Milzbrandtoxin
Milzbrandtoxin (auch: Anthrax-Toxin) ist ein Proteingemisch, das vom Milzbrand-Erreger, dem Bakterium Bacillus anthracis produziert wird und das verantwortlich für die Gefährlichkeit einer Milzbrandinfektion ist. Es wird vom Bakterium während der Infektion ausgeschieden, dringt in die Zellen des Wirts ein und verursacht ihre Zerstörung. Die sich aus dem Milzbrandtoxin bildenden Proteinkomplexe, das Letaltoxin und das Ödemtoxin, gehören zur großen Gruppe von Bacillus- und Clostridium-Exotoxinen, die aus zwei sich funktionell ergänzenden Untereinheiten aufgebaut sind (AB-Toxine). Obwohl die Einzelheiten des Vergiftungsprozesses durch Milzbrandtoxin ausgiebig untersucht wurden, sind aufgrund der Komplexität des Vergiftungsgeschehens noch nicht alle Fragen beantwortet.[1][2]
Vergiftungsprozess

Sind die Bedingungen zum Keimen der Endospore von B. anthracis günstig, wie beispielsweise auf der Haut, in der Lunge, oder im Darm von Wirbeltieren, werden LF, PA und EF in großen Mengen produziert und sekretiert. Außerhalb des Bakteriums kürzt eine Protease das PA zu PA-63 und dieses bildet an der Wirtszelle eine Präpore, die maximal vier Moleküle LF und/oder EF binden kann. Nach der Einschleusung des Toxins in die Wirtszelle ist es Bestandteil eines Endosoms, das innerhalb von Minuten zum Lysosom reift, dadurch werden die Proteine im Innern einer starken Ansäuerung ausgesetzt. Dies führt bei der Präpore zur Bildung einer "Klammer", die aus dem Ring eine Pore macht, die die Membran durchdringt und worüber die gebundenen LF- und EF-Einheiten ins Zytosol gelangen.[3][4]
Sind LF und EF frei im Zytosol, können ihre disruptiven Funktionen nicht gestoppt werden. Aufgrund ihrer Enzymeigenschaft werden sie dabei auch nicht verbraucht. LF ist eine Protease, die insbesondere in den MAPKK-Signalweg eingreift, während EF als Adenylylcyclase ein Übermaß an cAMP produziert und die Überexpression der Milzbrandtoxinrezeptoren veranlasst. Die Eskalation durch große Toxinmengen führt zum Zelltod.
Da insbesondere Makrophagen sensibel gegenüber Milzbrandtoxin sind, und deren Massensterben die Infektion begünstigt, werden als Antwort immer größere Mengen Interleukine ausgeschüttet, wobei der dadurch resultierende Schock mit Atmungs- und Herzversagen letztlich die Todesursache für den Wirt ist.[1]
Die Untereinheiten PA, LF, EF
Beide Milzbrandtoxine sind heterogen aufgebaut: das Letaltoxin (LF+PA), das im Allgemeinen für das infizierte Lebewesen tödlich ist, besteht aus dem Letalfaktor (LF) und dem protektiven Antigen (PA). Das Ödemtoxin (EF+PA), das dessen Wirkung verstärkt, ohne selbst tödlich zu wirken, besteht aus dem Ödemfaktor (EF) (von engl. edema factor) und PA. Alle drei Proteine sind nicht im Hauptgenom von B. anthracis, sondern auf einem der zwei Plasmide codiert.
Regulation und Expression
Protektives Antigen (PA)
Protektives Antigen (PA-63) | ||
---|---|---|
![]() | ||
Oberflächenmodell der Präpore des Milzbrandtoxins (PA-63-Octamer, von zwei Seiten) nach PDB 3HVD | ||
Masse/Länge Primärstruktur | 568 aa | |
Sekundär- bis Quartärstruktur | Homooctamer | |
Kofaktor | Ca++ | |
Präkursor | prepro-PA (764 aa) PA-83 (735 aa) | |
Bezeichner | ||
Gen-Name(n) | pagA | |
Externe IDs | ||
Transporter-Klassifikation | ||
TCDB | 1.C.42 | |
Bezeichnung | BAPA-Familie | |
Vorkommen | ||
Homologie-Familie | Hovergen |


Das protektive Antigen (PA) ist ein Protein, das in einer Länge von 735 Aminosäuren von B. anthracis ausgeschieden wird. In der verkürzten Form (PA-63; 568 Aminosäuren) ist es Bestandteil des Milzbrandtoxins und lagert sich mit sieben weiteren Einheiten PA-63 zur achtteiligen Präpore zusammen. Diese Präpore bindet eine oder mehrere der LF/EF-Untereinheiten, veranlasst durch Bindung an einen Wirtsrezeptor die Einschleusung in eine Wirtszelle mittels Endozytose, und wandelt sich schließlich innerhalb des Endosoms zur ausgewachsenen Pore, welche die Ausschleusung der LF/EF-Untereinheiten aus dem Endosom ins Zellinnere (Zytosol) bewirkt. Diese Transportfunktion von PA-63 ist essenziell für die Pathogenität des Bakteriums.[6]
Die Transportgleichung der Pore lautet:
- LF oder EF (Endosom-Innenraum)
LF oder EF (Zytosol)
Expression, Modifikation, Oligomerisierung
Das auf dem Plasmid pXO1 positionierte pagA-Gen (2294 Basenpaare) codiert für ein 764 Aminosäuren langes Vorläuferprotein, das eine 29 Aminosäuren lange Signalsequenz am Translationsanfang enthält. Das Sec-Transportsystem in der Zellmembran des Bakteriums erkennt diese Signalsequenz und veranlasst daraufhin die Sekretion des noch ungefalteten Proteins, wobei die Signalsequenz abgetrennt wird. Das extrazelluläre Chaperon prsA hilft dem nunmehr 735 Aminosäure langen PA-83 bei der Faltung in die endgültige Form.
Darüber, wo genau im Wirt das PA-83 zum PA-63 gekürzt wird, gibt es widersprüchliche Ergebnisse. In jedem Fall spaltet eine Protease weitere 167 Aminosäuren von PA-83 ab. Erst diese Kürzung legt die Proteindomänen frei, die es den Faktoren LF und EF erlauben, an PA-63 zu binden. Und erst jetzt ist PA-63 in der Lage, sich mit mehreren gleichen Einheiten zu einer ringförmigen Präpore zusammenzulagern. Obwohl noch unklar ist, ob die bevorzugte Form von PA-63 das Heptamer oder Octamer ist, scheint das Octamer bei den Bedingungen, die bei einer Infektion herrschen, stabiler als das Heptamer zu sein. Gleichwohl können beide Formen die Endozytose an Wirtszellen-Rezeptoren veranlassen.[6]
Bindung an Wirtsrezeptoren
Von drei Rezeptorproteinen, die alle auf Wirbeltierzellen vorkommen, ist nachgewiesen, dass sie dem Milzbrandtoxin die Einschleusung in die Zelle erlauben. Es handelt sich um den Milzbrandtoxinrezeptor 1 (ATR, auch: TEM8), der normalerweise Typ-1-Kollagene bindet; den Milzbrandtoxinrezeptor 2 (ATR2, auch: CMG-2), der Laminin und Typ-4-Kollagene als natürliche Liganden hat; und heterodimeres Integrin-β1. Alle diese Rezeptoren enthalten eine so genannte Integrin-I- oder von-Willebrand-A-Domäne, deren Aminosäuren ein zweiwertiges Metall-Ion (Ca++, Mn++, Mg++) auf der Rezeptoroberfläche komplexieren, und so eine Metallionen-abhängige Klebestelle bilden (MIDAS, von engl. metal-ion dependent adhesion site). Spätestens hier, an den Rezeptor gebunden, zerschneidet eine Protease das PA-83 und oligomerisiert das resultierende PA-63 zur sieben- oder achtteiligen Präpore, was zu einer Anhäufung von ebenso vielen Rezeptoren in der Zellmembran führt. An die Präpore wiederum sind bis zu vier LF- oder EF-Einheiten gebunden. Die Endozytose des Gesamtkomplexes, der nun bis zu 25 Untereinheiten enthält, erfolgt über cholesterinreiche Flecken der Membran, die Lipid Rafts, und wird durch Clathrin unterstützt. Aus den kristallographischen Daten ergeben sich die Abmessungen der Präpore: Durchmesser 160 Å, Höhe 85 Å und ein Innendurchmesser von etwa 35 Å.[6][7][8]
Variationen des Gens CMG-2 bezüglich seiner Expression und seiner Gensequenz, haben sehr große Auswirkungen darauf, wie stark das Toxin wirkt. Die Empfindlichkeit gegenüber dem Toxin (gemessen als mittlere lethale Dosis LD50) kann deshalb je nach genetischer Ausstattung der Zellen um über das 250-fache variieren. [9]
Konfigurationsänderung zur Pore
Translokation von LF und EF
Letalfaktor (LF)
Ödemfaktor (EF)
Evolution
Gegenmittel
Geschichte
Milzbrand war die erste Krankheit, bei der als Ursache die Infektion mit Mikroorganismen zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte. Robert Koch gelang es nicht nur, im Jahr 1876 den Krankheitserreger (Bacillus anthracis) im Labor zu vermehren, er wies außerdem dessen Sporenbildung nach und konnte gesunde Tiere damit krank machen. Dieser erste Nachweis eines Übertragungswegs leitete das so genannte goldene Zeitalter der Mikrobiologie ein.[17] Nur wenige Jahre später entwickelte Louis Pasteur einen Impfstoff für Schafe, nachdem er zuvor mit Geflügelcholera-Bakterien (Pasteurella multocida) das Prinzip der Abschwächung der Virulenz (Attenuierung) durch Kultur bei erhöhter Temperatur demonstriert hatte. Die historischen Feldversuche fanden 1881 in Pouilly-le-Fort statt.[18][19]
In ihrer Rückschau berichten Moayeri und Leppla über die bemerkenswerte Menge und Qualität der Veröffentlichungen über Milzbrandtoxin in den Jahren 1953 bis 1968, im Gegensatz zum fast völligen Fehlen derselben zwischen 1969 und den frühen 1980er Jahren. Im Jahr 1954 zeigten Smith und Keppie erstmals, dass das Blutserum infizierter und spät mit Antibiotika behandelter Meerschweinchen Toxine enthält. In den Jahren bis 1962 entwickelten Smith, Stanley und Thorne die Methoden zur Isolation und Reinigung der Untereinheiten LF, EF und PA. Als klar wurde, dass das Ödemtoxin nicht tödlich ist, konzentrierte man sich ausschließlich auf die Untersuchung des Letaltoxin. Die Entdeckung von Beall und anderen im Jahr 1962, dass ein spezieller Laborratten-Stamm, die so genannte Fischer-Ratte hochsensibel auf das Toxin reagiert, wird auch heute noch zur Messung der Reinheit einer Toxinpräparation benutzt. Die Arbeiten dieser Zeit wurden ausschließlich in Großbritannien und den USA durchgeführt.[12][20][21]
Einzelnachweise
- ↑ a b David P. Clark, Nanette J. Pazdernik: Molekulare Biotechnologie: Grundlagen und Anwendungen. Springer, 2009, ISBN 3-8274-2128-4, S. 563 ff.
- ↑ InterPro: IPR014781 Anthrax toxin, lethal/endema factor, N-/C-terminal (englisch)
- ↑ G. van der Goot, J. A. Young: Receptors of anthrax toxin and cell entry. In: Molecular aspects of medicine. Band 30, Nummer 6, Dezember 2009, S. 406–412, ISSN 1872-9452. doi:10.1016/j.mam.2009.08.007. PMID 19732789. PMC 2783407 (freier Volltext). (Review).
- ↑ R. J. Collier: Membrane translocation by anthrax toxin. In: Molecular aspects of medicine. Band 30, Nummer 6, Dezember 2009, S. 413–422, ISSN 1872-9452. doi:10.1016/j.mam.2009.06.003. PMID 19563824. PMC 2783560 (freier Volltext). (Review).
- ↑ R. T. Okinaka, K. Cloud u.a.: Sequence and organization of pXO1, the large Bacillus anthracis plasmid harboring the anthrax toxin genes. In: Journal of bacteriology. Band 181, Nummer 20, Oktober 1999, S. 6509–6515, ISSN 0021-9193. PMID 10515943. PMC 103788 (freier Volltext).
- ↑ a b c J. G. Bann: Anthrax toxin protective antigen–insights into molecular switching from prepore to pore. In: Protein science : a publication of the Protein Society. Band 21, Nummer 1, Januar 2012, S. 1–12. doi:10.1002/pro.752. PMID 22095644.
- ↑ G. van der Goot, J. A. Young: Receptors of anthrax toxin and cell entry. In: Molecular aspects of medicine. Band 30, Nummer 6, Dezember 2009, S. 406–412. doi:10.1016/j.mam.2009.08.007. PMID 19732789. PMC 2783407 (freier Volltext). (Review).
- ↑ R. A. Pimental, K. A. Christensen u.a.: Anthrax toxin complexes: heptameric protective antigen can bind lethal factor and edema factor simultaneously. In: Biochemical and biophysical research communications. Band 322, Nummer 1, September 2004, S. 258–262, ISSN 0006-291X. doi:10.1016/j.bbrc.2004.07.105. PMID 15313199.
- ↑ Human genetic variation altering anthrax toxin sensitivity, Mikhail Martchenkoa, Sophie I. Candillea, Hua Tanga, Stanley N. Cohen, 2011, http://www.pnas.org/content/early/2012/01/30/1121006109
- ↑ T. L. Nguyen: Three-dimensional model of the pore form of anthrax protective antigen. Structure and biological implications. In: Journal of biomolecular structure & dynamics. Band 22, Nummer 3, Dezember 2004, S. 253–265, ISSN 0739-1102. PMID 15473701.
- ↑ R. J. Collier: Membrane translocation by anthrax toxin. In: Molecular aspects of medicine. Band 30, Nummer 6, Dezember 2009, S. 413–422, ISSN 1872-9452. doi:10.1016/j.mam.2009.06.003. PMID 19563824. PMC 2783560 (freier Volltext). (Review).
- ↑ a b c M. Moayeri, S. H. Leppla: Cellular and systemic effects of anthrax lethal toxin and edema toxin. In: Molecular aspects of medicine. Band 30, Nummer 6, Dezember 2009, S. 439–455. doi:10.1016/j.mam.2009.07.003. PMID 19638283. PMC 2784088 (freier Volltext). (Review).
- ↑ A. D. Pannifer, T. Y. Wong u.a.: Crystal structure of the anthrax lethal factor. In: Nature. Band 414, Nummer 6860, November 2001, S. 229–233, ISSN 0028-0836. doi:10.1038/n35101998. PMID 11700563.
- ↑ F. J. Maldonado-Arocho, J. A. Fulcher u.a.: Anthrax oedema toxin induces anthrax toxin receptor expression in monocyte-derived cells. In: Molecular microbiology. Band 61, Nummer 2, Juli 2006, S. 324–337, ISSN 0950-382X. doi:10.1111/j.1365-2958.2006.05232.x. PMID 16856939.
- ↑ R. J. Cybulski, P. Sanz, A. D. O'Brien: Anthrax vaccination strategies. In: Molecular aspects of medicine. Band 30, Nummer 6, Dezember 2009, S. 490–502, ISSN 1872-9452. doi:10.1016/j.mam.2009.08.006. PMID 19729034. PMC 2783700 (freier Volltext). (Review).
- ↑ M. Forino, S. Johnson u.a.: Efficient synthetic inhibitors of anthrax lethal factor. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America. Band 102, Nummer 27, Juli 2005, S. 9499–9504, ISSN 0027-8424. doi:10.1073/pnas.0502733102. PMID 15983377. PMC 1160517 (freier Volltext).
- ↑ Koch, R (1876): Untersuchungen über Bakterien: V. Die Ätiologie der Milzbrand-Krankheit, begründet auf die Entwicklungsgeschichte des Bacillus anthracis. (PDF). Beitrage zur Biologie der Pflanzen 2 (2): 277–310. Cohns
- ↑ L. Pasteur, Chamberland und Roux: De l'attenuation des virus et de leur retour à la virulence. In: Comptes rendus 92(1881), 492
- ↑ P. Mikesell, B.E. Ivins u.a.: Plasmids, Pasteur, and Anthrax.(PDF) In: ASM News 49(1983), 320
- ↑ H. Smith, J. Keppie: Observations on experimental anthrax; demonstration of a specific lethal factor produced in vivo by Bacillus anthracis. In: Nature. Band 173, Nummer 4410, Mai 1954, S. 869–870. PMID 13165673.
- ↑ F. A. Beall, M. J. Taylor, C. B. Thorne: Rapid lethal effect in rats of a third component found upon fractionating the toxin of Bacillus anthracis. In: Journal of bacteriology. Band 83, Juni 1962, S. 1274–1280. PMID 13866126. PMC 279445 (freier Volltext).
Weblinks
- D. Goodsell: PDB Molecule of the Month 101: Anthrax Toxin