Gylfaginning
Die Gylfaginning (Gylfis Täuschung) ist ein Hauptteil der prosaischen Snorra-Edda und erzählt von einem sagenhaften schwedischen König, der sich aufmachte, die Götter zu besuchen, um von ihnen kosmogonisches und kosmologisches Wissen zu erlangen. In Form eines didaktischen Dialogs stellt er ihnen Fragen über die vorchristliche nordische Mythologie. Gegen Ende der Gylfaginning interpretiert Snorri diesen Dialog als eine Sinnestäuschung, der der fragende Gylfi erlag.
Bedeutung der Gylfaginning
Die Gylfaginning enthält einen Abriss der vorchristlich-heidnischen Mythologie der nordgermanischen Kultur, die Snorri dazu entwarf, den angehenden Skalden die mythologischen Konzepte zu erläutern, die den Kenningar unterlagen.
Die Gylfaginning bezieht sich in ihrem mythologischem Lehrgebäude zwar nicht auf die Bewahrung der metrischen Form der alten Skaldendichtung; es geht in ihr allein um das Reservoir, aus dem die Skalden den Stoff, die mythischen Motive, Namen und Anregungen für ihre stilistischen Umschreibungen schöpften.
Technik der Gylfaginning
In der äußeren Rahmenhandlung (Kap. 2 und 54) entwirft Snorri die pseudo-historische Realität des Schwedenkönigs Gylfi und dessen Weg zu den Æsir. Von der Motivation Gylfis berichtet Snorri schon im ersten Kapitel, in der Gefjun-Episode, die den König veranlasst mehr über die Æsir erfahren zu wollen. Die Situation der Sinnestäuschung, der Gylfi in der Folge unterliegt, gestaltet Snorri als Dialog des Königs mit drei Göttern: der Hohe, der Gleichhohe und der Dritte auf ihren Hochsitzen. Die Antworten der Asen-Götter auf die Fragen Gylfis entlehnte Snorri der Vision der Völva in der eddischen Völuspá, die mit der Schöpfung beginnt, theologische und anthropologische Theorien verkündend, eine kosmologische Topologie entwirft, ätiologische Welterklärung bietet und mit der Eschatologie eines Weltalters im Ragnarök endet. All dies ist auch Thema der Gylfaginning.
Mit der Dialogform gelehrter Texte, dem Gespräch Gylfis mit den drei ihn belehrenden Gottheiten, greift Snorri auf eine geläufige Tradition des Mittelalters zurück: dem Gespräch des Schülers mit einem antwortenden Lehrer. Als Modell, dem Snorri sein Schema entnommen haben könnte, werden immer wieder die Gregoriusdialoge und die lateinische Enzyklopädie Elucidarius genannt. Letztere war schon im 12. Jahrhundert ins Isländische übersetzt worden. Dieselbe literarische Technik verwenden aber auch einige der Dichtungen der Lieder-Edda, nämlich Grímnismál und Vafþrúðnismál, die als Wissensdichtung oder Wissensbegegnung bezeichnent worden sind, und bei denen am Ende des Fragens- und Antwortens der Verlierer mit dem Leben bezahlt.
Snorris Quellen
Snorris Gylfaginning enthält eine umfassende nordische Mythographie, sodass sie, trotz christlicher Einflüsse, eine wichtige Quelle der altnordischen Weltanschauung repräsentiert. Ganz wesentlich ist dabei die distanzierte Haltung des Autors, dem es gelungen ist, seinen Gegenstand darzustellen, ohne ihn moralisch zu kommentieren und zu bewerten. Die Frage, woher Snorri seine profunden mythologischen Kenntnisse bezog, die er in der Gylfaginning bearbeitet hat, kann nur im Hinblick auf die eddischen Dichtungen der Lieder-Edda beantwortet werden. Daneben muss er andere, heute verlorene Quellen genutzt haben. Die Vermutung, dass er diese Informationen mündlicher Erzähltradition verdankt, ist naheliegend. Inwieweit im 12. Jahrhundert bereits schriftliche Bearbeitungen dieser Themen vorlagen, ist ungewiss, allenfalls denkbar. Ob Snorri in der Gylfaginning selbst auch als kreativer Dichter tätig war, bleibt eine offene Frage.
Inhalt nach Kapiteln
- 1. Gylfi, König der Schweden, schenkt der Gefion für ihren Gesang ein Stück Land
- 2. König Gylfi zieht nach Asgard, um von den zauberkundigen Asen zu lernen
- 3. Frage nach dem höchsten und ältesten der Götter
- 4. Die Entstehung der Welt
- 5. Die Schaffung der Welt in Ginnungagap
- 6. Ymir und Audhumbla
- 7. Die Tötung des Ymirs
- 8. Die Erschaffung der Welt aus Ymir
- 9. Die Erschaffung der Menschen Ask und Embla
- 10. Tag und Nacht
- 11. Sonne und Mond
- 12. Das Schicksal von Sonne und Mond
- 13. Himmelsbrücke Bifröst
- 14. Goldenes Zeitalter und Erschaffung der Zwerge
- 15. Yggdrasil und Urds Brunnen
- 16. Die Tiere an der Yggdrasil
- 17. Weitere Gebäude des Himmels
- 18. Der Windriese Hräslweg
- 19. Sommerhitze und Winterkälte
- 20. Odin
- 21. Thor
- 22. Baldur
- 23. Njörðr und Skadi
- 24. Freyr und Frayja
- 25. Tyr
- 26. Bragi
- 27. Heimdall
- 28. Hödur
- 29. Widar
- 30. Ali oder Wali
- 31. Uller
- 32. Forseti
- 33. Loki
- 34. Lokis Kinder; der Fenriswolf
- 35. Asinnen
- 36. Walküren
- 37. Freyrs Brautwerbung um Gerd
- 38. Die Einherier
- 39. Heidrun und Eikthyrnir
- 40. Walhalla
- 41. Die Einherier in Walhalla
- 42. Sleipnir; Der Bau Walhallas
- 43. Skidbladnir
- 44. Thor und das Lahmen seines Bockes
- 45. Thors Ostfahrt: Skrymir
- 46. Bei Utgardloki
- 47. Wettkämpfe; Utgardloki erweist sich als Trugbild
- 48. Thor bei Hymir (der hier Ymir genannt wird)
- 49. Baldurs Tod durch den Schuß Hödurs
- 50. Loki wird gefangen
- 51. Die Götterdämmerung
- 52. Gute und schlechte Orte
- 53. Die neue Erde
- 54. Unter Getose verschwindet das Blendwerk und Gylfi steht allein da
Literatur
- Walter Baetke, Die Götterlehre der Snorra-Edda, Berichte über die Verhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Berlin, 1950
- Rudolf Simek und Hermann Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, Stuttgart, 1987