Antichrist
Der Antichrist ist eine Figur der biblischen Apokalyptik, in deren Erwartung das Reich Gottes sich zuletzt gegen die die Welt beherrschende Macht des Bösen durchsetzen wird. Im Urchristentum verkörpert er den Satan als Gegenspieler Jesu Christi, der in verschiedenen die Christen und alle Menschen bedrängenden und irreführenden Mächten am Werk ist, aber gemäß ihrer Hoffnung am Kreuz des Sohnes Gottes bereits besiegt wurde und bei der Wiederkunft Christi endgültig entmachtet sein wird.
Der Begriff stammt aus dem Neuen Testament (NT) und bedeutet auf Griechisch wörtlich »gegen den [von Gott] Gesalbten« (αντί Χριστός). Die Silbe anti kann im Altgriechischen auch mit »anstelle von« übersetzt werden.
Biblischer Befund
Der Begriff "Antichrist" im NT
Herkunft: - [H. Burkhardt u.a. (Hg.), Das große Bibellexikon, Wuppertal/Gießen 1996, Bd. 1, S. 91f. ]
Texte zum "Widersacher" und "Frevler" im NT
Neben den Texten, die den Begriff ausdrücklich nennen, findet man im NT Texte, die ihn nicht nennen, aber der Sache nach ebenfalls meinen. Neben einzelnen Stellen in den Evangelien wie Mt 24,24 sind dies vor allem
- 2. Thessalonicherbrief 2,1-12,
- Offenbarung des Johannes 13.
Die Johannesoffenbarung ist ein Dokument der urchristlichen Prophetie, die sehr stark von jüdischer Apokalyptik beeinflusst war. Sie stellt göttliche Visionen des Autors von dem, was ist (die sichtbare Gegenwart) dem, was danach geschehen wird (der unsichtbaren Zukunft) gegenüber (1,19). Die Zukunft wird in drei Zyklen von je sieben Visionen ausgemalt, die mit der Inthronisation des "Lammes" eingeleitet werden (4): Jesus Christus als der am Kreuz für alle Menschen dahingegebene Sohn Gottes ist der, den Gott zur Weltherrschaft bestimmt und dem er die Vollstreckung seines Geschichtsplans übertragen hat.
In den Kapiteln 12 bis 14 wird die Visionskette unterbrochen von andersartigen Visionen, die die besondere Situation der Christengemeinschaft gegenüber der von gottfeindlichen Mächten beherrschten Welt wie in einer Nahblende darstellen. In Kapitel 12 wird der mythische vorzeitliche Kampf und Sturz des "Drachen" gegen den vom Weib geborenen Gottessohn dargestellt mit dem Ergebnis:
- Und es wurde gestürzt der große Drache, die alte Schlange, die da heißt Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt.
Damit ist die Identität des Antichristen mit dem Satan ausgesagt, ebenso wie seine durch das Blut des Lammes und seiner Zeugen (Jesu Opfertod und das Martyrium verfolgter Christen) bereits feststehende Niederlage (v.11).
In Kapitel 13 tauchen dann zwei Tiergestalten als absolute Feinde des "Lammes" und seiner Herrschaft auf. Die Züge des ersten vereinen die Züge der vier Tiergestalten von Daniel 7, der großen biblischen Vision vom Endgericht über alle Gewaltherrschaft. Damit wird deutlich, dass der Antichrist, um den es hier geht, der absolute Weltherrscher ist. Er beansprucht also die totale Macht gegen Christus. Er gleicht diesem bis ins Detail: Auch er hat ein Haupt "wie geschlachtet", trägt also eine Todeswunde, die geheilt wurde (v.3). Deshalb erweisen die Menschen ihm die göttliche Ehre (v.4), die in Wahrheit nur dem "Lamm" zusteht (Off 5,6). Er lästert Gott (v.5f), indem er sich göttliche Titel beilegt und damit die letzte Instanz anstelle Gottes zu sein beansprucht. Er verfolgt und besiegt die Gemeinde der Christen, die ihm als einzige Gruppe in seinem Reich diese Anbetung verweigert (v.7f).
Die zweite Tiergestalt gleicht dem "Lamm", redet aber wie der "Drache": Hier tritt der Antichrist als Falschprophet auf, der die Restgemeinde der Christen zum Abfall und zur Anbetung des ersten Tieres verführt und sich dazu eines Erkennungszeichens bedient.
Das 14. Kapitel mahnt die Christen durch die Stimme eines Engels zur Geduld und zum Bewahren ihres Glaubens an Jesus und zum Halten der Gebote Gottes (v. 12). Die Märtyrer unter ihnen werden selig gepriesen, erhalten also schon jetzt die Zusage ihrer Aufnahme in Gottes Reich. So will der Autor dieses Textes seine Leser zum Festhalten an ihrem Glauben bis in den Tod ermutigen. Denn obwohl der total übermächtige Feind Christi als mit dem Satan identischer Weltherrscher die Christen besiegt und tötet und zum Abfall verführt, ist die Entscheidung über seine Entmachtung gemäß Jesu eigener Prophetie längst gefallen (Lk 10,18):
- Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen.
Hier ist der Antichrist also nicht auf eine innerkirchliche, sondern auf eine gesamtpolitische Gegenwartssituation bezogen: Er spielt deutlich auf den Kaiserkult im Römischen Reich an, dessen Verweigerung die Christen seit Domitian um 90 der staatlichen Verfolgung aussetzte.
Der Antichrist im Alten Testament nach christlicher Deutung
Das letztgenannte Kapitel greift auf Motive und Vorstellungen des Alten Testaments (AT) zurück, wie sie den Urchristen vor allem im Buch Daniel vorgegeben waren. Daher war es kein Zufall, dass auch die christlichen Kirchenväter die Bezeichnung "Antichrist" mit anderen Bezeichnungen für den Satan in der Bibel in Verbindung gebracht haben.
In den apokalyptischen Visionen der Johannesoffenbarung wird der "Widersacher" Christi mit Zügen jener "Tiere aus dem Abgrund" ausgestattet, die in der Bildersprache des Buches Daniel die politischen Gewaltimperien darstellen. Diese bedrohen und verfolgen dort das Volk Gottes - Israel - fast bis zur totalen Vernichtung, bis sie zuletzt Gottes Endgericht verfallen und von der Weltherrschaft des wahren Menschenähnlichen, dem Gott seine Macht übergibt, abgelöst werden (Dan 7,1-14).
Die Vision Daniels hebt einen von den Gewaltherrschern hervor: Das "kleine Horn" erscheint als "Großmaul", das den Höchsten lästert und das Volk Gottes vernichten will (Dan 7,8.24f; vgl. Dan 11,21-35). Damit war damals Antiochus IV. Epiphanes (175 - 164 v. Chr.) gemeint, einer der Seleukiden, der den Jerusalemer Tempel mit einer Zeusstatue entweiht hatte und Israels Religion durch ein Verbot der Beschneidung ausrotten wollte.
An diese AT-Stellen knüpften die oben genannten NT-Texte 2. Thess 2 und Off 13 über den Antichristen an. Für die Christen wurde der Feind des Volkes Gottes also zum Widersacher Jesu Christi und seiner treuen Nachfolger: Der "Antichrist" des AT wird somit zur Vorausabbildung, zum Modell des endzeitlichen Antichristen.
Andere Beschreibungen
Es gibt auch außerbiblische Beschreibungen des Antichristen, die ihn als Bruder Jesu darstellen, der eifersüchtig auf diesen war und daher zum Widersacher (Satan) Jesu wurde. Es wird aus diesen Schriften jedoch nicht klar, ob dieser Antichrist als leiblicher (=weltlicher) Bruder Jesu (sprich ein anderes Kind von Maria und Josef) oder ebenfalls als Sohn Gottes gedacht wird. In jedem Fall erinnert es sehr an das Bild des gefallenen Engels Luzifer (die Engel sind laut älteren, vorchristlichen Schriften die Kinder Gottes).
Eine andere Zeichnung des Antichristen beschreibt ihn als Ausgeburt Satans (Teufel, Luzifer), welcher selbst der gefallene Engel ist. Und so wie Jesus als Sohn Gottes dargestellt wird, so der Antichrist als Sohn Satans. Dabei erscheint dieser Teufelssohn als quasi gleichwertiger Gegenpol zu Jesus. Damit liegt ein heilsgeschichtlicher Dualismus nahe, der Ähnlichkeiten zum Gnostizismus aufweist.
Jedoch gibt es keine Hinweise auf die Frau, die den Antichristen als solchen ausgetragen haben soll. Allerdings selbst in anthropomorphe Gottesvorstellungen wurde der Teufel, im Gegensatz zu Gottvater, als männliches, weibliches sowie ungeschlechtiches Wesen oder Tier dargestellt. Daraus kann vermutet werden, dass der Antichrist eben aus Satan und nur aus ihm - ungeschlechtlich - entstanden sei.
Historische Verwendungen des Begriffs
Zu vielen Zeiten haben Menschen ihre Gegenwart als in höchstem Maß bedrohliche Endzeit erlebt, die ihnen eine endgültige Entscheidung zwischen Gut und Böse abverlangt. Ihre Selbstunterscheidung von dem, was man unbedingt ablehnt, und die Identifikation aktueller Größen mit dem Antichristen gingen Hand in Hand.
Nicht selten wurde versucht, bestimmte Gegenwartstendenzen und Personengruppen als "Verkörperungen" des Antichristen darzustellen, um dem irdischen Kampf gegen sie höhere Weihen und eine mythologische Dimension zu verleihen. Fast alle Kirchenväter und viele spätere führende Theologen fanden das Antichristentum vorrangig im Judentum als gemeinsamem "Hauptfeind" des wahren christlichen Glaubens. Dieser durchgehende Antijudaismus hatte historisch fatale Folgen.
Hinzu kamen in der Kirchengeschichte immer wieder wechselseitige Zuweisungen des Antichrist-Typos an die Hauptvertreter gegnerischer Konfessionen und sogenannter Häresien: So haben John Wyclif, Jan Hus, Martin Luther und andere ausdrücklich den Papst als Antichristen bezeichnet, umgekehrt katholische Theologen diese Reformatoren. Bis heute sehen bestimmte pfingstlerische und evangelikale Kreise in den Repräsentanten der römisch-katholischen Kirche den Antichristen. Dagegen hat die gegenwärtige ökumenische Verständigung zwischen den größeren christlichen Kirchen von Zuweisungen des Antichrist-Typus an die jeweils andere Seite offiziell Abstand genommen.
Die Beziehung des Antichristen auf politische Größen legte sich von Daniel und der Johannesoffenbarung her nahe. So wurde z.B. auch Napoleon als Antichrist bezeichnet, während die Vertraute des Zaren Alexander I von Teilen der Heiligen Allianz als erlösendes Sonnenweib zu seinem Gegenpart stilisiert wurde.
Im Blick auf die totalitären Weltanschauungen des 20. Jahrhunderts wurde in der christlichen Literatur der Antichrist unter anderem in Hitler und Stalin ausgemacht. In Rumänien sagte der Nachrichtensprecher 1989 nach der Hinrichtung des gestürzten Diktators Ceauşescu wörtlich (übersetzt): "Welch ein Weihnachten - der Antichrist ist tot!".
Dagegen versuchte Friedrich Nietzsche in seinem Buch Der Antichrist grundsätzliche Kritik am Christentum zu üben: Er bezeichnete es als "den einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit", der alles positive Selbstbewusstsein durch die Kettung an Moral und Schuldgefühle erniedrigt und an der freien Entfaltung hindert. Dabei nahm er literarisch selber die Rolle des Widerparts ein. Einige traditionell christliche Leser deuten diese Kritik als Verherrlichung des Antichrist-Typos in einer neuen Form und führen sie auf die Psychologie des Autors zurück, der eine bestimmte Form des Christentums im Kaiserreich und in seinem Elternhaus vor Augen hatte.
In der Tradition Nietzsches haben sich immer wieder Menschen als "Antichristen" bezeichnet, wenn sie sich gegen die Vorherrschaft des Christentums auflehnen bzw. es verachten. Dieses Phänomen ist im 20. Jahrhundert vor allem im frühen Satanismus um LaVey und Crowley und im Neuheidentum aufgetreten. Auch manche Islamisten bezeichnen sich als Antichristen, wenn sie die Vormachtstellung der christlichen Religionen und die christliche Infiltrierung in Ämter und Führungspositionen kritisieren.
In den 80er Jahren nahmen mit der "Satanic panic" und der vermehrten Popularität von Punk, Metal und antichristlichem Hip Hop und im dark Electro die selbsternannten "ACs" zu. Viele Jugendlichen sahen darin eine neue Art der Rebellion.
Deutung
Der biblische Befund lässt verschiedene Deutungen der Figur des Antichristen zu. Der Rahmen, nämlich die apokalyptische Endzeiterwartung, ist jedoch in allen Textbeispielen vorhanden.
Die Aspekte der Verführung zum Abfall, der personifizierten Gegenwart des Bösen, seiner bedrängenden Übermacht, Weltherrschaft und Verwechslungsgefahr mit Christus sind für viele Christen auch heute noch aktuell. Sie fassen die Figur des Antichristen aber oft nicht wörtlich als leiblich existierende Person auf, sondern verstehen das Böse eher als innere Haltung (Hass oder Rache) und äußere Machtstruktur (totale Herrschaft, gnadenlose Gewalt) und den Wirkungszusammenhang zwischen beidem.
Andere Christen halten an den biblischen Aussagen über die Geschichtlichkeit und Personalität des kommenden Antichristen fest. Sie unterscheiden aber auch seinen Geist, der sich in bestimmten politischen und religiösen Bewegungen wie auch im Denken und Handeln von Einzelpersonen zeige, von der zukünftig offenbar werdenden Person.
Der biblische Befund warnt vor der allzu eingängigen Gleichsetzung von Christentum mit der Idee des Guten, Antichristentum mit der Idee des Bösen: Denn der Begriff "Antichrist" wurde gerade als Ausdruck für die Gefährdung der leichtgläubigen, ungeduldigen, die Menschwerdung und damit Leidensfähigkeit Gottes ablehnenden Christen aus der Mitte der eigenen Gemeinschaft geprägt. Auch dort, wo er auf äußere Mächte bezogen wurde, bestand deren Rolle in erster Linie darin, das Vertrauen und die Treue der Christen zu Christus zu prüfen.
Wo Christen sich im Besitz der Wahrheit wähnen und diese zur Definition der Feinde ihres Glaubens handhaben zu können meinen, dort neigen sie dazu, ihre Religion mit Jesus Christus selber zu verwechseln und seine Herrschaft durch ihre eigenen Macht- und Wahrheitsansprüche abzubilden. Genau darin liegt aber für die Texte des NT der Abfall von Christus, das fehlende Grundvertrauen zu seiner eigenen Wirksamkeit.
Jede theologisch verantwortliche Deutung wird also den selbstkritischen Entscheidungscharakter des christlichen Glaubens herauszuheben haben: Wer als Christ seinen eigenen Unglauben und Ungehorsam gegen Jesu Alleinherrschaft in der Christenheit und der Welt nicht erkennt und bekennt, der ist dem Antichristentum schon verfallen. Christen haben also allen Grund, sich nicht in eine Konfrontation zu denen zu begeben, die sich bewusst und freiwillig gegen Christus stellen, sondern gemäß Mt 5, 39-48 die grundlegende menschliche Solidarität gerade mit ihnen einzuüben.
Denn diese Ablehnung Christi könnte mit der eigenen fehlenden Nachfolge der Christen zu tun haben. Dass das Christentum selber in seiner Geschichte zahllose schwere Verbrechen zu verantworten hat und daher als tatsächliche Christusfeindschaft und Gottesverleugnung gelten muss, lässt sich kaum bestreiten (vgl. Karl Barth, Kirchliche Dogmatik II/1, § 17).
Literatur
- Leonard Goppelt: Politisches Antichristentum und die wahren Jünger. In: Theologie des Neuen Testaments, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1978, ISBN 3525032528
- Barbara Könneker: Der Antichrist, in: Ulrich Müller und Werner Wunderlich (Hgg.), Dämonen, Monster, Fabelwesen, (=Mittelaltermythen, Band 2), St. Gallen 1999 Seite 531-544
- Alfonso di Nola: Der Antichrist und die kosmische Katastrophe, in: Der Teufel. Wesen, Wirkung, Geschichte, München 1993, Seite 237-262 ISBN 3423046007
- Reinhard Raffalt, Der Antichrist, Feldkirch 1990
- Horst Dieter Rauh: Das Bild des Antichrist im Mittelalter: von Tyconius zum deutschen Symbolismus, (=Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters; N.F., 9), Erlangen 1969 ISBN 3-402-03903-6
- Ingvild Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik in der Zeit der Reformation und der Glaubenskämpfe bis Anfang des 17. Jahrhunderts: Argumentation, Form und Funktion, (=Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur; Band 1855), München 2000 ISBN 3-631-39653-8