Erster Mai in Kreuzberg
Der Erste Mai in Kreuzberg bezeichnet in der Öffentlichkeit allgemein die jährlichen Ausschreitungen in Berlin-Kreuzberg am Tag der Arbeit.
Speziell bezieht sich der Begriff auch auf den 1. Mai 1987, als Kreuzberg Schauplatz bisher ungekannter schwerer Krawalle wurde, und sich die Polizei für mehrere Stunden ganz aus SO 36 zurück ziehen musste.
Seitdem wurde der Erste Mai in Kreuzberg zu einem ritualisierten Dauerproblem in diesem Teil Kreuzbergs.
Chronologie
Es folgt eine Chronologie des Ersten Mai in Kreuzberg nach Jahren
Vorgeschichte
Schon früher war Kreuzberg für Straßenschlachten zwischen (meist) Hausbesetzern und der Polizei bekannt. Es entwickelten sich die Autonomenszene und die häufig unpolitische Punkszene. Am Tag der Arbeit, welcher auch als weltweiter Kampftag der Arbeiterklasse bezeichnet wird, fand traditionell auf dem Lausitzer Platz ein jährliches Straßenfest der linken Szene statt. Auch in den Jahren vor 1987 kam es hier am Rande zu kleineren Ausschreitungen, Demonstrationen, usw, so zum Beispiel 1985. Diese waren für damalige Kreuzberger Verhältnisse aber eher normal und wurden von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.
Die große Erste-Mai-Demonstration in Westberlin war aber immer traditionell Demonstration, welche vom DGB organisiert wurden, und mit einer Kundgebung vor dem Reichstagsgebäude endeten. Diese Demonstrationen verliefen nahezu immer ohne Zwischenfälle.
1987
Der Erste Mai 1987 in Kreuzberg ist ein historisches Datum, welches bis in die internationale Presse hinein große Wellen schlug und die Aufmerksamkeit einer großen Öffentlichkeit auf den Bezirk (und hier besonders Kreuzberg 36) auf sich zog. Seitdem wird Kreuzberg oft als Synonym für die Ereignisse dieses Tages und den daraus entstandenen Mythos gesehen, der in ritualisierter Form bis heute fortlebt und in seiner Spontaneität dennoch berechenbar ist.
Vorgeschichte des 1. Mai 1987
In der linken Szene Berlins gab es 1987 eine beherrschende Kamapgne, den Volkszählungsboykott (VoBo), also die Mobilisierung zum massenweisen Boykott der Volkszählung. Zentrum dieses Widerstandes und der linken Szene allgemein war der Mehringhof (in Kreuzberg 61). Dort befand sich das VoBo-Büro. Am 1. Mai wurde dieses Büro um 4:45 Uhr von der Polizei aufgebrochen und durchsucht. Auch weitere Räumlichkeiten des Mehringhofs wurden aufgebrochen. Als Begründung wurde Gefahr im Verzug vorgebracht.
In SO 36 gab es zu der Zeit zusätzlich eine Auseinandersetzung um den alternativen Kinderbauernhof nahe der Berliner Mauer in der Waldemarstraße. Dieser war damals vom Berliner Senat in seiner Existenz bedroht, was den Widerstand der dort engagierten Menschen hervorrief. Auch dies war ein Projekt der linken Szene.
Es wurde geplant, am 1. Mai vom Straßenfest auf dem Lausitzer Platz eine Spontandemo zum Kinderbauernhof zu formieren. Diese fand auch wie geplant statt mit ungeahnten Folgen.
Das Straßenfest
Das traditionelle Straßenfest war an diesem sonnigen Tag völlig friedlich. Angehörige der linken Szene waren aber wütend über die Durchsuchung des VoBo-Büros und die Demonstration zum Kinderbauernhof war auch noch geplant (das war und ist nicht allgemein bekannt).
Gegen 16 Uhr kippte die Situation durch einen unerwarteten Anlass. Die Polizei (welche erstens nicht auf die folgenden Ereignisse vorbereitet war, und sich zweitens völlig im Hintergrund hielt) schickte nach dem Anruf eines Anwohners des Lausitzer Platzes einen Streifenwagen (einen VW-Bus) zu ebendiesem Anrufer, der sich über den Lärm beschwert hatte, den dieses Straßenfest verursachte. Es war zwar angemeldet und auch bekannt, dass dort Bands auf einer Bühne auftreten, aber die Polizei kam ihrer Aufgabe nach, die Beschwerde entgegen zu nehmen.
Die beiden Beamten parkten ihren Wagen direkt am Lausitzer Platz (Ecke Skalitzer Straße) und gingen zu diesem Anwohner ins Haus. Als sie zurückkehrten, lag der Wagen auf der Seite. Einige Autonome hatten ihn umgeworfen. Dies gilt allgemein als der Auftakt des folgenden Ablaufs, aber es trat erst eine Verzögerung ein. Die Polzei reagierte zunächst nicht direkt auf diese Tat, sondern fuhr in den Seitenstraßen mit Verstärkung auf, was aber von den Festbesuchern nicht wahrgenommen wurde.
Einige Zeit später formierte sich an der Ecke Lausitzer Platz / Waldemarstraße die Demonstration zum Kinderbauernhof. Die Atmosphäre war durch die Ereignisse des Morgens und durch die Aktion mit dem umgeworfenen Polizeiauto zusätzlich diffus. Viele Festbesucher wussten nicht, worum es geht, sondern sahen darin nun den Übergang zu einer allgemeinen Straßenschlacht.
Der Demonstrationszug war gerade losmarschiert, als an der nächsten Ecke ein überraschter Mannschaftswagen der Polizei heranfuhr. Dieser wurde sofort mit Pflastersteinen beworfen, und zog sich eilig zurück.
Auf dem Straßenfest bauten die ersten Standbetreiber bereits Barrikaden aus ihren Ständen. Das war der Auftakt zu etwas, was Westberlin in der Nachkriegszeit in der Form und dieser Gewalt noch nicht erlebt hat.
Der Aufstand
Die folgenden Ereignisse als Ausschreitungen zu klassifizieren, wäre stark untertrieben. Es ist umstritten, ob es sich hierbei um Unruhen oder aber einen Aufstand gehandelt habe. Durch die historische, räumliche und bevölkerungsmäßige Dimension ist Aufstand nicht übertrieben (und wurde in den Medien damals auch durchaus so gesehen: bürgerkriegsähnliche Szenen). Das einzige was als Kriterium hierfür fehlte, war der Einsatz von Schusswaffen auf beiden Seiten. Ansonsten wurden die Auseinandersetzungen auf beiden Seiten mit ungewöhnlicher Härte geführt, wobei sich breite Kreise der Bevölkerung von SO 36 und anderen Bezirken beteiligten.
Die Situation war durch den Rückzug der Polizei und völlig unerwarteten Barrikadenbau auf dem Straßenfest außer Kontrolle. Hilflos musste die Polizei den Ortsteil SO 36 für mehrere Stunden (ungefähr 6 Stunden) sich selbst überlassen. Ein beispielloser Gewaltexzess entlud sich an zahllosen Geschäften, die geplündert wurden. An jeder Straßenecke wurden brennende Barrikaden errichtet.
Um die Situation einzudämmen, beschloss der Senat, zumindest den BVG-Verkehr nach 36 einzustellen, damit kein Nachschub mehr ins aufständische Gebiet gelangt. Gleichzeitig gab es weiträumige Straßensperren. Dennoch konnten den ganzen Abend weitere Westberiner nach Kreuzberg gelangen, denn die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer und zog auch viele unbeteiligte Beobachter an.