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Colonia Dignidad

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Die Colonia Dignidad (spanisch: "Kolonie der Würde", offiziell "Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad" / "Vereinigung für Wohltätigkeit und Erziehung 'Würde'", heute Villa Baviera / "bayrisches Dorf") ist ein auslandsdeutsches, festungsartig ausgebautes Siedlungsareal in Chile. Es liegt ca. 350 km südlich der Hauptstadt Santiago de Chile nach Catillo, Parral und hat die Größe des Saarlandes. Die Colonia Dignidad wurde 1961 von dem deutschen Sektenprediger Paul Schäfer gegründet. Später beriefen sich Mitglieder auf Joseph Goebbels als Gründervater und bezeichneten sich als eine "deutsche Kolonie".

Geschichte

1956 gründete Paul Schäfer die "Private Sociale Mission", ein Erziehungsheim für Kinder der Sektenmitglieder, in Siegburg bei Bonn. Nach Aufnahme von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs flohen Mitglieder der Sekte nach Chile, wo 1961 die Colonia Dignidad gegründet wurde. Schäfer lockte sie mit einem „urchristlichen Leben im gelobten Land“ und schreckte eventuell noch Zögernde und Ängstliche mit einer angeblich drohenden russischen Invasion in Deutschland.

Nach dem chilenischen Putsch 1973 ließ sich der deutsche Nationalsozialist Hans-Ulrich Rudel dort nieder. Die Kolonie wurde zur Operationsbasis des Pinochet-Geheimdienstes DINA ausgebaut. Sie diente auch als Stützpunkt des Projektes ANDREA (Alianza Nacionalista de Repúblicas Americanas, deutsch: Nationalistische Allianz der amerikanischen Republiken). Dieses Projekt war zur Zusammenarbeit lateinamerikanischer Nationalisten, Geheimdienstler, Antisemiten mit rechtsextremer Stoßrichtung bestimmt.

Die "Siedlung" von etwa 350 Menschen steht seit 1977 unter der Beobachtung von UNICEF und Amnesty International. Entkommene Insassen berichteten glaubwürdig, die Kolonie sei während der Pinochet-Diktatur jahrzehntelang als Folterzentrum des chilenischen Geheimdienstes genutzt worden. Später stellte sich heraus, dass in der Colonia Dignidad Chilenen gefangen gehalten und als Zwangsarbeiter eingesetzt worden waren. In der "Tradition" der deutschen Konzentrationslager wurden medizinische Versuche an Häftlingen durchgeführt. Kinder wurden in der Sektengemeinschaft regelmäßig missbraucht.

Rund 280 Mitglieder der Sekte leben noch immer auf dem rund 140 Quadratkilometer großen und streng abgeriegelten Gebiet. Viele von ihnen sind mittlerweile hochbetagte Auslandsdeutsche, die die spanische Sprache nicht beherrschen und völlig isoliert von den Chilenen leben.

In den 1990er Jahren gab es mehrere Gerichtsverfahren, die bis vor den 4. Senat des Bundessozialgerichts gingen. Auslandsdeutsche Sektenmitglieder hatten Renten beantragt, mit deren Auszahlung die Rentenversicherungsträger Probleme hatten. So bestand und besteht der dringende Verdacht, dass die Bewohner nicht frei über eingehende Geldleistungen verfügen können, sondern dass diese Leistungen ausschließlich der Kolonieleitung zugute kommen. Daher sind entsprechend der Urteile des Bundessozialgerichts die Rentenversicherungsträger unter bestimmten Voraussetzungen berechtigt und ggf. verpflichtet, Zahlungen treuhänderisch zurückzuhalten, wenn das Grundrecht des Betroffenen auf sein Eigentum (Art. 14 Grundgesetz) nicht gewährleistet ist. Sobald der Rentner frei über eingehende Zahlungen verfügen kann, erfolgt eine Auszahlung der bis dahin treuhänderisch zurückgehaltenen Rentenleistungen.

Die Colonia Dignidad besteht heute unter dem Namen "Villa Baviera". 1996 tauchte der 81-jährige Sektenführer Paul Schäfer unter. Die Colonia wird seither von einem ehemaligen SS-Mann und engen Vertrauten Schäfers geleitet. Alle bisherigen Versuche des demokratischen Chile, diese Enklave unter Kontrolle zu bekommen, sind laut Berichten gescheitert. Als Gründe werden die Verflechtungen und die Loyalität der alten Geheimdienste, der vor Ort ansässigen Polizei und lokal Mächtigen und die Unüberschaubarkeit des riesigen Areals genannt.

In der Nähe von Talca betreibt die Colonia ein deutsches Restaurant, um Devisen einzunehmen. Dort werden auch Fotos von Polizeimaßnahmen gegen die Sekte ausgestellt.

Am 17. November 2004 befindet ein chilenisches Gericht Schäfer, den ehemaligen "Herrn über Leben und Tod", in Abwesenheit des sexuellen Missbrauchs von 27 Kindern für schuldig. 22 weitere chilenische und deutsche Mitglieder der Colonia werden für schuldig befunden, den Kindesmissbrauch vertuscht und die Justiz behindert zu haben. Sie erhalten Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren. Zusätzlich müssen Entschädigungszahlungen an die Opfer und deren Familien in Höhe von 540 Millionen Pesos (691.000 Euro) geleistet werden. Der Anwalt der Verurteilten kündigte an, in Berufung gehen zu wollen.

Am 10. März 2005 wurde Paul Schäfer in Argentinien festgenommen. Zwei Tage später wird Schäfer nach Chile abgeschoben.

In der Nacht zum 28. August 2005 wurde die Kolonie von der chilenischen Justiz unter Zwangsverwaltung gestellt. Der Anwalt Herman Chadwick übernahm die Verwaltung ihrer Firmen.

Kritikerstimmen

Der Journalist Gero Gemballa, der mehrere Bücher zum Thema verfasst hat, meint: "Es ist erstaunlich, dass die Colonia Dignidad anders als andere Sekten in der internationalen Berichterstattung so nah am Tatsächlichen beschrieben wurde, so wenig Übertreibung, Phantasie und Gruseliges hinzugefügt wurde. Vielleicht lag das daran, dass die Realität eigentlich nur noch schwer zu übertreffen ist." Er widerspricht der These, dass es für die Verbrechen der Colonia Dignidad nur einen einzigen, allein verantwortlichen Täter gebe, nämlich Paul Schäfer. In seinen Nachforschungen wird deutlich, welches institutionalisierte Geflecht aus Wirtschafts- und Geheimdienstinteressen, Waffenschieberei und aktiver Komplizenschaft an der Liquidierung von Gegnern des Pinochet-Regimes nötig war, um die Dignidad unantastbar zu machen, und weshalb alle Versuche, diese kriminelle Vereinigung auszuschalten, bislang scheiterten.

Der Journalist Jürgen Schübelin merkt in einer Rezension zu einem Buch Gemballas an, dass Zynismus schon immer fester Bestandteil von Terrorherrschaft gewesen sei: „ Arbeit macht frei, schrieb die SS über das Haupttor von Auschwitz, Libertad nannte die uruguayische Militärjunta das größte und furchtbarste Foltergefängnis im Land, und Colonia Dignidad (Kolonie der Würde) ist der Name eines kleinen faschistischen Modellstaates in der südchilenischen Provinz, umgeben von Stacheldraht, Wachtürmen, Stolperfallen - autark, aggressiv und schwer bewaffnet. Nirgendwo wird dem Prinzip Sauberkeit so gehuldigt wie in Dignidad. Wer etwas verschmutzt oder zerbricht, wird bestraft. Wer "unreine" Gedanken hegt, wird dafür geprügelt und mit Elektroschocks gefoltert".

Literatur

  • Gero Gemballa: "Colonia Dignidad. Ein Reporter auf den Spuren eines deutschen Skandals". Campus-Verlag, Frankfurt/New York 1998, 213 S.
  • Friedrich Paul Heller: "Colonia Dignidad - ein stabiles Zwangskollektiv : ein aktueller Überblick über Entstehung, Bedeutung und gegenwärtige Lage der Siedlung Paul Schäfers im Süden Chiles". Frankfurt, M. epd, 1998. 24 S., Schriftenreihe: Epd-Dokumentation
  • Friedrich Paul Heller: "Colonia Dignidad. Von der Psychosekte zum Folterlager." Schmetterling V., Stuttgart 1993 ISBN 392636999X
  • Gero Gemballa: "Colonia Dignidad : ein deutsches Lager in Chile". rororo aktuell Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1988. 173 S. ISBN 3-499-12415-7
  • Efrain Vedder: "Weg von Leben" Bericht von einem Betroffenen, der 35 Jahre in der Kolonie Leben mußte, ISBN 3-550-07613-4
  • Berliner Zeitung - 29. August 2005

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