Föderalismus in der Schweiz

Überblick über den Föderalismus in der Schweiz
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In der Schweiz sind Föderalismus und Subsidiarität Grundprinzipien des Bundesstaates seit seiner Gründung 1848.

Hauptgedanke ist, wenn möglich Verantwortung an "lokale" Strukturen zu übertragen, wo die Nähe zu den Betroffenen grösser ist: vom Bund an die Kantone, von den Kantonen an die Gemeinden. Aufgaben, welche die kleinen Strukturen überfordern würden oder zu Interessenskonflikten führen könnten, werden an die nächstsgrössere Struktur weitergegeben (vielfach die Bundesverwaltung). Das führt im Idealfall zu Gesetzen und Regelungen, die auf lokale Bedürfnisse zugeschnitten sind, und zu gesunder Konkurrenz zwischen Kantonen und Gemeinden (z.B. um wirtschaftliche Standortvorteile). Andererseits erhöht sich der Verwaltungsaufwand teilweise beträchtlich und bei Wohnortwecheln kann es Schwierigkeiten geben (z.B. Wechsel des kantonal geregelten Schulsystem).

Der diesem Prinzip zugrundeliegende Artikel der Bundesverfassung lautet:

Art. 3 Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.

Der schweizerische Föderalismus ist Ausdruck eines liberalen Staatsbegriffs ("schlanker Staat"). (Allerdings ist ein Staat mit 26 Kantonen und ihren Regierungen und Verwaltungen keineswegs "schlanker" als ein zentralisierterer Staat.) Seit Jahrzehnten sind Zentralisierungtendenzen zu beobachten, die mit dem Hinweis auf unnötige Doppelspurigkeiten und Verwaltungsaufwand dahin zielen, die kantonalen Kompetenzen zu beschneiden.

Aufgabenteilung

Der Bund darf also nur Aufgaben übernehmen, die ihm ausdrücklich in der Bundesverfassung übertragen sind – alle anderen staatlichen Aufgaben werden von den Kantonen geregelt (und in deren Kantonsverfassungen teilweise an die Gemeinden delegiert). Da für Verfassungsänderungen auch das Ständemehr nötig ist, können den Kantonen nur Kompetenzen entzogen oder zusätzlich übertragen werden, wenn nebst der Mehrheit der Stimmbürger auch die Mehrheit der Kantone zustimmt.

Der Bund ist zuständig für die Gesetzgebung für:

  • Zivil- und Strafrecht
  • Aussenpolitik, Aussenwirtschaft
  • Krankenversicherung und andere Sozialversicherungen
  • Geldwesen
  • Mehrwehrtsteuer und Zölle
  • Messwesen
  • Einsatz der Armee.

Teilweise in der Kompetenz der Kantone liegen

  • Kultur
  • Schulwesen
  • direkte Steuern
  • Gerichtswesen
  • Natur- und Heimatschutz
  • Strafvollzug

Die Kantone bestimmen ihre Amtssprache(n) und regeln das Verhältnis von Kirchen und Staat.

Viele Aufgaben sind geteilt – der Bund stellt allgemeine Regeln auf, die Kantone kümmern sich um die Ausgestaltung

Eine weitere Variante sind die Konkordate zwischen den Kantonen: mehrere (oder sogar alle) Kantone einigen sich unabhängig vom Bund darauf, gewisse Aufgaben aus ihrer Zuständigkeit (Fachhochschulen, Strafvollzug, Lehrerausbildung) gemeinsam zu lösen.

Mitsprache bei der Regierung

Die Beteiligung der Kantone bei der Bundesregierung und im Bundesparlament geschieht im Wesentlichen auf fünf Arten:

  • Bei einer Vernehmlassung werden alle betroffenen Kantone um Stellungnahme gebeten und können so ihre Ansicht einfliessen lassen, bevor das Gesetz überhaupt formuliert wird.
  • Die kleine Kammer des Parlaments, der Ständerat ist "Vertretung der Kantone": Jeder Kanton stellt zwei Ständeräte (Halbkantone einen), die gewöhnlich in Majorzwahl vom Volk gewählt werden. Alle Bundesbeschlüsse benötigen die Zustimmung von Ständerat und Nationalrat.
  • Verfassungsänderungen, über die das Volk obligatorisch abstimmt, benötigen nicht nur ein Volksmehr, sondern auch das Ständemehr (in der Mehrheit der Kantone muss die Mehrheit zustimmen).
  • Die einzelnen Kantonsregierungen versuchen, direkt die Bundesregierung und die Parlamentarier zu beeinflussen ("Lobbying").
  • Die Kantone schliessen sich in verschiedenen "Konferenzen" zusammen (z.B. Erziehungsdirektorenkonferenz, Gesundheitsdirektorenkonferenz), welche auch mit der Bundesregierung verhandeln.

Vor- und Nachteile des Schweizer Föderalismus

Kein anderes Land in Europa oder Nordamerika weist eine derart ausgeprägt fragmentierte politische Unterteilung auf wie die Schweiz, insbesondere wenn man auch noch die im internationalen Vergleich relativ grosse Autonomie der Schweizer Kantone berücksichtigt. Die prinzipiellen Vor- und Nachteile des Föderalismus werden durch diese ausgeprägte Feingliedrigkeit verstärkt.

Die Frage, ob der Föderalismus der Schweiz mehr Vor- oder Nachteile bringt, führt fast zwangsläufig zu ideologischen Diskussionen, da direkte Vergleichmöglichkeiten fehlen. Es stellen sich unter anderem folgende Fragen:

  • Wie kann eine möglichst gute Identifikation möglichst vieler Menschen mit dem Staat erreicht werden?
  • Soll sich die Bevoelkerung mit ihrem Kanton oder mit dem Bundesstaat identifizieren?
  • Kann ein Staat - und erst noch ein Kleinstaat - genug handlungsfaehig sein, wenn er intern auf 26 kantonale Einzelinteressen Ruecksicht nehmen muss?
  • Welches Gewicht verdienen Minderheiten?
  • Was ist kostengünstiger: Eine grosse (schwerfällige) Verwaltung oder viele kleine (schlanke) Verwaltungen? Mehrfachspurigkeiten oder einheitliche Regelungen?
  • Welcher Einfluss besteht auf die Wirtschaftsentwicklung?
  • Welcher Einfluss besteht auf die persönliche Mobilität?
  • Ist Standort-Wettbewerb nützlich oder schädlich?
  • Wie lässt sich der Staat besser an veränderte Umgebungsbedingungen anpassen: Durch grosse konzertierte Reformen nach langen Entscheidungswegen oder durch unkomplizierte und bürgernahe kleine Korrekturen?

Mögliche Antworten:

  • Angesichts der Vielfalt von Kulturen, die sich nicht nur bezüglich Sprache, sondern auch bezüglich Stadt/Land und katholisch/reformiert unterscheiden, wäre es bei vielen staatlichen Aufgaben kaum möglich, eine Mehrheit für einen gemeinsamen Nenner zu finden.
  • Dadurch, dass einige Aufgaben der Kantonshoheit unterstehen, ist manchmal die Lösung für viel mehr Leute befriedigend, als das mit einer Einheitsregelung möglich wäre.
  • Minderheiten fühlen sich weniger durch den Staat übergangen oder in ihren Interessen verletzt. Andererseits können sich Bewohner eines Kantons benachteiligt und ungleich behandelt fühlen, wenn sie nicht die gleichen Errungenschaften und Möglichkeiten wie die Bürger eines Nachbarkantons haben.
  • Viele Aufgaben des Staates werden näher beim Bürger gelöst, was die Staatsverdrossenheit vermindert, aber auch den Filz foerdert.
  • Der schweizerische Föderalismus ist kostspielig: 26 Regierungen, öffentliche Verwaltungen, rechtliche Regelungen usw. Dies bewirkt nicht nur erhöhte Kosten für den Staat, sondern auch für die Wirtschaft. In der Schweiz existiert wegen der teilweise hohen Autonomie der Kantone und Unterschieden bei kantonalen Gesetzen nicht einmal ein freier Binnenmarkt. Dies dürfte auch einer der Faktoren für das im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern überaus geringe Wirtschaftswachstum der Schweiz sein. Während in der Europäischen Union sogar auf supranationaler Ebene immer mehr ein freier Binnenmarkt gewährleistet wird, existiert dieser in der Schweiz teilweise nicht einmal auf suprakantonaler (das heisst schweizweiter) Ebene.
    Es entstehen kostpielige und unnötige Mehrfachspurigkeiten in der kantonalen Verwaltung. Für eine teilweise sehr geringe Bevölkerungsanzahl (im Extremfall 15.000 Einwohner im Kanton Appenzell Innerrhoden) muss eine eigenständige kantonale Verwaltung gewährleistet und finanziert werden. Dies führt dazu, dass die öffentliche Verwaltung oft zu klein und zu wenig spezialisiert ist und auch wenig Ressourcen für effizient (weil grossräumig) durchgeführte Reformen der kantonalen Verwaltung aufbringen kann. Erst in jüngster Zeit wächst die Bereitschaft, bestimmte Aufgaben der öffentlichen Verwaltung insbesondere in neuen Aufgabenbereichen nicht mehr von einzelnen Kantonen im Alleingang, sondern von mehreren Kantonen gemeinsam zu erbringen. Damit werden auf eine pragmatische, aber dennoch im Vergleich zu einer vollständigen kantonalen Fusion umständlichen, langsamen und im Umfang begrenzten Weise kantonale Fusionen Schritt für Schritt vorweggenommen.
    Insbesondere angesichts der anhaltenden Wachstumsprobleme der Schweiz, den weltweit immer grossräumiger werdenden politischen und insbesondere wirtschaftlichen Stukturen (beispielsweise der Integrationsprozess in Europa, die Globalisierung, die Reduktion von Zöllen und die wirtschaftliche Liberalisierung weltweit) wächst auch in der Schweiz der Druck nach einer Reform der anachronistischen föderalen Struktur der Schweiz.
  • Ein weiterer Nachteil der föderalen Strukturen schweizerischer Ausprägung mit teilweise sehr kleinen Kantonen besteht in der Tatsache, dass die politische Mitbestimmungsmöglichkeit einer stimm- und wahlberechtigten Person in einem sehr kleinen Kanton (beispielswiese Appenzell-Innerrhoden) erheblich grösser ist als die politische Mitbestimmungsmöglichkeit einer stimm- und wahlberechtigten Person in einem der grossen Kantone (beispielsweise dem Kanton Zürich) und zwar gerade auch auf Bundesebene (auf kantonaler Ebene ist dies ohnehin logisch, da der Kanton kleiner ist). Dies gilt insbesondere für sehr kleine Halbkantone wie im Extremfall den Kanton Appenzell Innerrhoden, weil diese einen Ständerat und sogar zusätzlich noch einen Nationalrat in das Bundesparlament entsenden können.
    Aber auch die Einwohner von kleinen "Vollkantonen" (welche jeweils zwei Ständeräte stellen) wie Glarus oder Uri haben sehr grosse politische Mitbestimmungsmöglichkeiten, zumal diese sogar zwei Ständeräte nach Bern entsenden können, während grosse Kantone wie beispielsweise der Kanton Zürich ebenfalls nur zwei Ständeräte nach Bern delegieren können.
    Dies steht im krassen Gegensatz beispielsweise zu Deutschland, wo die kleinen Bundesländer im Bundesrat zwar ebenfalls in Bezug auf ihre Bevölkerungsgrösse mehr Stimmgewicht haben als die grossen Bundesländer, aber dennoch absolut gesehen weniger Stimmen haben als die grossen Bundesländer. Dies führt bei den föderalen politischen Mitbestimmungsmöglichkeiten im Gegensatz zur Schweiz zu wesentlich geringeren Unterschieden zwischen bevölkerungsreichen und bevölkerungsarmen Bundesländern. In den USA beispielsweise haben zwar ebenfalls bevölkerungsmässig sehr kleine US-Bundesstaaten (wie beispielsweise Wyoming, Vermont siehe dazu Liste der US-Bundesstaaten, geordnet nach Einwohnerzahl) jeweils zwei Senatoren. Dort wird aber die grosse Zahl bevölkerungsarmer ländlicher US-Bundesstaaten wie Wyoming, Alaska, North Dakota, South Dakota, Montana usw., welche sich teilweise in der Politik von den liberalen Küstenstaaten unterscheiden, durch die kleineren und zumeist liberaleren Staaten von Neuengland (Vermont, Delaware, Rhode Island) fast ausgeglichen. In der Schweiz ist dies genau nicht der Fall, weil alle diese Staaten in ländlichen und zugleich gebirgigen Regionen liegen ohne entsprechendes politisches Gegengewicht aus urbanen Regionen (der Kanton Basel-Stadt ist beispielsweise nur ein Halbkanton). Dies führt in der an sich schon im gesamteuropäischen Vergleich politisch eher konservativen Schweiz zu einer noch konservativeren Politik.
    Reformen sind wegen den zahlreichen Mitsprachemöglichkeiten der Kantone schwerer durchführbar.
  • Es gibt für 7,5 Millionen Einwohner sechsundzwanzig Schulsysteme. Jeder Kanton kann die eingesetzten Schulbücher und seine Lehrerausbildung wählen. In der Praxis ist die Vielfalt jedoch nicht so gross, da sich die Kantone absprechen und auch Lehrmittel aus anderen Kantonen einsetzen. Ein Mittel zur Koordination ist die Erziehungsdirektorenkonferenz.
    Die Tatsache, dass sich die Lehrpläne und Schulsysteme von Kanton zu Kanton unterscheiden, ist ein Hinweis auf die unterschiedlichen Bedürfnisse. So wird in der Deutschschweiz als erste Fremdsprache meistens Französisch gelehrt, während in Graubünden sogar von Tal zu Tal verschiedene Sprachen (romanisch, deutsch, italienisch) sinnvoller sein können.
    Die unterschiedlichen Schulsysteme können beim Umzug über Kantonsgrenzen hinaus bedeuten, dass die Kinden ein Jahr "verlieren".
    Im übrigen gilt auch hier: Vielfalt heisst Wettbewerb (ob gut oder schlecht).
  • Ebenso gibt es 26 Gesundheitssysteme (siehe Gesundheitswesen Schweiz). Die Krankenkassenprämien variieren stark von Kanton zu Kanton. Zum Beispiel werden in der Ostschweiz tendentiell massiv weniger Leistungen in Anspruch genommen als in der Westschweiz, was sich in den Krankenkassenprämien niederschlägt. Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) von 1996, das eine schweizweite Vereinheitlichung der Leistungen brachte, hat in den "günstigen" Kantonen zu massiven Prämenerhöhungen geführt und nicht die erwartete Kostensenkung eingeleitet.
  • Zwischen den einzelnen Kantonen herrschen Unterschiede in der Besteuerung. Einerseits ist dies Teil des Standortwettbewerbs zwischen den Kantonen. Zum Teil sind hohe Steuern aber auch durch besonders hohe Ausgaben bedingt (z.B. hohe Strassenunterhaltskosten in Berggebieten oder Zentrumlasten in Städten). Um unveränderliche Standortnachteile teilweise auszugleichen, wurde der kantonale Finanzausgleich geschaffen, der auf einer Umverteilung von "reichen" zu "armen" Kantonen beruht. Der Finanzausgleich ist nicht unumstritten, da er sparsame Kantone bestraft und verschwenderische Kantone belohnt (dieser Mechanismus soll mit dem Neuen Finanzausgleich [NFA], der 2004 an der Urne angenommen wurde, entschärft werden).
  • Die historisch gewachsenen, teilweise aus dem Mittelalter stammenden, Kantonsgrenzen entsprechen mancherorts den topographischen, verkehrsmässigen, sprachlichen, administrativen, wirtschaftlichen, schulischen usw. Gegebenheiten nicht mehr.
    Wo sich die historisch bedingten Kantongenzen als unzweckmässig erwiesen haben, ist es aber durch eidgenössische Abstimmungen auch schon zu Anpassungen der Grenzführung gekommen (z.B. Jura, Laufental). Das System ist also manchmal durchaus flexibel.

Im Strafvollzug kann der Föderalismus für Bürger verwirrend sein. So können bestimmte Handlungen in einigen Kantonen als Straftat gelten, während es in anderen Kantonen legal und alltäglich sein kann.

Siehe auch: Schweizer Kantone, Politisches System der Schweiz, Geschichte der Schweiz, Föderalismus, Schweiz