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Der Kleiderschrank

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Der Kleiderschrank ist eine Erzählung von Thomas Mann aus dem Jahre 1899.

Inhalt

Albrecht van der Qualen, dem die Ärzte nur noch wenige Monate zu leben gegeben haben, reist imSchnellzug Berlin-Rom Richtung Süden. Dabei führt er weder Uhr noch Kalender mit sich; längst „hatte er sich der Gewohnheit entschlagen, zu wissen, den wievielten Tag des Monats oder auch nur welchen Monat, ja sogar welche Jahreszeit man schrieb. Alles muss in der Luft stehen.“

An einem unbekannten Bahnhof steigt er aus, lässt sich vom Droschkenkutscher Richtung Stadt bringen. Es war "Abend (...) in jeder Beziehung Herbst.". Auf dem Weg überschreitet van der Qualen „eine Brücke, (…) unter der das Wasser sich trübe und träge dahinwälzte. Ein langer, morscher Kahn kam vorbei, an dessen Hinterteil ein Mann mit einer langen Stange ruderte.“. Unter im Nebel leuchtenden Bogenlampen, „über schwarznasses Trottoir“ geht es zum „Hotel zum Braven Mann“. Eine magere alte Dame in einem „altmodischen, verschossenen, schwarzen Kleid“, mit „eingefallenem Vogelgesicht“ und einem „moosartigen Gewächs“ auf der Stirn, „wie eine Figur von Hoffmann“, vermietet ihm ein Zimmer.

Dort entdeckt er in einen Kleiderschrank, „ein vierschrötiges, braungebeiztes, ein wenig wackeliges Ding mit einer einfältig verzierten Krönung“. Er ist leer, die Rückwand aus grauem Rupfen hat sich an einer Ecke gelöst. Abends, beim Cognac, trifft er dort ein nacktes kleines Mädchen, „eine Gestalt, ein Wesen so hold, dass (… sein) Herz stillstand“. Im Kerzenschein erzählt sie ihm traurige Geschichten „ohne Trost“. Geschichten etwa von Liebenden, die übers Heideland gehen. Sie reimen sich „auf so unvergleichlich süße und leichte Art (…), wie es uns hie und da in Fiebernächten im Halbschlaf geschieht.“, enden aber traurig, mit einem „Messer(stich) oberhalb des Gürtels (…), und zwar aus guten Gründen.“

Allabendlich findet sich die Kleine im Kleiderschrank ein und erzählt, verschwindet, sobald van der Qualen seine Hände nach ihr ausstreckt. Wieviele Tage das so geht, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob der schwerkranke van der Qualen damals wirklich aus dem Zug stieg und sich in die Stadt begab – oder „nicht vielmehr schlafend in seinem Coupé erster Klasse verblieb und von dem Schnellzug Berlin-Rom mit ungeheurer Geschwindigkeit über alle Berge getragen ward“. Alles muss in der Luft stehen.

Interpretation

Rätselhaftigkeit

Eine Geschichte voller Rätsel lautet der Untertitel der Erzählung. Und in der Tat bleibt vieles im Unbestimmten. Über Ort und Zeit des Geschehens wird der Leser ebenso im Unklaren gelassen wie der bewusst ohne Uhr und Kalender reisende van der Qualen. Auch die Stadt wird nicht näher genannt, nicht einmal ob sie "in Deutschland? (...) in Norddeutschland?" liegt, wird verschwiegen. Wer das unbekannte Mädchen im Schrank ist und woher sie kommt bleibt unklar, ebenso die Frage, ob van der Qualen Tagträumen, Fieberphantasien, einem Nahtoderlebnis oder schlicht einem vom Cognac verursachten Rausch erliegt. Ungewiss erscheint sogar, ob die Reise in die Stadt und der Aufenthalt im Hotel selbst real sind - oder ebenfalls Teil der tatsächlich im Eisenbahncoupé stattfindenden Vision. Dem entspricht Albrechts leitmotivisch wiederkehrender Ausspruch, alles müsse in der Luft stehen.

Todessymbolik

Der Tod ist in der Erzählung von Beginn an vielfältig präsent: "In den ernsten und offenen Gesprächen unter zwei Männern", die die Arzte mit van der Qualen geführt hatten, in seinem "gelblichen Teint" und seinen "tief umschatteten Augen". Im "Abend", im "Herbst" der während der Reise in die Stadt herrscht, in den nebeltrüben Bogenlampen und dem schwarznassen Trottoir, schließlich in dem Fluss, den der Protagonist überschreitet und der alle Zeichen des Styx mit dem mythischen Fährmann Charon trägt, der Grenze zur Unterwelt. Die hoffmanneske Zimmerwirtin bietet mit ihrem Vogelgesicht und dem "moosartigen Gewächs" auf der Stirn ebenso ein Bild des Verfalls wie der marode Kleiderschrank. Selbst die jugendfrische Gestalt des Mädchens kann nicht über die Allgegenwart des Todes hinwegtäuschen, bringen sie von der Qualen doch keinen Trost, sondern führen ihn in den Untergang.

Literarische Vorbilder

Als Vorbilder für die geheimnisvolle Erscheinung im Kleiderschrank werden die junge Frau aus Dostojewskis Wirtin von 1847 und die geisterhafte Donna Anna in E.T.A. Hoffmanns Don Juan genannt.

Literatur

  • Thomas Mann, Der Wille zum Glück und andere Erzählungen, Frankfurt 1991, S. 166ff., ISBN 3596294398