Wolfskind
Als Wolfskind oder Wilde Kinder bezeichnet man Kinder, oft Findelkinder, die in jungen Jahren eine Zeit lang isoliert von Mensch aufwuchsen und deshalb in ihrem erlernten Verhalten sich von normal aufgewachsenen Kindern unterscheiden. Dabei sind Wolfskinder in seltenen Fällen von Tieren adoptiert worden und lebten bei ihnen.
Es gibt zahlreiche Geschichten und Legenden über Wolfskinder, aber die Wissenschaftler konnten bisher nur einige wenige reale Fälle studieren. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts sind mindestens 53 wilde Kinder gefunden worden.
Im 18. Jahrhundert prägte der schwedische Naturwissenschaftler Carl Linné (1707-1778) den Terminus des homo ferus, des wilden Menschen, der sich wie ein Tier benahm, in der Regel auf allen Vieren lief, nicht sprechen konnte und stark behaart war. Als dieser Begriff geprägt wurde, wandelte sich auch die Einstellung gegenüber den wilden Menschen. Wollte z.B. der Mythos von der Gründung Roms mit der Aufzucht von Romulus und Remus durch eine Wölfin noch die wunderbare Herkunft der Helden unterstreichen oder galten später wilde Kinder als Unheilsboten (z.B. in einer Meldung über ein 1631 bei Southampton aufgefundenes Kind) und als Objekte höfischer Schaulust, so verdanken sie seit der Aufklärung ihre Aufmerksamkeit einem gelehrten Publikum und einer neu entstehenden Öffentlichkeit für anthropologische und pädagogische Fragen. Dass der Mensch nur im Schoße der Gesellschaft den hervorragenden Platz finden kann, der ihm von der Natur zugedacht ist, und ohne Zivilisation eines der schwächsten und unverständigsten Tiere sei, war beispielsweise die Grundauffassung des Arztes und Pädagogen Jean Itard, die er in einem ersten Gutachten über den Wilden von Aveyron (1797 erstmals gesichtet und später dann gefangen) äußerte. Itard verteidigte seine Meinung auch dann noch gegen alle Einwände, als die Versuche, Victor vollends in die menschliche Gesellschaft einzugliedern, weitgehend fehlgeschlagen waren.
Literarische Wolfskinder
In der Mythologie der Römer werden Romulus und Remus von einer Wölfin gesäugt, ähnliches wird berichtet von den slowakischen Recken Waligor und Wyrwidub; auch der Gründer des altpersischen Reiches, Kyros, soll von Wölfen aufgezogen worden sein. In der germanischen Mythologie wird vom Sagenheld Dietrich ebenfalls berichtet, er sei von Wölfinnen großgezogen worden.
Tarzan ist eine moderne Version der literarischen Tradition von "der Held, der von Tieren aufgezogen wurde". Ein anderes Beispiel ist Mowgli aus dem Dschungelbuch von Rudyard Kipling.
Bekannte reale Fälle
- Hessian, Wolfskind (1341-1344), wurde angeblich 1344 in Hessen im Alter von etwa zehn Jahren gefunden. Der Junge bewegte sich auf allen Vieren fort und ernährte sich von rohem Fleisch. Versuche, ihn zu zivilisieren und ihm das Sprechen beizubringen, schlugen weitgehend fehl.
- Peter, der wilde Junge von Hameln (1724)
- Das ungarische Bären-Mädchen (1767)
- Victor von Aveyron (1797), porträtiert in einem Film von 1969 von François Truffaut "Der Wolfsjunge" (L'Enfant sauvage)
- Kaspar Hauser (1818)
- Amala und Kamala – die Wolfskinder von Midnapore, wurden angeblich 1920 in der Höhle einer aggressiven Wölfin gefunden, die sie und zwei Wolfsjunge mit ihrem Leben verteidigte. Das ältere der beiden Mädchen war damals etwa acht Jahre, das jüngere, das etwa ein Jahr später an einem Nierenleiden starb, 18 Monate alt. In menschlicher Obhut zeigten die beiden Mädchen die für Wolfskinder typischen Verhaltensweisen; sie ließen sich zum Beispiel nicht anziehen, kratzten und bissen Menschen, die sich ihnen zu nähern versuchen, lehnten gekochte Nahrung ab und gingen auf allen Vieren. Beim Tod ihrer Schwester zeigte die Ältere jedoch Anzeichen von Trauer, ab diesem Zeitpunkt wurde sie auch zugänglicher. Sie lernte einige Wörter zu sprechen und – mühevoll – aufrecht zu gehen. Einige Jahre später starb auch sie an einem Nierenleiden.
- Genie (Los Angeles, 4. November 1970)
Weitere Bedeutung
Ebenfalls als Wolfskinder bezeichnete man die in Ostpreußen während des Zweiten Weltkrieges durch Kriegswirren elternlos gewordenen Kinder, die bettelnd durchs Land zogen und dann von litauischen, auch russischen Familien aufgenommen wurden, welche zur Zeit der Sowjetunion im Norden Ostpreußens ansiedelten. Diese Kinder hielten ihre deutschen Namen geheim, oder wenn sie noch zu jung waren, wussten oder wissen sie bis heute nichts von ihrer Herkunft. Ihnen wurde in Litauen nahe dem Grenzübergang nach Sowetsk ein Denkmal gesetzt (Wolfskind-Denkmal)
Literatur
- P. J. Blumenthal: Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem wilden Menschen. Deuticke, Wien 2003. ISBN 3-216-30632-1
- Nicole Saathoff: Der Hessische Wolfsjunge und die mittelalterliche Wahrnehmung eines "Wilden Kindes". In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 7, 2001, S. 89-108.
- David Malouf: Das Wolfskind. Greno, Nördlingen 1987. ISBN 3-89190-804-0
- Russ Rymer: Das Wolfsmädchen. Eine moderne Kaspar-Hauser-Geschichte. Hamburg (Hoffmann & Campe) 1996.
- J.A.L. Singh: Die „Wolfskinder“ von Midnapore. Heidelberg (Quelle & Meyer) 1964.
- Michael Schneider, Rätselhafte Welt, BOD 2004, ISBN 3833420588