Die Großstädte und das Geistesleben
Die Großstädte und das Geistesleben ist ein 1903 erschienener Aufsatz des Soziologen Georg Simmel, mit dem dieser die Grundlagen der Stadtsoziologie schuf.
Zusammenfassung
Die Großstädte und das Geistesleben ist ein 1903 erschienener Aufsatz des Soziologen Georg Simmel, mit dem dieser die Grundlagen der Stadtsoziologie schuf.
Nach Georg Simmel weigert sich das Individuum, in einem gesellschaftlich technischen Mechanismus nivelliert und verbraucht zu werden. V. a. die seit der Industrialisierung aufkommende Arbeitsteilung scheint für das Individuum auf den ersten Blick schädlich zu sein. Georg Simmel nimmt die Übersteigerung des Nervenlebens als psychologische Grundlage der großstädtischen Individualität. Der Mensch wird durch äußere, unterschiedliche Eindrücke angeregt. Überquert er z. B. eine Strasse am Picadilly Circus in London, so ergibt sich für ihn ein anderes Bild als auf dem Lande in einem 3000-Seelen-Dorf wie Schöftland. Demnach wird der Mensch am Picadilly Circuit von dutzenden unterschiedlichen Eindrücken fast wie vergewaltigt. Simmel sieht diese Tatsache als Ursache, wie sich das Seelenleben, respektive der intellektualistische Charakter, formiert. Der Kleinstädter kann die ihm so bekannte, nicht großen Änderungen unterliegenden Umgebung mit dem Gemüt und gefühlsmäßigen Beziehungen entgegentreten. Beim Großstädter muss sich über die Form des Gemüts der Verstand legen, quasi als Schutzorgan gegen die eigene Entwurzelung.
Wie der Verstand sachlich ist, so die Geldwirtschaft, die die Menschen (Bsp. Restrukturierungen: Um eine Kostenreduktion von Y zu erzielen, müssen X Angestellte entlassen werden) und Dinge rein sachlich behandelt. Daher hat die Geldwirtschaft ihre Wurzeln auch in der Großstadt und nicht auf dem Land. Die Sachlichkeit zeigt sich in der Produktion von Gütern, wo für ein meist gänzlich unbekannter Abnehmer - gegen Geld - produziert wird. Infolgedessen spricht Simmel davon, wie der moderne Mensch ein immer mehr rechnender geworden ist. Der Charakter einer Großstadt wie Berlin oder Tokio zeigt sich in der Abhängigkeit der Technik der Einwohner. Ohne Pünktlichkeit könnte der Apparat nicht funktionieren. Berechenbarkeit, Exaktheit etc. färben sich auf den Menschen ab. Simmel sieht dies in der Blasiertheit, die der Großstädter zu Tage legt. Um wieder auf das eingangs erwähnte Nervenleben zurückzukommen, so wird in der Großstadt das Nervenleben bis aufs Äußerste angeregt. Der Mensch ist unfähig, alles angemessen zu verarbeiten. Diese Abstumpfung ist jedoch notwendig zum eigenen Schutze. Dies geht sogar bis zu einer gewissen Aversion gegenüber (langjährigen) Nachbarn, die man dann kaum grüsst.
Diese Eigenschaft der Großstadt gibt dem Großstädter die Freiheit, welche er auf dem Lande nicht hätte. Simmel begründet dies mit dem sozialen Kreis. Früheste Bindungen bestehen aus einem relativ kleinen Kreis, worin die Mitglieder peinlichst auf Konformität ihrer Mitglieder wacht. Dies zeigt sich bei Parteien, Religionen, welche im Anfangsstadium so ihre Existenz gegen außen (Feinde) sichern. Diese Beengung lockert sich je größer die Gruppe dann wird.
Weiter zeigt sich die Arbeitsteilung auch im Charakter des Individuums. Um auf dem Markt bestehen zu können, ist das Individuum gezwungen, sich immer mehr zu spezialisieren. Diese Tatsache führt gemäß Simmel dazu, dass im großstädtischen Leben die eigene Persönlichkeit und Aussehen viel mehr zur Geltung gebracht werden will. Dies rechtfertigt die vielen Stadtoriginale (z. B. Herr Z in Genf, der sein Haus ohne Papagei auf dem Rücken nie verlassen würde), auch die Kaprice einiger Zeitgenossen. Weil die Begegnungen auch immer so kurz sind, will sich der einzelne speziell, pointiert, geben.
Aussage
Die Formen, in denen der menschliche Geist von subjektiven, emotionalen Einflüssen (Simmel: Objektivierung des Geistes) befreit wird, nennt Georg Simmel Kultur. Großstädte sind Zeuge und Ursprung dieser Entwicklung, wo Technik Überhand gewonnen hat. Die Stadt mit all ihren Darbietungen lässt das Leben einfacher gestalten, verlangt aber auch keine große Eigeninitiative mehr vom Einzelnen. Der Überwucherung der objektiven Kultur ist das Individuum nicht mehr gewachsen, es ist zu einer „quantité négligeable“ (frz.: eine zu vernachlässigende Größe) entwertet worden. Das Individuum wird aus der subjektiven Form in ein rein objektives Leben überführt. Das ist auch der Grund, weshalb Friedrich Nietzsche u. a. die Großstadt so hassen.
Weblinks
- Originaltext Die Grosstädte und das Geistesleben
- Georg Simmel Online