Die Kristallkugel
"Die Kristallkugel" ist ein Märchen, das die Gebrüder Grimm in den Kinder- und Hausmärchen publizierten.
Inhalt
Eine Zauberin, die ihren drei Söhnen nicht traut, verwandelt den ältesten in einen Adler, den mittleren in einen Walfisch, doch der jüngste beschließt, sich durch Flucht zu retten, bevor ihn die Mutter ihn einen "Bären oder einen Wolf" verzaubert.
Der dritte Sohn macht sich auf den Weg zum Schloß der Sonne, wo er die verwünschte Königstochter erlösen möchte, eine Aufgabe, an der bereits 23 Jünglinge zugrunde gegangen sind.
Unterwegs begegnen ihm zwei Riesen, die sich um einen Wünschhut streiten. Der Jüngling bietet sich als Schiedsrichter an, setzt den Hut auf und wandert weiter. Auf seinen Ruf sollen die Riesen um die Wette laufen. Er vergißt jedoch die Abmachung und die Riesen, seufzt: "Ach wär' ich doch auf dem Schloß der güldenen Sonne!" Prompt bevördert ihn der Wünschhut ans Ziel.
Die verwünschte Königstochter leidet an einem Fluch, der sie für jeden alt aussehen läßt. Nur wer in einen Zauberspiegel blickt, sieht sie in ihrer vollen Schönheit. Nachdem der Jüngling sie so erblickt hat, verfestigft sich seine Bereitschaft, wie zu erlösen. Dazu muß er die Kristallkugel erlangen und dem bösen Zauberer vorhalten, der die Königstochter verflucht hat. Dies kann aber erst nach einer ganzen Folge gefährlicher Teilaufgaben geschehen.
So muß der Jüngling einen Auerochsen besiegen, der an einer Quelle harrt, dann fliegt ein "feuriger Vogel" auf, der gezwungen werden muß, ein Ei zu legen, dessen Dotter die Kristallkugel bildet. Dieses "Ei" darf nirgend aufprallen, weil es sonst einen Brand auslöst, in dem die Kristallkugel zerstört wird.
Der Jüngling siegt im Kampf mit dem Auerochsen. Als Der Feuervogel auffliegt, jagt ihn der Adler-Bruder so lange, bis er ein Ei fallen lässt. Dieses entzündet zwar eine Holzhütte am Meer, doch der Walfisch-Bruder löscht das Feuer. Der jüngste Bruder bringt die Kristallkugel ins Schloß, der Zauberer erklärt sich für besiegt und die Königstochter erscheint in ihrer wahren Schönheit. Das Märchen endet: "Da eilte der Jüngling zu der Königstochter, und als er in ihr Zimmer trat, so stand sie da im vollen Glanz ihrer Schönheit, und beide wechselten voll Freude die Ringe miteinander."
Interpretation
Eugen Drewermann hält in seinem Werk "Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter - Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet" (dtv 35056) eine Subjektale Märchendeutung für angebracht (S.8 und 107-164), der zufolge die drei Brüder drei Seelen in der Brust eines Menschen symbolisieren: den hochfliegenden Intellekt, das verschwimmende Gefühl und "das eigene Ich", das mit heftigen Trieben kämpft, bis es zu einer Integration kommt, welche vom Gewinn der Kristallkugel symbolisiert wird. In den drei Märchen-Brüdern erkennt Drewermann eine Analogie zu Fjodor Michailowitsch Dostojewkis Romanfiguren in "Die Brüder Karamasoff" Drewermann interpretiert dann "Die Kristallkugel" als Zaubermärchen mit Tierverwandlung und "Suchwanderung der Liebe".
Ergänzend zu Drewermann ließe sich auch eine objektale Märchendeutung vornehmen. Es wäre von der Familiensituation einer allein erziehenden Mutter auszugehen, deren Ansprüche, die Söhne sollten "anders werden" (Eltern wünschen immer, daß die Kinder sich ändern), zu deren Verwandlung führt: der älteste Sohn, der ein Adler wird, entwickelt sich zu jemand, der im Intellekt "abhebt". Der zweite Sohn mutiert zu einer Persönlichkeit, die sich vor den großen Ansprüchen schützt, indem er in die Gefühlswelt "abtaucht" oder vielleicht auch wWalfisch-artig viel Fett ansammelt zur Kompensation seines von der Mutter erzeugten Minderwertigkeitsgefühls. Der dritte Sohn wählt die Lösung "abzuhauen". Dabei bringt er den Wünschhut an sich: Der Streit der Riesen um dieses Symbol der Weiblichkeit könnte daraufhin deuten, daß es dem Sohn egal ist, mit welchem von mehreren Bewerbern (für ein Kind riesengroße Männer) die Mutter wieder unter die Haube kommt. Das Mutterbild bestimmt im Sohn aber weiter das Frauenbild, so daß er die Königstochter, die begehrte Lebensgefährtin, erst nur als häßlich bewerten kann. Erst als er den Umgang mit seinen inneren Spannungen und Aggressionen (Auerochs, Feuervogel) errungen hat, wobei der intellektuelle Rat des Adler-Bruders und der gefühlvolle Rat des Walfisch-Bruders (Emotionale Intelligenz, Herzenswärme) helfen können, vermag der junge Mann die Frau seiner Wahl im richtigen Blickwinkel zu sehen. Das Märchen deutet an, daß auf Seiten der Frau auch familiäre Probleme existieren, der Zauberer, der besiegt wird, wäre als "Vater der Braut" zu verstehen, der die Tochter nicht loslassen will und zum Schicksal einer "alten Jungfer" verdammt.
Im Hintergrund dieses Grimmschen Märchens steht sicher auch eine Idee von kosmischer Harmonie, wenn es 23 Männern nicht gelingt, die Frau im Schloß der Sonne zu erlösen und erst der 24. Erfolg hat. Die deutet auf die 24 Stunden hin, die nötig sind, um einen Tag abzurunden.
Die Kristallkugel als Symbol des integrierten, autonomen Selbst steht der goldenen Kugel der Königstochter im Märchen Der Froschkönig nahe.