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Patriarchat (Soziologie)

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Patriarchat wörtlich ‚Vaterherrschaft‘, [1] beschreibt in der Soziologie und verschiedenen Gesellschaftstheorien ein System von sozialen Beziehungen, maßgebenden Werten, Normen und Verhaltensmustern, das von Vätern oder Männern allgemein geprägt, kontrolliert und repräsentiert wird.[2]

Ein Synonym für Patriarchat ist der wenig gebräuchliche Begriff Androkratie, ‚Herrschaft des Mannes‘[3]

In der Herrschaftstypologie Max Webers wird das Patriarchat als eine persönliche, auf Gewalt und Gehorsam beruhende Form der Herrschaft klassifiziert.[4] In Anlehnung an die römische Familie bzw. den pater familias wird darunter z.B. eine familiale Organisation verstanden, die dem männlichen Oberhaupt als dem „Herrn des Hauses“ die rechtliche und ökonomische Macht über die von ihm abhängigen Familienmitglieder zuschreibt. [5] Erst die Frauenbewegung seit den 1970er Jahren hat vom Patriarchat im Sinne allgemeiner, nahezu global verbreiteter Männerdominanz gesprochen [4] Patriarchat wurde zu einem Sammelbegriff für Strukturen und Formen von Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt, die Frauen betreffen.[6]

Wortgebrauch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit

In der ältesten bekannten griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, der Septuaginta, wird patriarches in der Bedeutung von „Erzväter“ verwendet. Dementsprechend wurde der Begriff „Patriarch“ im Mittelalter und in der frühen Neuzeit als Synonym für die Stammväter der Israeliten vor der Sintflut und nach ihr bis zum Auszug der Israeliten aus Ägypten verwendet. Daraus erklärt sich auch die Assoziation von „Patriarch“ mit einem alten Mann, der Enkel und Urenkel hat, denn von den Stammvätern der Israeliten wird in der Bibel berichtet, dass sie ein sehr hohes Alter erreichten. In der katholischen Kirche wurde der Begriff „Patriarch“ als Ehrentitel für geistliche Würdenträger benutzt, ohne dass dieser Titel notwendigerweise Gewalt über andere Geistliche implizierte. [7]

Die römisch-katholische Kirche wie die orthodoxen Kirchen benennen seit dem Mittelalter bestimmte Bistümer, Diözesen oder Kirchenprovinzen als „Patriarchat“, wie z.B. das Patriarchat von Venedig und das Patriarchat von Moskau.

In einer staatstheoretischen Abhandlung des 17. Jahrhunderts diente der Begriff „Patriarchat“ dazu, eine von väterlichen Figuren abgeleitete Autorität zu bezeichnen.[8]

Bedeutungswandel im 19. Jahrhundert - Patriarchat als Kulturstufe

Der Begriff „Patriarchat“ zur Bezeichnung sozialer bzw. gesellschaftlicher Organisationen, in denen Väter oder Männer allgemein Frauen dominieren und über größere Lebenschancen oder Selbstbestimmungsrechte verfügen als diese, wurde erst im 19. Jahrhundert geprägt. Cynthia Eller schreibt diesen Umstand dem Einfluss der fortschreitenden Säkularisierung zu, den gesellschaftlichen Umbrüchen im Zusammenhang mit der sozialen Frage (Arbeiterbewegung und Frauenbewegung), der Verbreitung evolutionistischen Gedankengutes in der Folge Darwins und der sich damals gerade entwickelnden Wissenschaft der Sozial- oder Kulturanthropologie. In dieser Gemengelage von Ideen, Anliegen und Informationen seien viele von der Frage fasziniert gewesen, wie die neu entdeckte Urgeschichte des Menschen ausgesehen haben könnte, und spekulierten über die Existenz evolutionärer Stufen, die in die Realität der westlichen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts geführt hätten.[9] Das Patriarchat oder im Gegensatz dazu das Matriarchat) wurde als Charakteristikum einer oder verschiedener dieser evolutionären Stufen betrachtet, und je nachdem, wie man die vermutete evolutionäre Entwicklung als Ganzes und die zeitgenössischen gesellschaftlichen Verhältnisse bewerten wollte, wurde das Patriarchat oder das Matriarchat als jeweils höhere oder niedrigere Entwicklungsstufe menschlicher Gesellschaftordnung beurteilt.

So galt für Johann Jakob Bachofen der angenommene Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht als Durchbruch des geistig-männlichen Prinzips, mit dem das höchste Ziel menschlicher Entwicklung erreicht sei. Die Theoretiker des Sozialismus rezipierten Bachofens Idee vom Mutterrecht positiv, doch kamen sie zu anderen Schlüssen. Friedrich Engels beurteilte den fiktiven Umsturz des Mutterrechts als die „weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts". "Patriarchat" als Merkmal der kapitalistischen Produktionsweise ist seitdem ein fester Bestandteil im Kontext marxistischer Wissenschaft. [10] Aktivistinnen der ersten Frauenbewegung wie Minna Cauer machten sich die neuen anthropologischen Theorien über das Matriarchat, das dem Patriarchat vorausgegangen sei, zu Nutze, um das das Primat patriarchaler Familienformen und Frauen diskriminierende Ehe- und Eigentumsgesetze zu kritisieren.[11]

Der feministische Patriarchatsbegriff

Der Feminismus seit den 1970er Jahren hat den Begriff „Patriarchat“ in weiterer Hinsicht transformiert: Er wurde der zentrale Begriff für die verschiedenen Strömungen der Frauenbewegung und als Synonym für 'männliche Herrschaft und Unterdrückung der Frauen' zum universalen Prinzip und zur identitätsstiftenden Grundlage feministischer Theorie und Praxis.

„'Patriarchat' bedeutet wörtlich die Herrschaft von Vätern. Aber heute geht männliche Dominanz über die 'Herrschaft der Väter' hinaus und schließt die Herrschaft von Ehemännern, von männlichen Vorgesetzten, von leiteten Männern in den meisten gesellschaftlichen Institutionen in Politik und Wirtschaft mit ein […] Das Konzept 'Patriarchat' wurde durch die neue feministische Bewegung als ein Kampfbegriff wieder entdeckt, weil die Bewegung einen Begriff brauchte, durch den die Gesamtheit von bedrückenden und ausbeuterischen Beziehungen, die Frauen betreffen, sowie ihr systematischer Charakter ausgedrückt werden konnte. Außerdem zeigt der Begriff 'Patriarchat' die historische und gesellschaftliche Dimension der Frauenausbeutung und Unterdrückung an, und ist so für biologistische Interpretationen weniger geeignet als zum Beispiel das Konzept der 'männlichen Dominanz.'“

Maria Mies[12]

Patriarchat bezeichnet demnach einen Zustand, den es zu bekämpfen und zu überwinden gilt, und zugleich einen analytischen Begriff, der seit den 1980er Jahren zum Schlüsselbegriff für feministische Theorien wie in sozialwissenschaftlichen Disziplinen relevant ist, um „[…] Ungleichheiten und Diskriminierungen, die Frauen in den unterschiedlichen Lebensspären betreffen, als Teile eines übergreifenden Phänomens zu erfassen.“

Der Begriff "Patriachat" ist jedoch auch vielfach kristisiert worden, gerade weil er häufig undifferenziert und ahistorisch verwendet wurde [13] und nicht in der Lage sei, die kulturübergreifenden Formen der Nachrangigkeit von Frauen angemessen zu erfassen.

Dem widersprach die britische Soziologin Sylvia Walby. Mit Hilfe des Konzepts „Patriarchat“ hat sie in einer groß angelegten Studie die Benachteiligung von Frauen untersucht und konnte patriarchale Unterdrückung als empirische Realität nachweisen. Allerdings wird darin den Frauen eine überwiegend passive Rolle zugestanden. [6]

Die Soziologin Eva Cyba u.a. argumentiert, dass dem Konzept „Patriarchat“ ein grundlegender Mangel anhafte, da es die Aufmerksamkeit zu einseitig auf die Rolle von Männern und die von ihnen dominierten Strukturen lenke und es Konstellationen gebe, die von niemanden beabsichtigt, sondern „aufgrund ihrer Trägheit als selbstverständliche Tradition reproduziert werden.“ Sie schlägt vor, dass weitere Spezifizierungen hinzukommen müssen, um die konkreten historischen und gegenwärtigen Ursachen und Wirkungsweisen von Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen zu analysieren und zu erklären, z.B. auch die Verschränkung von patriarchalen Strukturen mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise sowie die Rolle des Staates. [5]


Literatur

  • Maria Mies: Patriarchat und Kapital: Frauen in der internationalen Arbeitsteilung, Zürich: Rotpunktverlag, 3. Auflage 1990
  • Sylvia Walby: Theorizing Patriarchy. 1990. ISBN 978-0-631-14769-5
  • Gerda Lerner: Die Entstehung des Patriarchats, München: dtv 2002


Zum Thema Männer im Patriarchat

  • Robert W. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen 1999
  • Horst Herrmann, Vaterliebe. Ich will ja nur dein Bestes, Reinbek 1989, ISBN 3-499-18248-3
  • Frank Lohscheller: Typisch Junge? Kommunikations- und Konflikttraining für Jungen an Schulen. ISBN 3-89771-355-1
  • Frank Wichert (2004): Der VorBildliche Mann. Die Konstituierung moderner Männlichkeit durch hegemoniale Print-Medien, ISBN 3-89771-736-0


Englischsprachige Bücher

  • Flanders, Laura. (2004). Bushwomen: Tales of a Cynical Species. Verso. ISBN 1-85984-587-8.
  • Flanders, Laura (ed). (2004). The W Effect: Bush's War on Women. The Feminist Press at CUNY. ISBN 1-55861-471-0
  • Martin, Mart. (2001). The Almanac of Women and Minorities in American Politics 2002. Westview Press. ISBN 0-8133-9817-7
  • Matland, Richard E. Montgomery, Kathleen A. (2003). Women's Access to Political Power in Post-Communist Europe. Oxford University Press. ISBN 0-19-924685-8
  • Melich, Tanya. (1996). The Republican War Against Women: An Insider's Report from Behind the Lines. Bantam. ISBN 0-553-37816-3
  • Pusey, Michael. (1989). Economic Rationalism in Canberra: A Nation-Building State Changes its Mind. Cambridge University Press. ISBN 0-521-33661-9

.

Aufsätze

  • Studler, Donley T. Welch, Susan. (1987). Understanding the Iron Law of Andrarchy: The Effects of Candidate Gender on Voting Scotland. Comparative Political Studies. 20. Juli. 174-191.
  • Hakim, C. (2003). Family Matters. Australian Institute of Family Studies. 52. September
  • Boris, E. Kleinberg, S.J. (2003). Mothers and other workers: (re)conceiving labor, maternalism, and the state. Journal of Women's History. 15. März 1990. September
  • Maddison, Sarah. (2003). Bombing the patriarchy or outfitting a cab: challenges facing the next generation of feminist activists. Women in Action. August

Rezeption im Film

  • L’aggettivo donna, Annabella Misuglio, Italien 1971, Dokumentarfilm - Kritik des Patriarchats in Italien. L’aggettivo donna analysiert die doppelte Ausbeutung der Arbeiterinnen, die Isolation der Hausfrauen und die Abrichtung der in die Schulen einsperrten, von den anderen Menschen getrennten Kindern.
  • Padre Padrone – Mein Vater, mein Herr, Paolo Taviani & Vittorio Taviani, Italien 1977, 114 min, "Meisterwerk der Tavianis über die Unterdrückung eines Sohnes durch seinen Vater" [14]

Siehe auch

Quellen

  1. Der Terminus Patriarchat ist das Abstraktum zu Patriarch, abgeleitet vom Vorlage:ELSalt patriarches ‚Erster unter den Vätern‘ bzw. ‚Stammesführer‘ oder ‚Führer des Vaterlandes‘, gebildet aus Vorlage:ELSaltpatér ‚Vater‘ und Vorlage:ELSalt archein oder Vorlage:ELSalt arché bzw. Vorlage:ELSalt archon Erster. Im Neugriechischen bedeutet arché ‚Macht, Herrschaft‘, im altgriechischen ‚Beginn, Anfang‘.
  2. Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie. 5. Aufl. Alfred Kröner, Stuttgart 2007. ISBN 978-3-520-41005-4.
  3. Dabei handelt es sich um eine Neubildung von Vorlage:ELSalt2 anḗr ‚Mann‘, zu Genitiv Vorlage:ELSalt andrós mit dem Wortstamm Vorlage:ELSalt2 kratos ‚Herrschaft‘
  4. a b Elke Hartmann: Zur Geschichte der Matriarchatsidee. Antrittsvorlesung, Humboldt-Universität Berlin 2004. pdf
  5. a b Eva Cyba: Patriarchat: Wandel und Aktualität. In: Becker /Kortendiek: Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung.VS Verlag, 2010. ISBN 978-3-531-92041-2, S. 17 ff
  6. a b Sylvia Walby: Theorizing Patriarchy. John Wiley & Sons 1990. ISBN 978-3-8252-3061-6.
  7. Johann Christoph Adelung in seinem Grammatisch-kritische[m] Wörterbuch der hochdeutschen Mundart." 5 Bde., erste Aufl. Leipzig 1774–1786
  8. Beate Wagner-Hasel: Das Diktum der Philosophen: Der Ausschluss der Frauen aus der Politik und die Sorge vor der Frauenherrschaft, in: T. Späth – B. Wagner-Hasel (Hrsg.), Frauenwelten in der Antike, Geschlechterordnung und weibliche Lebenspraxis, Stuttgart u.a. 2000, 198–217, hier: 201 mit Hinweis auf R. Filmer, Patriarchia. The natural Power of Kings defended against the Unnatural Liberty of the People (1640/1680), Nachdr. 1991.
  9. Cynthia Eller: Gentlemen and Amazons. The Myth of Matriarchal Prehistory, 1861-1900. (TB), University of California Press, Berkeley 2010, ISBN 978-0520266766. Teilweise einsehbar bei Google Books.
  10. Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Berlin 1962, S. 61 ff, digitalisierter Text.
  11. Peter Davis: Myth, matriarchy and modernity. Johann Jakob Bachofen in German Culture 1860 - 1945. DeGruyter Berlin, New York 2010. ISBN 978-3110227086. S. 107 f.
  12. Maria Mies: Patriarchat und Kapital. Frauen in der internationalen Arbeitsteilung. Rotpunkt Verlag, Zürich 1988. ISBN 3-85869-050-3. (Seitenzahl wird nachgetragen)
  13. Barbara Holland-Cunz: Feminismus: Politische Kritik patriarchaler Herrschaft, in: Franz Neumann (Hg.): Handbuch Politische Theorien und Ideologien, Band 2, Opladen 2. Aufl. 2000, ISBN 978-3825218546, S. 357–388.
  14. Programm des Kino Arsenal Juni 2008 - http://www.fdk-berlin.de/de/arsenal/kalender.html