errungenschaften in der Gegenwart, nicht an strukturlose „frei improvisierte Musik“, nicht an Musik, in der Improvisation keine oder nur eine geringe Rolle spielt, die typisch europäische Denkungsart widerspiegelt oder für deren Gestaltung geschäftliche Gesichtspunkte maßgeblich sind.
Nicht zuletzt wegen der für Jazz-Musiker mit derartigen Ambitionen sehr ungünstigen Verhältnisse scheint es nur wenigen Musikern gelungen zu sein, diesem damals ins Auge gefassten Weg zu folgen. Steve Coleman setzt seine Entwicklung jedoch auch in der Gegenwart beharrlich im Sinne des M-Base-Konzeptes fort.
Charakteristik seiner Musik
Die Basis und den ständigen Bezugspunkt in Steve Colemans Musik bildet ihre intensive, außerordentlich komplexe Rhythmik. Aktueller urbaner Groove, der swingende Beat und die diffizilen Strukturen des Jazz, alte afro-kubanische und afrikanische Rhythmen erscheinen in vielfältigen, dichten Kombinationen mit einem eigenständigen Charakter. Ungerade Metren und sich überschneidende Rhythmen erzeugen häufig einen vielschichtigen Fluss ständiger Veränderungen, einen laufenden Wechsel zwischen klar erkennbaren rhythmischen Mustern und unerwarteten Wendungen. Bei aller Komplexität spricht diese Musik aber mit einer eindringlichen Wirkung das Bewegungsgefühl an. - Steve Coleman soll in Workshops Musikern, die Schwierigkeiten mit den ungeraden Metren hatten, zugerufen haben: „Zähl’ nicht, tanze!“. Auch sind an Auftritten immer wieder Tänzerinnen beteiligt gewesen.
„Elektrische“ Sounds haben nur bei einigen Aufnahmen der ersten Jahre eine größere Rolle gespielt. Die Rhythmus-Gruppe enthält meist einen mächtigen, dunklen Puls und kantige Akzente. Die Melodie-Instrumente bewegen sich stets im Spektrum eines „Gut-Klingens“ mit vokalem Ausdruck. Die insbesondere in der Live-Musik oft brennende Intensität kommt durch die rhythmische Dichte und die bewegungsvollen Melodie-Linien zustande – weniger durch eine Hitze und Schärfe der Klänge. Diese Zurückhaltung hinsichtlich einer Dramatik der Sounds erzeugt gegenüber der oft mächtigen Rhythmus-Gruppe mitunter eine enorme Spannung, die die Bewegung der Melodie-Linien hervorhebt. Der junge Trompeter Jonathan Finlayson versteht es übrigens eindrucksvoll, diese Spannung durch äußerst wirkungsvoll gesetzte Pausen, also auf eine betont defensive Weise, zu steigern.
In der Art dieser Sounds wird die Band seit dem Sommer 2003 von der Sängerin Jen Shyu verstärkt, die mit Finlayson (Trompete) und Coleman (Alt-Saxofon) derzeit (2005) den Kern der Melodie-Gruppe bildet. Vor allem zwischen diesen drei Solisten findet in der Live-Musik eine intensive Kommunikation statt, die manchmal ein dichtes, helles Gewebe aus Melodie-Linien und schillernden Klängen produziert. Steve Coleman erscheint in vielfältiger Weise als eine überaus aktive Quelle der Kommunikation, Interaktion und Integration. In seinen Gruppen haben zahlreiche Musiker selbst eine außerordentliche Kreativität entfaltet und damit die Musik entscheidend mitgestaltet und dennoch behielt sie stets die von Coleman geprägte Eigenheit, die eng mit seiner Art zu improvisieren verbunden ist.
Sein Improvisations-Stil:
Steve Colemans Ton auf dem Alt-Saxofon tritt zwar wenig geräuschvoll, scharf oder sonst mit eindringlicher Gestik auf, sondern eher entspannt, singend, mit einer Zurückhaltung, die die Aufmerksamkeit auf den Inhalt der Erzählung, auf die Ideen, auf die Melodie-Linien lenkt. In dieser eher leichteren, beweglichen Art hat sein Ton aber eine große Festigkeit, Ausdrucksstärke und Vielfalt, die von Zartheit über ein helles, leidenschaftliches Strahlen bis zu einem mitunter durchdringenden „Cry“ reicht, wobei sein Ausdruck im Fluss der Linien ständig subtil variiert.
Sein Spiel ist außerordentlich gewandt, geschmeidig und flüssig und besteht aus Melodie-Linien mit neuartigen Strukturen, die Steve Coleman als kreisförmig und ineinander verschachtelt beschrieben hat. Eine wichtige Anregung bezog er aus der Beobachtung der Flug-Muster von Bienen, ihrem Schwirren auf verschiedenen Ebenen, den schnellen, zick-zack-artigen Bewegungen und das Umfliegen eines Gegenstandes. Im Zusammenhang mit solchen natürlichen Bezügen begann er auch Melodielinien oft symmetrisch aufzubauen, indem er sie von einem bestimmten Ton aus in gleichen Intervallen nach oben und unten fortführt. Eine intensive Beschäftigung mit den der Musik sowohl in rhythmischer als auch harmonischer Hinsicht zugrunde liegenden Zahlenverhältnissen und ästhetischen Proportionen haben zu einer laufenden weiteren Entfaltung seines Improvisations-Stils wie auch seiner Musik insgesamt geführt. – Für die somit in hohem Maße durchdachten Strukturen seiner Improvisationen gilt jedoch wiederum: Trotz avancierter Komplexität und enormen Ideenreichtums erreichen sie eine bestechende Stimmigkeit, rhythmische Intensität und Melodiosität. Diese Wirkung beruht vor allem auch darauf, dass seine Melodie-Linien ein hoch differenziertes Spiel mit dem Bewegungsgefühl reflektieren, also einen kunstvollen „Tanz der Linien“ darstellen.
In der Musik der bedeutendsten Musiker der Jazz-Geschichte kommt jeweils eine sehr persönliche Wesensart zum Ausdruck, die jedoch immer nur andeutungsweise beschrieben werden kann, z.B.: Louis Armstrongs Menschlichkeit und Urwüchsigkeit, Charlie Parkers Erhebung zu einem Vogelflug, Miles Davis melancholischer Stolz, John Coltranes kraftvolles Streben, seine Würde und Erhabenheit. - Für Steve Colemans Ausdruck ist charakteristisch: eine Leichtigkeit im Spiel mit Schwierigem, ein Gleichgewicht bei enormer Intensität, eine tiefgründige Heiterkeit, Helligkeit, Beweglichkeit, eine intelligente Natürlichkeit, eine vielfältige, drängende Kreativität mit einer spielerischen Ernsthaftigkeit, letztlich ein Charme der Lebendigkeit.
In Steve Colemans Musik ist sowohl der auf Intuition, Spontaneität, Feeling, Körpergefühl beruhende Aspekt als auch die Kreativität der musiktheoretischen Konzepte in einem besonderen Maß und von einander untrennbar entwickelt. Steve Coleman bezieht sich dabei auch auf Sichtweisen, die in älteren Kulturen entwickelt wurden und die eine rein rationale Wahrnehmung überschreiten, Rationalität und Intuition vereint wahrnehmen und sich auf symbolische Bedeutungen und Bilder beziehen. Colemans philosophische und spirituelle Bestrebungen sind für seine Musik jedoch noch in einer tiefgründigeren Weise bestimmend: Er versteht die Musik Charlie Parkers, John Coltranes, Duke Ellingtons, Art Tatums, aber auch etwa die von Ludwig van Beethoven und Bella Bartok als eine "Streimacht für Kreativität und positive Dinge (...) mit bewusstseinserweiternden Möglichkeiten und einer Tendenz, Menschen emporzuheben zu - das ist schwer zu beschreiben - zu einer Art Erkennen ihrer angeborenen Größe, (...) zu einer höheren Verwirklichung dessen, was wir sind". Nach dieser geistigen Kraft der Musik, die schwer beschreibbar und meist nicht sofort offensichtlich ist, nach jener "Art von Dingen, die im Bewusstsein explodieren, die einen in Bann ziehen oder abschrecken, weil sie einem zu viel sind" strebe er.
Welcher Jazz-Stil?
Steve Coleman lehnt es ab, seine Musik als „Jazz“ zu bezeichnen, weil zu viele der mit diesem Begriff verknüpften Vorstellungen nicht passen. - Die Freizügigkeit, mit der er seine Musik bis in die Grundstrukturen hinein gestaltet (z.B. sein Streben nach einer eigenen Tonalität), verbinden ihn mit jenen Musikern, die in der Tradition des „Free Jazz“ gesehen werden (und damit angesichts der vielen eigenständigen Entwicklungen bereits selbst unzureichend charakterisiert werden). Zu Henry Threadgill etwa sind bei Coleman Bezüge zu finden und die CD „Lucidarium“ (2003) mit ihren tonalen Erweiterungen und „kollektiven“ Improvisationen wirkt ausgesprochen avanciert. Für viele Aufnahmen Colemans ist das Motto des Art Ensembles of Chicago „Ancient to the Future“ (aus uralter Vergangenheit in die Zukunft) zutreffend und das Selbstverständnis vieler Musiker dieser Richtung, Teil einer afrikanischen Diaspora zu sein, teilt auch Steve Coleman.
Andererseits erscheint seine Musik geradezu im Gegensatz zu dem, was als „Free Jazz“ bezeichnet wird: mit ihren eleganten, geschmeidigen Sounds, mit den keineswegs aufgelösten, sondern hoch differenzierten, pulsierenden Rhythmen, mit dem Zurücknehmen der klanglichen Expression zugunsten ausgefeilter Melodie-Linien, mit ihrer Brillanz und Verfeinerung. – Dadurch ergibt sich eine Nähe zu jener Richtung, die als „Bebop“ bezeichnet wird. Charlie Parker bildet für Coleman bis in die Gegenwart einen der wichtigsten Einflüsse und seine Musik taucht in der von Steve Coleman immer wieder mit einer Leichtigkeit und Flüssigkeit auf, die zeigt, um wie viel vitaler hier „Bird lives“ als in den traditionalistischen Stilen. Die Rätsel um die Bedeutung des (primär von Coleman entwickelten) „M-Base“-Konzeptes lichten sich, wenn man sich vorstellt, dass die „Bebop“-Bewegung heute zustande käme, mit den Ausdrucksformen der Gegenwart, doch mit der selben Einheit von geistiger Beweglichkeit und körperlichem Bewegungsgefühl, von lässigen Sounds und avancierter Perspektive. Was die Steve-Coleman-Musik für den Hörer schwierig macht, ist meist auch nicht das Unharmonische, Schwer-Erträgliche, Chaotische, das man mit „Free Jazz“ verbindet, sondern ähnlich wie beim „Bebop“ mehr die Schnelligkeit, Komplexität und Raffinesse, die es erschweren, den Ablauf konzentriert und zugleich auch mit entsprechendem Gefühl für die Bewegungen mitzuvollziehen.
Die Musik Steve Colemans basiert jedoch nicht auf den im Vergleich noch einfachen, geradlinigen rhythmischen Grundstrukturen des „Bebop“ und seinem Akkordschema. Auch hat der damalige Ausdruck des Blues, der den „Bebop“ prägte, keine solche Bedeutung mehr. Steve Coleman ist mit neueren Formen der „Black Music“ aufgewachsen und es ist daher kein Wunder, dass in seiner Musik die Ausdrucksmittel jüngerer Generationen urbaner, afro-amerikanischer Kreise auftauchen (James Brown, Rap usw.). So tritt bei ihm Groove neben Swing und seine Musik hat viel von der unmittelbaren Wirkung der im Alltag bewährten „Black Music“ – nicht in Form einer konstruierten Fusion, sondern mit jener Selbstverständlichkeit, mit der Charlie Parker Blues spielte. Maceo Parker wird von Musikjournalisten jedoch zu Unrecht immer wieder ins Spiel gebracht. Er hatte hier keinen nennenswerten Einfluss und Colemans Musik ist weit entfernt von all jener Party-Musik, die mit dem Etikett „Funk“ oder als Verbindung von Hip-Hop und Jazz gehandelt wird. Auch alle Vorstellungen von „Fusion-Music“ sind verfehlt.
Steve Coleman pflegt aber eben kein Künstlertum, sondern ist mit den aktuellen musikalischen Ausdrucksformen und den Lebenserfahrungen, die sie vermitteln, verbunden (das symbolisiert wohl auch seine verkehrt aufgesetzte Baseballkappe). Dabei bezieht er im Zusammenhang mit der Auffassung von einer afrikanischen Diaspora auch west-afrikanische und afro-kubanische Musikformen so ein, dass sie Teil des eigenen Ausdrucks werden. Sein Streben nach einer laufenden Erweiterung der Erfahrung und des Begreifens, für das John Coltrane Vorbild ist, hat Colemans Horizont aber noch weit darüber hinaus ausgedehnt. Es hat z.B. zu einer besonderen Wertschätzung für Beethoven und Bella Bartok und im Zusammenhang mit seinen philosophisch-spirituellen Anliegen schließlich dazu geführt, Musik als Abbild der „großen Welt-Schöpfung“ zu verstehen.
So bewegt sich seine Musik ständig in einem Spannungsverhältnis zwischen unmittelbarer, bodenständiger Wirkung und einer mitunter Schwindel erregenden geistigen Perspektive. Die vielfältigen Aspekte werden durch die drängende Gestaltungskraft Colemans aber so zusammengefügt, dass eine Musik mit einheitlichem, wenn auch vielschichtigem Charakter entsteht. Es kommt dadurch auch kaum zum Eindruck von kulturellen Begegnungen wie in der so genannten „World-Music“ und auch sonstige Vorstellungen von stilistischen Fusionen erweisen sich als nicht treffend. Es ist eine eigenständige Musik auf der schon immer nach vielen Seiten offenen, aber auch konsistenten Linie, die in der Vergangenheit von Louis Armstrong, Charlie Parker und John Coltrane repräsentiert wurde – ursprünglich, aktuell und avanciert zugleich.
Seine Homepage
Auf Steve Colemans Homepage ([1]) findet man neben Tourplänen, Interviews, Aufsätzen, Texten zu den CDs und weiterführenden Links vor allem auch viele seiner CDs komplett zum Herunterladen.
Dokumentarfilm
In dem auf DVD erhältlichen Film „Elements Of One“ (Bezugsquelle: siehe Colemans Homepage) begleitet eine ausgezeichnete Dokumentar-Filmerin Steve Coleman bei Begegnungen mit wichtigen Einflüssen für seine Musik. Dabei steht weniger seine Musik selbst im Mittelpunkt als diese Inspirations-Quellen und es wird das starke Spannungsverhältnis zwischen seinen ins Esoterische reichenden Ideen und der unmittelbaren, zupackenden Wirkung seiner Musik deutlich.
Im ersten Teil sieht man Steve Coleman im Kontakt mit dem Tenor-Saxofonisten Von Freeman, der hier für den Reichtum und die „Tiefe“ der Jazz-Tradition steht, aus der Coleman seine Sprache entwickelt hat. - Dann geht es um die afrikanischen Wurzeln, die über Kuba in den Jazz geholt wurden. Coleman ist mit seiner Band nach Kuba gereist. Ein wenig uralter afro-kubanischer Kult ist zu sehen und dann eine afro-kubanische Gruppe, ihre Zusammenarbeit und schließlich das Zusammenfließen mit der Coleman-Band. Es gibt viele kurze, subtile Eindrücke von den begeisterten (hervorragenden) Musikern und von der (kubanischen) Atmosphäre. - Mit einigen der kubanischen Perkussionisten ist dann die Coleman-Band im Senegal, wo die Afrikaner und Kubaner in einander sich selbst entdecken. Wie in Kuba vermittelt der Film die Lebendigkeit, die prallen, höchst intelligenten Rhythmen und leuchtenden Farben. - Die Stimme eines Rappers im Hintergrund bringt den Blues ins Spiel, während man an die amerikanische West-Küste reist, wo die Coleman-Band mit Rappern und latein-amerikanischen Perkussionisten mehrere Wochen lang zusammenspielte: Die Musik ist hier „very, very different“ gegenüber den afrikanischen Wurzeln, aber darunter ist die Verbindung spürbar. In Amerika fehlt das gleißende Licht Afrikas, das die Farben so leuchten lässt. Doch im urbanen Matt brennen die Worte, Rhythmen und Ideen. – Danach geht die Reise nach Indien und damit schließlich auch in verstärkt spirituelle Bezüge. Schon zuvor war immer wieder vom Sprach-Charakter, somit von einer gedanklichen, symbolischen Bedeutung der Rhythmen die Rede. Hier geht es nun darüber hinaus auch um eine Erfahrung jenseits des Unmittelbaren, die in indischen Musikkulturen eine wichtige Rolle spielt. - Die spirituelle Perspektive leitet schließlich über zu Steve Colemans Aufenthalt in Ägypten. An dieser Stelle führt der Film aus der Gegenwart in schwindelerregende esoterische Bereiche, aus denen jedoch wichtige ästhetische Impulse für Colemans Musik kommen, wie anschaulich vermittelt wird. Coleman rechnet grundlegende Zahlenverhältnisse vor, setzt sie in Musik um und gelangt zur Einleitungs-Phrase von Coltranes „A Love Supreme“, die er eingewoben in Improvisationen in der Königskammer einer Pyramide spielt, wo durch den Hall ein Geflecht aus Obertönen entsteht (die ja die Zahlenverhältnisse repräsentieren). – Im letzten Teil des Films ist Steve Coleman mit seinem improvisierenden Computer-Programm in Paris zu sehen. Er hat darin ein komplexes System aus verschiedenen Elementen, von ägyptischen Gottheiten über Henry Threadgills Stil bis zu Planeten-Konstellationen, untergebracht und man sieht auch einmal ein Schmunzeln und Augenverdrehen der Musiker seiner Band. Die Aufnahmen enden schließlich mit einem beeindruckenden Zusammenspiel des Schlagzeugers Jean Rickman und des Conga-Spielers Angá Diaz und das bringt wieder jene Seite der Coleman-Musik ins Zentrum, die neben den manchmal irritierenden Ideen-Sphären fast immer ebenso präsent ist: die intensive, unmittelbare Wirkung der Musik.
Der Film vermittelt mit viel Feingefühl eine große Menge an Eindrücken von der intuitiven Ebene, dem „Feeling“, das der Musik den Sound gibt, so z.B. von der spielerischen Lust Steve Colemans, die selbst so eine sperrige Sache wie das improvisierende Computer-Programm mit einem gewissen Charme überzieht. – Kurze Ausschnitte des Films sind auf Colemans Homepage zu sehen.
Deutschsprachige Literatur und kritische Bemerkungen dazu
- Joachim-Ernst Berendt, Das Jazzbuch, fortgeführt von Günther Huesmann, 7. Ausgabe, Fischer Verlag, 2005
- Martin Kunzler, Jazz Lexikon, rororo, 2002
- Martin Pfleiderer in Peter Niklas Wilson (Hrsg.), Jazz Klassiker, Reclam, 2005
- Ekkehard Jost, Sozialgeschichte des Jazz, Zweitausendundeins, 2003
- Christian Broecking, Der Marsalis-Faktor, Oreos, 1995
- Christian Broecking, Respekt!, Verbrecher Verlag, Berlin, 2004
In der von Günther Huesmann fortgeführten 7. Ausgabe von Joachim-Ernst Berendts „Das Jazzbuch“ wird von Steve Coleman zwar gesagt, er wirke wie ein Charlie Parker der heutigen Zeit. Im Übrigen wird seine Musik aber in einer missverständlichen Weise kategorisiert: In einer Grafik wird sie als Weiterentwicklung von „Free Funk“ und letztlich von „Jazz-Rock, Fusion“ dargestellt. Weiters wird sie beschrieben als „Motown plus irreguläre Metren“, als eine „Verdichtung von Funk und Hip Hop zu hoch komplexen Rhythmusgeflechten“ und schließlich gar als eine „Integration von Rock-orientierten Spielweisen, zeitgenössischen Jazzformen und weltmusikalischen Einflüssen“. – Mit „Rock“ dürfte Steve Coleman nie in nennenswerter Weise in Berührung gekommen sein. Die übrigen Aussagen sind ähnlich verfehlt, als würde man Charlie Parkers Musik als Kombination von Blues-Musik und damals aktueller Unterhaltungsmusik mit Jazz (Swing) beschreiben. Der Blues, die Songs, die Rhythmen, mit denen Charlie Parker aufgewachsen ist, sind selbstverständlicher Teil seiner musikalischen Sprache. Genau so ist Steve Colemans Musik von seinen musikalischen Erfahrungen geprägt, ohne dass sie als „Fusion“ zu verstehen wäre.
Günther Huesmann charakterisiert Steve Colemans Musik insgesamt als die „metrische ‚Verrätselung’ des Jazz“. – Genau so gut könnte man Charlie Parkers Musik und noch mehr die von John Coltrane gegen Ende der 50er Jahre als „harmonische Verrätselung des Jazz“ bezeichnen. Die Steigerung der harmonischen Komplexität wird aber keineswegs so verstanden. Enorme rhythmische Komplexität ist in manchen afrikanischen Kulturen und auch in afro-kubanischer Musik eine selbstverständliche Qualität, die durchaus nicht als rätselhaft empfunden wird, auch wenn die Strukturen vom Hörer nicht bis ins Letzte durchschaut werden. Wenn man bedenkt, dass die Rhythmik eine zentrale Bedeutung in jenem „Jazz“ hat, der durch Louis Armstrong, Charlie Parker und John Coltrane repräsentiert wird, dann kommt Steve Coleman allein schon durch die Entfaltung eines alle bisherigen Maßstäbe überschreitenden rhythmischen Reichtums ein besonderer Stellenwert in der Weiterentwicklung dieser Musik zu.
In Martin Kunzlers „Jazz Lexikon“ wird auch das Spiel Colemans auf dem Sopransaxofonist erwähnt. Davon gibt es aber kaum Aufnahmen und die liegen weit zurück. Sein Ton auf dem Alt-Saxofon wird als „kristallklar“ beschrieben. Das verschafft eine Vorstellung von Durchsichtigkeit, Farblosigkeit, Kälte und Härte, die völlig unzutreffend ist. Wie expressiv sein Ton in Wahrheit schon im Jahr 1990 war, ist z.B. im Stück „Ain’t Goin’ Out Like That“ der CD „Rhythm People“ zu hören. – Weiters werden im „Jazz Lexikon“ Ähnlichkeiten mit Anthony Braxton und Arthur Blythe behauptet, die jedoch weit hergeholt sind und falsche Vorstellungen wecken. Auch die Bezeichnung der Coleman-Musik als „Postbop“ lenkt die Erwartungen in falsche Bahnen und der Einsatz von Bezeichnungen wie „Funk“ oder gar „Rock“ (!) erst recht.
Das von Peter Niklas Wilson herausgegebene Buch „Jazz Klassiker“ enthält einen von Martin Pfleiderer verfassten Beitrag über Steve Coleman, der von der hier angeführten Literatur am kompetentesten ist. - Irritierend ist nur die Aussage, Coleman habe bereits in den Gruppen von Dave Holland „einige seiner schönsten Aufnahmen gemacht“. Demnach hätte Steve Coleman weitgehend darauf verzichten können, seine eigene Musik zu entwickeln. Auch die intensive Weiterentwicklung seiner Improvisationskunst wäre dann nicht als eine wesentliche Entfaltung anzusehen. Die Aussage ist nicht weniger bedenklich, als würde man behaupten, John Coltrane habe einige seiner schönsten Aufnahmen in der Gruppe von Miles Davis gemacht oder Miles Davis einige seiner schönsten Aufnahmen bei Charlie Parker. - Die oft besonders entspannte, „coole“, jugendliche Lässigkeit, mit der Steve Coleman schon in den Gruppen von Dave Holland einen reichhaltigen Fluss an überraschenden Ideen hervorbrachte, hatte gewiss seinen eigenen Reiz. Wie sehr Coleman seine Improvisations-Kunst seit damals aber weiter entfaltet hat, zeigt z.B. ein Vergleich der Version des Stückes „Figit Time“ auf Dave Hollands CD „The Razor’s Edge“ (1987) mit der Version dieses Stückes auf Steve Colemans CD „Resistance Is Futile“ (2001). In der späteren Aufnahme entwickelt sich jede Idee in einem klaren Fluss aus der vorhergehenden und wird mit einer verblüffenden Logik weitergeführt zur nächsten. Diese durch das ganze Solo fließende, hoch komplexe und zugleich sehr natürlich wirkende Melodielinie wird mit einer enormen Sicherheit, Gewandtheit und einer Gestaltung bis ins kleinste Detail gespielt. Der Vergleich mit der frühen Aufnahme zeigt, wie intensiv Steve Coleman an dieser Kunst in all den Jahren dazwischen gefeilt hat. Er spricht auch selbst (etwa auf seiner Homepage) immer wieder von seinen Bemühungen um Weiterentwicklung und in Konzerten war sein Ringen im Spiel oft offensichtlich und mitunter geradezu irritierend. In der Version von der CD „Resistance Is Futile“ wird auch deutlich, wie sehr auch die subtile Gestaltung seines Tones an Sicherheit, Klarheit, Vielfältigkeit und an Details gewonnen hat.
Dazu kommt, dass die dichte, massive Rhythmik der Band auf „Resistance Is Futile“ weit entfernt ist von der wesentlich traditionelleren Version der Dave-Holland-Band. Sie verleiht der Komposition „Figit Time“ von Doug Hammond den Charakter der Coleman-Musik. Dieser spezielle Charakter der Musik, die Steve Coleman mit seinen eigenen Gruppen hervorgebracht hat, kennzeichnet natürlich vor allem auch die von ihm selbst komponierten, oft hoch komplexen Stücke und verbindet all die vielfältigen Richtungen, in die Coleman seine Musik entwickelt hat. - Ob man diesen individuellen Stil seiner Musik „schön“ findet bzw. welche der sehr unterschiedlichen Aufnahmen man als besonders gelungen erachtet, hängt natürlich vom eigenen Musikverständnis und persönlichen Empfinden ab. In Steve Colemans Musik kommt deutlich jene letztlich aus Afrika stammende Musikauffassung zum Ausdruck, nach der „Schönheit“ eng mit dem Bewegungsgefühl und einem Reichtum der rhythmischen Strukturen verbunden ist. Dazu kommt, dass in der afro-amerikanischen Tradition, in der Coleman steht (Charlie Parker usw.), weniger das Behagliche, Beschauliche, sondern Intensität ein zentrales Element bildet. Schließlich ist die Schönheit in Steve Colemans späteren Aufnahmen – ähnlich wie bei John Coltrane – an spirituellen Bezügen orientiert, letztlich an der das Fassungsvermögen übersteigenden, gewaltigen Pracht der Natur, des Lebens, der „Schöpfung“, wodurch sich auch schwierige Aspekte ergeben, die diese Vorstellung von Schönheit umfasst.
Steve Coleman konnte sein Potential somit erst in seinen eigenen Projekten und durch seine viele Jahre lang intensiv betriebene Weiterentwicklung ganz entfalten. Wenn man meint, all das habe nicht wesentlich über seine ersten Aufnahmen hinausgeführt, so wird man der Bedeutung seiner Musik und seiner Entwicklung nicht gerecht.
Eine Bemerkung noch zu einem anderen Detail des Beitrages von Martin Pfleiderer: Er beschreibt das Klangbild der Coleman-Band „Mystic Rhythm Society“. Die Gruppen, die Steve Coleman so bezeichnet hat, waren aber sehr unterschiedlich und oft keineswegs weniger rhythmusbetont, wie Pfleiderer meint (z.B. CD „The Sign And The Seal“). Eher scheint ihn die verstärkte Mitwirkung von Musikern anderer Musikkulturen zur Verwendung dieser Band-Bezeichnung zu veranlassen.
Ekkehard Jost beschäftigt sich in seinem Buch „Sozialgeschichte des Jazz“ (erweiterte Neuausgabe, 2003) sieben Seiten lang mit dem Thema „M-Base: Neues Label, Musikerkooperative oder Clan?“, und zwar mit dem Anspruch einer soziologischen Beurteilung. Nach seiner Darstellung war M-Base eine nicht recht enträtselbare „Selbst-Etikettierung“, mit der sich eine Clique junger Musiker damals Aufmerksamkeit verschaffte und einen Zugang zum Musikgeschäft erschloss. Nachdem das für die wichtigsten Vertreter in der ersten Hälfte der 90er Jahre geklappt hatte (Vertrag mit großen Firmen) habe sich M-Base zurückverwandelt in ein „individuelles Markenzeichen“ seines Erfinders Steve Coleman, dessen Musik „sehr intelligent und hip wie schon lange keine mehr zuvor“ sei. - Dass die M-Base-Initiative von manchen (deren Musik nun weit von den damaligen Idealen entfernt ist) lediglich für den eigenen Erfolg genutzt wurde, hat auch Steve Coleman beklagt. Er selbst verfügt über eine Resistenz hinsichtlich kommerzieller Zugeständnisse, die ungewöhnlich ist, die in seiner geistigen Orientierung gründet und für die der Weg John Coltranes Vorbild ist.
Ekkehard Jost meint trotz vieler Worte, die Colemans Musik als innovativ hervorheben, einige Seiten weiter dann jedoch, es sei die „Geschichte des amerikanischen Jazz bereits in den 70er Jahren weitgehend zum Stillstand gekommen“ und der Schwerpunkt der Jazz-Entwicklung liege heute im europäischen Jazz (an dem er selbst als Musiker beteiligt ist). - Ekkehard Jost ist mit der alten deutschen „Free-Jazz“-Szene verbunden, in der das Zerbrechen musikalischer Traditionen mit Vorstellungen von einem gesellschaftlichen Aufbruch (im marxistischen Sinne) verbunden wurde. Das Brechen mit Jazztraditionen war für viele europäische Musiker aber in einer viel konkreteren Hinsicht ein „Fortschritt“: Nach Ekkehard Jost selbst war es den Europäern kaum gelungen, auch nur „halbwegs kompetente Bebop-Spieler“ zu werden (Jost, 2003, S.151). Die intensive Rhythmik, die Beweglichkeit, Geschmeidigkeit, der Fluss der Phrasierung und die spezielle instrumentale Vokalisierung entsprachen weniger den europäischen Möglichkeiten. Das dann im europäischen „Free-Jazz“ zelebrierte Pfeifen auf diese Qualitäten verschaffte die „Freiheit“, nun als „Jazz“ eigene Wege ins Spiel zu bringen. Dementsprechend ist die heute wieder verstärkte Betonung der genannten Qualitäten durch traditionsgebundene afroamerikanische Musiker eine Bedrohung, der mit heftigen Vorwürfen des Rückschrittes begegnet wird. Die Ausdrucksformen des „Free-Jazz“ sind mittlerweile aber auch schon fast ein halbes Jahrhundert alt und wenn Ekkehard Jost seine Musik mit deutschen Liedern belebt, dann greift er auf eine Tradition zurück, die schon lang vor dem Dixieland bestand. Steve Coleman, der in jenen Qualitäten, die die bedeutendsten Musiker der Jazz-Geschichte auszeichnet, eine beachtliche Weiterentwicklung erreicht hat, wird ein paar Seiten weiter schnell wieder vergessen.
Ekkehard Jost scheint sich somit aus guten Gründen trotz anerkennender Worte auch nicht näher mit Colemans Musik beschäftigt zu haben: Seine Ausführungen beziehen sich offenbar bloß auf die ersten Aufnahmen aus den 80er-Jahren, die schon lange nicht mehr Colemans Musik repräsentieren. Von der Sängerin des Stückes „To Perpetuate The Funk“ auf Colemans zweiter CD „World Expansion“ zeigt sich Ekkehard Jost angetan, die er aber irrtümlicherweise für Cassandra Wilson hält.
Die beiden Bücher von Christian Broecking enthalten im Wesentlichen Interview-Auszüge. In „Der Marsalis-Faktor“ erwähnt Broecking, dass der Klarinettist Don Byron Steve Coleman zu den „Ausnahmepersönlichkeiten der amerikanischen Musikgeschichte“ zähle. Broecking zitiert auch Kritiker, die Coleman als „überragenden Altsaxofonisten“ bezeichnen und ihm die Sicherung der „Generationennachfolge im Jazz bescheinigen“. – Broecking agiert andernorts allerdings anders: In einem Artikel der Zeitschrift „Die Tageszeitung“ vom 19.2.2003 meint er, Steve Coleman würde zwar oft von jüngeren „schwarzen“ Jazzmusikern als „Ideengeber und spiritueller Mentor“ genannt, seine vielfältigen Aktivitäten könnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass „Colemans komplexe Rhythmusstrukturen sich ständig reproduzierend durch die Jazzmoderne lahmen.“ ([2]). – Lahmheit der Rhythmik und Stillstand der Entwicklung kann man Steve Coleman aber gewiss am allerwenigsten vorwerfen. Offenbar fehlt Broecking einfach ein emotionaler Zugang zu dieser intensiven Rhythmik (die sich laufend wandelt und doch ihren eigenständigen Charakter bewahrt). Dennoch glaubt Broecking, besser urteilen zu können als die „jungen schwarzen Musiker“, und er glaubt offenbar auch, seiner Meinung in herabsetzender Weise Geltung verschaffen zu müssen. Der Appell seines Buchtitels „Respekt!“ sollte ihm selbst zu denken geben. - Broecking schürt aber auch in anderer Hinsicht: Im genannten Artikel bezeichnet er Steve Coleman als „prominenten Marsalis-Widersacher aus den Tagen des großen Streits“. Dabei sagte Steve Coleman im Interview, das Broecking selbst in seinem Buch „Respekt!“ wiedergab, z.B.: „Ich kann natürlich nicht mit allem übereinstimmen, was Wynton Marsalis sagt. Aber ich halte ihn für ernsthaft und ehrlich ...„.
Meinungen von Jazz-Kritikern
Die Zeitschrift „Jazzthetik“ polemisierte im Jahr 2002 über Steve Coleman, indem sie ihn mit einem mittelalterlichen Alchemisten auf der Suche nach der Weltformel verglich. Der Jazz-Kritiker Norman Weinstein stellte in einer Rezension der CD "Lucidarium" diese in eine Reihe mit Duke Ellingtons „Black, Brown and Beige“ und Charles Mingus' „The Black Saint And The Sinner Lady“, sah sich aber außer Stande, sie zu bewerten. Das Spektrum der Bewertungen ein und derselben Aufnahme Colemans in der Fachpresse reicht gelegentlich von begeistertem Lob bis zu Verrissen.
Unbestritten ist, dass Steve Coleman eine der bedeutendsten Stimmen im Jazz der Gegenwart ist. Die Fähigkeiten Colemans als Komponist, Instrumentalist und Bandleader werden von Jazzkritikern allgemein als sehr hoch eingeschätzt. Weitgehende Übereinstimmung besteht auch darin, dass er und auch andere Musiker seiner Bands herausragende Solisten sind. Seine Konzeption des Musikmachens und -vermittelns, die nicht nur spirituelle und philosophische Aspekte mit einbezieht, sondern auch die wirtschaftlichen Bedingungen der Produktion und des Vertriebes von Musik kritisch durchleuchtet, gilt vielen als wesentlich und zukunftsweisend. Von zahlreichen Kritikern wird auch Colemans Ansatz, moderne, groovende Rhythmen und Elemente nicht-westlicher Musik mit komplexem, innovativem Jazz zu verbinden, als Weg zu einer Musik voller rhythmischer und melodischer Prägnanz und Lebendigkeit hoch gelobt.
Viele andere empfinden die komplexe Polyrhythmik und Melodieführung in seiner Musik aber als nur schwer nachvollziehbar, „konstruiert“ und nicht swingend. Oft wird ihm vorgeworfen, dass er Elemente aus verschiedensten Kulturkreisen und Epochen willkürlich und beliebig miteinander kombiniere. Seine Musik bliebe oft hinter den von ihm selbst in Statements und Liner Notes oder den oft programmatischen Titeln seiner Kompositionen formulierten Ansprüchen zurück. Ein musikwissenschaftlich ausgebildeter Autor des "RONDO-Magazins" meinte zur CD "Resistance Is Futile" gar, diese "zersplitterten und verhackstückten" Rhythmen gehörten nicht in eine Jazzband und er sehe keinen Grund, sich länger mit einer "derart zweifelhaften Musik aufzuhalten". Eine Autorin einer anderen Zeitschrift meinte hingegen, diese CD "mit ihrer konkreten, so gar nicht abgehobenen Musik zeugt von Bodenhaftung und lebendigem Drive.“
CD-Tipps
- „Resistance Is Futile“ (2001, Label Bleu) - intensive, vielfältige Live-Musik (1. Stück: meditative Einleitung, dann tranceartiger Groove, 2. Stück: Ballade, 3. Stück: schwierig, ekstatisch, 4. u. 5. Stück: auf der Bebop-Linie)
- „On The Rising Of The 64 Paths“ (2002, Label Bleu) - sehr klar
- „Def Trance Beat“ (1994, RCA/BMG bzw. Download)
- Strata Institute: "Transmigration" (1991, RCA/BMG bzw. Download) - Verbindung zu traditionellem Jazz
- „Rhythm People“ (1990, RCA/BMG bzw. Download) - jugendliche Lässigkeit
Personendaten | |
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NAME | Coleman, Stephen |
KURZBESCHREIBUNG | Jazz-Musiker, Alt-Saxophonist, Leader |
GEBURTSDATUM | 20. September 1956 |
GEBURTSORT | Chicago |