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Prekariat

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Prekariat ist ein soziologischer Begriff für eine inhomogene soziale Gruppierung, die durch die Unsicherheit der Erwerbstätigkeiten gekennzeichnet ist.[1]

Etymologie

Prekariat ist ein neues Wort, das als Substantiv vom Adjektiv prekär abgeleitet ist. Das Adjektiv hat die Bedeutung unsicher, weil widerruflich. In die deutsche Sprache kam es während der napoleonischen Zeit aus dem französischen Wort précaire, das vom lat. precarius ("bittweise erlangt") und precari ("flehentlich bitten") abstammt.[2] Im römischen Recht war ein Prekarium die unentgeltliche Überlassung einer Sache oder eines Rechts auf Widerruf. Ein Vertragsverhältnis zwischen dem Eigentümer und dem Nutzer (Prekaristen) wurde durch die Überlassung nicht begründet. Der Nutzer musste jederzeit mit einem Widerruf rechnen.

Geschichte

Die Idee, eine sozial als niedrig einzustufenden Gruppierung als Prekariat zu bezeichnet, ist an sich alt: Hierzu zählen zum Beispiel Unehrliche Berufe, Lumpenproletariat, Sozial Verachtete. Die Idee geht auf die Konzeption des Bordiguismus zurück, nach der sich das Proletariat als Leute ohne Mittel definiert. Gruppen wie die französische „Sans Reserves“ in den 1980er Jahren und die anarchistisch-bordiguistische italienische „Precari Nati“ arbeiteten diese Konzeption aus.

Prekariat ist heute eine neue Konzeption der post-industriellen Soziologie, wozu der italienische Politologe Alex Foti die These aufgestellt hat: „Das Prekariat ist in der post-industriellen Gesellschaft, was das Proletariat in der Industriegesellschaft war“.

Beschreibung

Betroffen sind einkommensschwache Selbstständige, Arbeiter und teilweise auch Angestellte auf Zeit, Praktikanten, Alleinerziehende, Zeitarbeitnehmer und Langzeitarbeitslose, aber zunehmend auch Angestellte aus wissenschaftlichen Arbeitsverhältnissen:[3] Prekariat definiert keine sozial homogene Gruppierung.

„In dieser neuen kapitalistischen Organisation wird das Prekariat strukturell und für die Arbeitgeber handelt es sich darum, dem Prekariat das Risiko der Beschäftigung aufzulasten, alles zu veräußerlichen, was sozialer Schutz und gemeinsame Garantie vor dem Verlust des Arbeitsplatzes war.“

Evelyne Perrin von Stop-Précarité[4]

Darüber hinaus sind auch Randexistenzen aller Schichten hinzuzunehmen, z. B. verarmte Adlige, fallierte (=insolvente) Unternehmer, erfolglose Wissenschaftler oder Künstler und Schauspieler.

Umgangssprachlich wird auf problematische Personen der abwertende Begriff „Asoziale“ („Asi“) und in Massenmedien auf einkommensschwache Personen auch der wissenschaftlich nicht exakte Begriff Neue Unterschicht angewendet. Diese Begriffe werden bisweilen synonym benutzt. Viele Soziologen ordnen diese Begriffe jedoch anders zu bzw. lehnen sie als zu plakativ und unpräzise ab.

Nach der im Dezember 2006 veröffentlichten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung „Gesellschaft im Reformprozess“[5] gehören zum Prekariat die Untergruppen des „abgehängten Prekariats“, die „autoritätsorientierten Geringqualifizierten“ sowie ein Teil der „selbstgenügsamen Traditionalisten“. Im selben Jahr wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache den Begriff auf Platz 5 der Wörter des Jahres.

Seit einigen Jahren gibt es die „Internationale Zusammenkunft des Prekariats“ in Berlin.[6] Sie fand zuletzt im Januar 2005 statt.

Demoskopie

Nach der oben zitierten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gehören 6,5 Millionen Deutsche (das entspricht acht Prozent der Gesamtbevölkerung) zum „abgehängten Prekariat“.[7] Frank Karl von der Friedrich-Ebert-Stiftung betonte, dass der Begriff Neue Unterschicht in der Studie nicht vorkomme. Dennoch diskutierten die Massenmedien diese Studie schon vor ihrer Veröffentlichung unter dem Titel „Unterschichtsstudie“.

Nach Statistiken des DGB breitete sich 2007 die als „prekär“ bezeichnete Beschäftigung weiter aus: Verglichen mit 2003 gibt es doppelt so viele (650.000) Zeitarbeiter; 600.000 sind Ein-Euro-Jobber; 440.000 Vollzeittätige auf Hartz IV angewiesen; 1,3 Mio. arbeitende sogenannte „Aufstocker“.

Ungeschützte, sogenannte flexibilisierte Arbeitsverhältnisse, Arbeitslosigkeit oder Niedrigsteinkommen, Verschuldung und oft mangelnde Bildung charakterisieren das Prekariat. Kommen mehrere Faktoren zusammen und mündet dies in langfristige Aussichtslosigkeit auf Verbesserung der Situation, häufig in Verbindung mit Resignation, wird vom „abgehängten Prekariat“ gesprochen.

Siehe auch

Literatur

  • Heinz Bude, Andreas Willisch (Hrsg.): Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. Hamburger Institut für Sozialforschung, Hamburg 2006, ISBN 978-3-936096-69-9
  • Robert Castel: Les métamorphoses de la question sociale, une chronique du salariat. 1995
    • Deutsche Ausgabe: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. UVK-Verlag, Konstanz 2000
  • Robert Castel, Klaus Dörre: Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Campus, Frankfurt am Main 2009, ISBN 3-593-38732-8
  • Gero Neugebauer: Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dietz, Bonn 2007
  • Alex Klein, Sandra Landhäußer, Holger Ziegler: The Salient Injuries of Class: Zur Kritik der Kulturalisierung struktureller Ungleichheit. In: Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, Heft 98, Dezember 2005
  • Serge Paugam: La disqualification sociale. Esai sur la nouvelle pauvreté, PUF, 2002
  • Alessandro Pelizzari: Dynamiken der Prekarisierung. Atypische Erwerbsverhältnisse und milieuspezifische Unsicherheitsbewältigung. UVK-Verlag, Konstanz 2009, ISBN 978-3-86764-172-2
  • Évelyne Perrin: Chômeurs et précaires au cœur de la question sociale. La Dispute, 2004
  • Nadine Sander: Das akademische Prekariat. Leben zwischen Frist und Plan. UVK-Verlag, Konstanz 2012, ISBN 978-3-86764-360-3.
  • Franz Schultheis, Kristina Schulz (Hrsg.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. UVK-Verlag, Konstanz 2005, ISBN 3-89669-537-1

Quellen

Einzelnachweise

  1. Alessandro Pelizzari: Dynamiken der Prekarisierung. Atypische Erwerbsverhältnisse und milieuspezifische Unsicherheitsbewältigung. UVK-Verlag, Konstanz 2009; S. 49
  2. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache. De Gruyther, Berlin/New York 1975, Lemma Prekär.
  3. Maximilian Grosser: Prekäre Lage. Immer mehr Akademiker können von ihren Hochschulstellen nicht leben
  4. http://listes.rezo.net/archives/cip-idf/2004-10/msg00058.html
  5. Gero Neugebauer: Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2007.
  6. http://www.globalproject.info/art-3264.html
  7. Neugebauer: Politische Milieus in Deutschland (Vgl. Anm. 4)