Todeself

Als Todeself wird eine Fußball-Mannschaft aus ukrainischen Zwangsarbeitern bezeichnet, die am 9. August 1942 in Kiew zum zweiten Mal eine Auswahl deutscher Wehrmachtssoldaten besiegte. Es ging für die deutschen Organisatoren, die Spieler und Zuschauer um ein Prestigeduell zwischen deutschen Besatzern und unterdrückten Ukrainern. Neun ukrainische Spieler wurden am 18. August 1942 von den Deutschen verhaftet und in Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager gebracht. Drei der Verhafteten wurden dort bei einer Massenerschießung ermordet, einer starb an Folter. Historiker sehen keinen Zusammenhang dieser Vorgänge mit dem Fußballspiel.
Seit 1944 brachte die Propaganda der Sowjetunion die Legende von einem Todesspiel (ukrainisch Матч смерті/ Mattsch smerti) auf: Danach soll die SS die ukrainischen Spieler mit Todesdrohungen erfolglos zu nötigen versucht haben, den Deutschen den Sieg zu überlassen. Zur Strafe für ihren Sieg seien die Ukrainer verhaftet und einige ermordet worden.
Verlauf
Im deutschen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion, der am 22. Juni 1941 begann, besetzte die Wehrmacht im September 1941 Kiew. Am 29. und 30. September 1941 ermordeten Angehörige des SD, Wehrmachtsoffiziere, Polizei und Geheime Feldpolizei in einer gemeinsam vorbereiten Aktion in der Senke „Babyn Jar“ am Stadtrand etwa 33.800 ukrainische Juden aus Kiew. Dabei halfen nichtjüdische Ukrainer, die die Deutschen als Befreier vom Stalinismus begrüßten und sich für die Nachkriegszeit eine unabhängige Ukraine erhofften.[1]
Die überlebenden Kiewer mussten unter den deutschen Besatzern Zwangsarbeit leisten. Ab 1942 erhöhten diese die Lebensmittelrationen in Kiew. Von Juni bis August 1942 setzten sie das während des Krieges geltende Verbot von Fußballspielen aus und erlaubten ein lokales Fußballtournier, um die Stimmung und Arbeitsmoral der Kiewer Bevölkerung zu heben.
Der Direktor der „Brotfabrik Nr. 3“ in Kiew, Josef Kordik, hatte ohne Wissen der Deutschen acht Spieler der Fußballvereine Dynamo Kiew und des FC Lokomotive Kiew als Arbeiter verpflichtet. Dynamo Kiew war vom sowjetischen NKWD gefördert, seine Spieler offiziell als NKWD-Angehörige geführt worden. Sie gehörten vor dem Krieg zu den besten Spielern der Sowjetunion. Diese ukrainischen Fußballer bildeten den Kern der Betriebsmannschaft FC Start. Sie trat gegen fünf weitere Mannschaften an, darunter das ukrainisch-nationalistische Team Rukh und vier Teams aus Garnisonen und Dienststellen der deutschen und ungarischen Besatzungstruppen. Sie gewann alle ihre Hin- und Rückspiele, sieben gegen Mannschaften der Ungarn und Deutschen, drei gegen andere ukrainische Mannschaften.[2]
Am 6. August 1942 gewann der FC Start im Zenitstadion Kiew vor etwa 10.000 Zuschauern gegen eine Auswahl deutscher Soldaten der Luftwaffe, die „Flakelf“, mit 5:1. Für den 9. August 1942 setzten die Deutschen ein zweites Spiel dieser Gegner an, das der FC Start nach einer Halbzeitführung von 3:1 mit 5:3 gewann. Am 16. August gewann er sein letztes Spiel gegen die ukrainische Mannschaft Rukh mit 8:0.
Am 18. August verhafteten die Deutschen neun beteiligte Spieler der Start-Elf in der Brotfabrik. Historiker vermuten, dass Angehörige der unterlegenen Mannschaft Rukh, die aus ukrainischen Kollaborateuren zusammengesetzt war, die Verhafteten bei den Deutschen als Angehörige (Spitzel) des NKWD angezeigt hatten. Bei dem verhafteten Stürmer Nikolai Korotkykh sollen die Deutschen einen NKWD-Dienstausweis gefunden haben. Er wurde gefoltert und starb daran oder wurde dabei erschossen. Der Torhüter Nikolai Trussewitsch und die Spieler Alexei Klimenko und Iwan Kusmenko wurden im KZ Syrez am Stadtrand von Kiew interniert. Dort wurden sie sechs Monate später bei einer Massenexekution von Häftlingen erschossen. Manche erklären diesen Massenmord als Vergeltungsaktion für einen Angriff von Partisanen[3], andere als Strafe des Lagerkommandanten Paul Otto Radomski für den Angriff einiger Häftlinge auf seinen Hund.[4]
Sowjetische Legende
Nach der Rückeroberung Kiews durch die Rote Armee im Herbst 1943 schuf die sowjetische Kriegspropaganda die Legende vom „Todesspiel“: Danach sei das Revanchespiel angesetzt worden, um die Überlegenheit der Besatzer zu beweisen. Der Schiedsrichter sei ein SS-Mann gewesen, der parteilich zugunsten der deutschen Flakelf gepfiffen habe. Die Deutschen sollen brutal gespielt haben. Nachdem die Ukrainer dennoch führten, sei ein weiterer SS-Mann in der Halbzeitpause in ihre Kabine gegangen und habe ihnen nahegelegt, das Spiel zu verlieren, da ihnen andernfalls ernste persönliche Folgen drohten. Als Rache für ihren demütigenden Sieg habe die deutsche Gestapo alle elf Kiewer Fußballer direkt nach dem Ende der Partie noch in ihren roten Trikots verhaftet und die meisten sofort erschossen.[5]
Diese Legende fand Eingang in die sowjetischen Schulbücher und wurde durch Filme, Romane, Dokumentationen und Zeitungsartikel jahrzehntelang verbreitet. 1962, während des Kalten Krieges, bereitete der sowjetische Regisseur Jewgeni Karelow die Geschichte in dem Spielfilm Treti taim (russisch: Третий тайм; deutsch: „Die dritte Halbzeit“) propagandistisch auf. Der Film wurde wiederholt im ukrainischen Fernsehen gesendet, etwa zum 60-jährigen Jubiläum des Kriegsendes im Mai 2005. 1965 verlieh der Oberste Sowjet sechs überlebenden Spieler des FC Start die Tapferkeitsmedaille „Für kämpferische Verdienste“. Vier gestorbene Spieler erhielten die Medaille „Für Tapferkeit“.[6]
Drei Skulpturen vor dem Stadion von Dynamo Kiew und in der Stadt erinnern an die vier Fußballer, die den Sieg mit dem Leben bezahlt haben sollen. Das Zenithstadion wurde zum Gedenken an die siegreiche ukrainische Mannschaft „Start“ genannt.
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Todesspiel-Monument in Kiew
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Figur des Monuments
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Der Eingang ins historische Stadion „Start“.
Andere Darstellungen
Der 1981 entstandene Hollywood-Film Flucht oder Sieg unter der Regie von John Huston verwendete das Motiv der „Todeself“ in ihren Grundzügen, verlegte die Geschichte aber nach Frankreich, wo eine internationale Auswahl alliierter Kriegsgefangener (gespielt u. a. von Sylvester Stallone und Pelé) gegen die deutsche Nationalmannschaft antreten sollte.
2005 produzierte Claus Bredenbrock für die ARD eine Dokumentation über das historische Spiel unter dem Titel Die Todeself.
Im Mai 2012 erschien der russische Film „Das Match. Ein patriotisches Drama“ (Regie: Andrej Maljukow) in der Ukraine. Er variiert die sowjetische Legende im Kontext einer erfundenen Liebesgeschichte zwischen dem Dynamo-Spieler Nikolaj und der Deutschlehrerin Anna. Er zeigt nur die im Film Russisch sprechenden Spieler als antifaschistische Helden, die übrigen Ukrainer als Kollaborateure der Nazis.[7] Er sollte deshalb in der Ukraine zunächst staatlich verboten werden; stattdessen wurde der Filmstart verschoben und die Altersgrenze für die Zuschauer angehoben.[8]
Staatsanwaltliche Ermittlungen
Aufgrund eines Berichts der Stuttgarter Zeitung über die Ermordung der vier ukrainischen Spieler nach dem Spiel leitete die Staatsanwaltschaft beim Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg Ermittlungen wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen ein. Sie stellte das Verfahren jedoch im März 1976 ergebnislos ein.
Ein weiteres Ermittlungsverfahren zum Verdacht der „Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener nach einem Fußballspiel“ ließ der Hamburger Oberstaatsanwalt Jochen Kuhlmann 2005 einstellen, da weder der Besuch eines SS-Mannes in der Kabine der Ukrainer noch ein Zusammenhang der späteren Todesfälle mit dem Spiel belegt sei.[9]
Historische Forschung
1992 wurden einige der sowjetischen Akten zu den Vorgängen des Sommers 1942 in Kiew freigegeben. Historiker haben daraus entnommen, dass vier FC-Start-Spieler erst Monate später und aus anderen Gründen ermordet worden waren. Unter anderem wurde eine unveröffentlichte Fotografie entdeckt, die beide Mannschaften des „Todesspiels“ nach dem Spiel vereint lachend zeigt. Die Journalisten Tomma Schroeder und Florian Kellermann berichteten darüber 2006.
Claus Bedenbrock und andere veröffentlichten die Recherchen für seine Dokumentation 2008 als Buch. Bredenbrock zufolge ist nicht auszuschließen, dass die neun Spieler des FC Start am 18. August 1942 auch wegen ihres Sieges über die Deutschen gemeinsam verhaftet worden sind. Er räumte aber ein, dass die späteren Morde an vier der Verhafteten nicht nachweisbar auf das Spiel zurückzuführen sind.[10]
Der ukrainische Autor Wolodymyr Prystajko stützte in seinem Buch „Gab es ein Todesspiel? – Dokumente zeugen“ (2006) die Annahme, dass nur die als NKWD-Angehörige verdächtigen Spieler von Dynamo Kiew verhaftet wurden. Der Sporthistoriker Wolodymyr Gynda fand 33 weitere Fußballspiele zwischen Ukrainern und Deutschen während des Krieges, in denen meist die Ukrainer siegten, ohne dass es negative Folgen für sie hatte.[11]
Nach Recherchen der ukrainischen Historiker Maryna Krugliak und Viktor Yakovenko bestätigte keiner der überlebenden Spieler des FC Start Todesdrohungen durch Deutsche vor oder während des Spiels. Nach Aussage des Mannschaftskapitäns sollen die Ukrainer im Hinspiel am 6. August 1942 ihrerseits brutal gespielt und einem Deutschen ein Knie gebrochen haben. Drei Spieler der Start-Elf sollen Gestapo-Spitzel gewesen sein.[4]
Literatur
- Historie
- Jonathan Wilson: Behind the Curtain: Football in Eastern Europe. Orion, 2012, ISBN 0752879456 (Kapitel 1)
- Donn Risolo: Soccer Stories: Anecdotes, Oddities, Lore, and Amazing Feats. Bison Books, 2010, ISBN 0803230141, S. 57–59 (englisch)
- Max Davidson: Fields of Courage: The Bravest Chapters in Sport. Little Brown UK, 2011, ISBN 1408702177, S. 26–28 (englisch)
- Jan Stradling: More Than a Game. Murdoch, 2009, ISBN 1741961351, S. 192–195 (englisch)
- Anatoly Kuznetsov: The Dynamo Team. In: John Turnbull, Thom Satterlee, Alon Raab (Hrsg.): The Global Game: Writers on Soccer. Bison, University of Nebraska Press, 2008, ISBN 0803210787, S. 189–194 (englisch)
- Andy Dougan: Dynamo: Defending the Honour of Kiev. Fourth Estate, London 2001, ISBN 1-84115-318-4
- Gerhard Fischer, Ulrich Lindner, Werner Skrentny: Stürmer für Hitler. Vom Zusammenspiel zwischen Fußball und Nationalsozialismus. Die Werkstatt, 3. Auflage 1999, ISBN 3895332410, S. 216–217
- Lothar Creutz, Carl Andrießen: Das Spiel mit dem Tode. Deutscher Militärverlag, Berlin 1969
- Alexander Bortschagowski: Ihr Größtes Spiel. Kultur und Fortschritt, Berlin-Ost 1960
- Roman
- Chris Bunch, Allan Cole: Death Match. Orbit, 2012, ISBN 184149495X (englisch)
Filme
- WDR-Dokumentation von 2005 via archive.org; Beschreibung auf Phoenix.de
- Vorlage:IMDb Titel
- Vorlage:IMDb Titel
- Vorlage:IMDb Titel
Weblinks
- Erik Eggers (taz, 23. Juli 2001): Ukrainische Fußballkunst gegen Hitlers Flakelf
- Michael Sontheimer (Der Spiegel, 9. November 2001): Fußball-Geschichte: Der Schiedsrichter war ein SS-Mann
- Spielverlagerung.de (26. Dezember 2011): Eine Weihnachtsgeschichte: Fritz Walter, die Todeself und der zweite Weltkrieg
- Junge Welt, 20. März 2012: Spiel um Leben und Tod
- Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, 31. Mai 2012: Todeself und gefallene Nationalspieler – Fußballdramen im Zweiten Weltkrieg
- Bayerischer Rundfunk, 3. Juni 2012: radioZeitreisen: Die Geschichte der ukrainischen "Todeself"
- Denkmal auf der Karte in Kiew
- Mathias Schnitzler: Schuss und Tor – Fußball-Stories aus Polen und der Ukraine (WDR 5, 20. Mai 2012)
Einzelnachweise
- ↑ Erhard R. Wiehn: Babij Jar 1941. Hartung-Gorre, 2001, ISBN 389649645X, S. 56
- ↑ Stefan Giannakoulis (NTV, 27. Dezember 2011): Der Mythos vom Kiewer Todesspiel: Brotfabrik schlägt Wehrmacht
- ↑ Die Welt, 10. November 2011: Triumph der Brotfabrik-Helden über Hitlers Luftwaffe
- ↑ a b Markwart Herzog (Der Spiegel, 15. Juni 2012): Weltkriegs-Fußballmythos: Die wahre Geschichte des „Todesspiels“
- ↑ Andreas Schwarzkopf (Frankfurter Rundschau, 5. Juni 2010): FC Start (Ukraine) - deutsche Flak-Elf: Die Todeself
- ↑ Martin Krauss (Taz, 9. Mai 2012): Einfach mal schießen! Kollaborateure im eigenen Strafraum
- ↑ Gerhard Gnauck (Die Welt, 30. April 2012): „Gute“ Sowjetpatrioten und „böse“ Nazi-Ukrainer
- ↑ APA, 12. April 2012: Kiew verzögert Start von Film zu "Todesspiel" aus Zweitem Weltkrieg; Christian Esch (Berliner Zeitung, 26. April 2012): Fußballfilm „Match“: Das Wunder von Kiew
- ↑ Focus, 14. März 2005: Legende: Das Phantom in der Kabine
- ↑ Claus Bedenbrock: Die Todeself. Kiew 1942: Fußball in einer besetzten Stadt. In: Lorenz Peiffer/Dietrich Schulze-Marmeling (Hrsg.): Hakenkreuz und rundes Leder - Fußball im Nationalsozialismus. Göttingen 2008, S. 504–516
- ↑ Tomma Schroeder, Florian Kellermann (Moskauer Deutsche Zeitung, 7. August 2006): Nicht auf Ballhöhe: Die Legende um das „Todesspiel“ von 1942