Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union

2005 aufgenommene EU-Beitrittsverhandlungen
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Seit dem 3. Oktober 2005 laufen die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union. Obwohl alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, allen bisherigen Stadien des Beitrittsprozesses zugestimmt haben, ist ein Beitritt der Türkei umstritten. Ein möglicher EU-Beitritt ist bereits seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in der politischen Diskussion. Neben den Befürwortern (zum Beispiel der deutschen Bundesregierung) gibt es auch Regierungen, die einen türkischen EU-Beitritt skeptisch sehen (insbesondere Österreich). Gerade für Deutschland ist diese Frage auch innenpolitisch zu betrachten, da in den Wirtschaftswunderjahren nach 1950 viele Gastarbeiter aus der Türkei ins Land gekommen sind. Auch die USA haben den Staaten der EU eine Aufnahme der Türkei mehrmals nahegelegt, weil sie einen geostrategischen Vorteil für die westliche Welt durch die Integration der Türkei in die EU sehen.

Verlauf der zukünftigen Beitrittsverhandlungen

Nach dem Beschluss des Rates der EU-Regierungen zur Aufnahme von Verhandlungen, wurde formal das Mandat an die Kommission übertragen, die die Verhandlungen führt. In den kommenden Jahren reisen EU-Beamte regelmäßig in die Türkei, um die Fortschritte bei der Anpassung der politischen, ökonomischen und rechtlichen Standards an das EU-Regelwerk zu überprüfen. Die Türkei muss also in den nächsten Jahren den kompletten rechtlichen Besitzstand der EU übernehmen. Das Regelwerk umfasst 35 Kapiteln, darin sind alle Rechtsakte (Europäisches Recht) wie z.B. Verträge der Europäischen Union, die Verordnungen und Richtlinien enthalten (Siehe auch: Acquis communautaire).

Die Ergebnisse dieses Monitorings fließen in einen Bericht über den Stand der Reformen ein, den die Kommission jeweils im Herbst veröffentlicht. Die Kommission stellt schließlich fest, ob und wann die rund 35 Beitrittskapitel abgeschlossen sind. Nach Anhörung der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlamentes erklärt der Rat der EU-Regierungen die Beitrittsverhandlungen für abgeschlossen und setzt ein Datum für den formalen Beitritt fest.

Als „Notbremse“ wird der Brüsseler Gipfelbeschluss eine Ausstiegsklausel enthalten: Wenn ein Drittel der EU-Mitgliedsstaaten es fordert oder wenn der Reformprozess in der Türkei in den Kernbereichen Menschenrechte, Minderheitenschutz und Meinungsfreiheit ins Stocken gerät, können die Verhandlungen ausgesetzt werden.

Zweite Hürde ist die Ratifizierung des Beitrittsvertrages in allen EU-Mitgliedsländern, per Parlamentsentscheid oder Referendum: Scheitert sie in nur einem Land, findet der Beitritt nicht statt. Als dritte Hürde wurde im Streit mit Österreich, im Rahmentext der Beitrittsverhandlung am 3. Oktober 2005 festgelegt, das auch die wirtschaftliche und politische Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union am Ende der Verhandlungen eine Rolle spielt.

Geschichte und jüngere Entwicklungen

Bereits 1959 bewarb sich die Türkei um eine Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). 1963 wurde zwischen der Türkei und der EWG ein Assoziationsabkommen geschlossen. Im Rahmen dieses Vertrags stellte die EWG der Türkei eine Mitgliedschaft nach 17 Jahren in Aussicht. Dieser Status wurde jedoch nach dem Putsch des Generals Kenan Evren am 12. September 1980 eingefroren.

Am 1. Januar 1996 wurde zum ersten mal zwischen der EU und einem Nichtmitglied der EU die Zollunion eingeführt. Ab diesem Datum gilt in der Türkei das europäische Wirtschaftsrecht, dem Ankara die eigenen Handelsbeziehungen mit Nicht-EU-Ländern – "Drittländern" – anzupassen hat. Da die Türkei kein Mitspracherecht in Brüssel hat – auch dann nicht, wenn es um Wirtschafts- und Handelsfragen geht – sieht sich die Türkei bei diesem Abkommen als stark benachteiligt. "Die Türkei" so formuliert eine Untersuchung der Ebenhausener "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP), gibt "Teile ihrer nationalen Souveränität" ab, "ohne gleichzeitig wirklich Einfluss auf den multinationalen Entscheidungsprozess zu haben". Durch den Wegfall der Einfuhrabgaben auf EU-Importe (aktuell bei 45 Milliarden Euro) gehen dem türkischen Fiskus rund ein Sechstel der Einnahmen verloren. Diverse Untersuchungen wie die der ATO (Türkische Industrie und Handelskammer in Ankara) beziffern den durch die Zollunion entstandenen wirtschaftlichen Schaden für die Türkei auf bis zu 80 Milliarden Dollar.

Nachdem die damalige EG 1989 einen Antrag der Türkei auf Vollmitgliedschaft abgelehnt hatte, wurde auf dem EU-Gipfel in Luxemburg 1997 entschieden, dass die Türkei für einen Beitritt in Frage käme. Im selben Jahr wurden die Gespräche mit der EU von der türkischen Regierung zeitweilig abgebrochen. Am 11. Dezember 1999 erhielt die Türkei offiziell den Status als Beitrittskandidaten zuerkannt. Auf dem Gipfel von Kopenhagen 2002 beschloss die EU, im Dezember 2004 über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu entscheiden, wenn die Türkei die Kopenhagener Kriterien erfülle.

Ein wichtiger Grund für diesen Sinneswandel der EU war der Beginn umfassender Reformen in der Türkei. Im Zuge der Beitrittsbemühungen vollführte die Türkei umfassende Reformen im Zivilrecht und stärkte die Menschen- und Freiheitsrechte (z.B. Versammlungs- und Demonstrationsrecht). Schon unter Ecevit (1999-2001) wurde eine Zivilrechtsreform durchgeführt, die vor allem die rechtliche Stellung der Frau verbesserte.

Die neue Regierung unter der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung legte 2001 bei ihrem Amtsantritt ein Paket von Gesetzesänderungen vor, das u.a. die Abschaffung der Todesstrafe auch in Kriegszeiten, ein Verbot der Folter, das Ende der Straffreiheit für Polizisten, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit und Maßnahmen gegen die Unterdrückung der kurdischen Minderheit ebenso vorsieht wie den freien Gebrauch der kurdischen Sprache, Kurdischunterricht und kurdische Radio- und Fernsehkanäle.

Obwohl diese gesetzlichen Grundlagen geschaffen wurden, gibt es Probleme bei deren praktischer Umsetzung. Sie scheitert derzeit auch an den staatlichen Behörden und ihren Mitarbeitern. Zwar erteilte die Regulationsbehörde für Fernseh- und Radiosender (RTÜK) am 18. August 2004 drei Privatsendern im Südosten der Türkei die Lizenz, in kurdisch zu senden, auch der staatliche Sender TRT 3 darf Sendungen in Arabisch, Zazaki, Kumanci usw. ausstrahlen, doch ist etwa bei den Regionalsendern ein ungestörter Sendebetrieb kurdischer Radio- und Fernsehstationen auf Grund andauernder staatlicher Interventionen bisher nicht durchgängig möglich. Kurdischkurse sind lediglich für Erwachsene, aber eben nur für diese erlaubt. Auch forderte die Staatsanwaltschaft in Ankara das Verbot der Lehrergewerkschaft Egitim Sen, weil sie in ihrer Satzung die Forderung nach muttersprachlichem Unterricht für Minderheiten stellt. Daher spielen die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zustände in Kurdistan und seinen Randgebieten bei den EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei eine Schlüsselrolle.

Im September 2004 stellte eine Expertengruppe der Europäischen Union fest, dass es in der Türkei heute keine staatlich geduldete systematische Folter mehr gebe, da nur einzelne Personen oder Personengruppen die Folter ausübten. Mit der gleichfalls im September 2004 anstehenden Verabschiedung einer weitgehenden Strafrechtsreform werde die Rechtsstaatlichkeit der Türkei gefestigt. Daraufhin empfahl am 6. Oktober 2004 die EU-Kommission die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen.

Am 17. Dezember 2004 entschieden die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel, dass ab dem 3. Oktober 2005 mit der Türkei Verhandlungen über den EU-Beitritt aufgenommen werden. Voraussetzungen dafür sind jedoch die Fortsetzung der begonnenen Reformen, eine weitere Verbesserung der Menschenrechtssituation und insbesondere die Unterzeichung eines Abkommens über eine Zollunion mit den 10 neuen EU-Mitgliedsstaaten (darunter auch Zypern) noch vor Beginn dieser Verhandlungen.

Problematisch ist weiterhin der Umgang der Türkei mit religiösen Gruppen, die nicht offiziell als Minderheit im Sinne des Lausanner Abkommens von 1923 anerkannt werden (so werden die Griechen, Armenier und Juden anerkannt). Die EU sieht neben den türkischen Christen vor allem die Aleviten (immerhin ca. ein Drittel der Türken) als nicht ausreichend gleichgestellt. So kritisierte die Europäische Kommission in ihrer „Empfehlung zu den Fortschritten der Türkei auf dem Weg zum Beitritt“ vom 4. Oktober 2004 ausdrücklich, dass die Aleviten nach wie vor nicht als muslimische Minderheit anerkannt sind.

Am 29. September 2005 trafen sich die 25 Botschafter der EU-Staaten in Brüssel, um Verhandlungsziele für die Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober festzulegen. Österreich blockierte eine Einigung und fordert als einziges Mitgliedsland, der Türkei neben einer Vollmitgliedschaft auch eine Alternative anzubieten. Auch EVP-Abgeordnete im EU-Parlament fordern eine Alternative zur Vollmitgliedschaft der Türkei. Am 27.September wiederholt der dänische Premier Rasmussen die schon auf früheren EU-Gipfeln geäußerten Bedenken, ob die EU einen Türkei-Beitritt verkraften könne.


Am 3. Oktober 2005 konnten sich alle 25 europäischen Außenminister in Luxemburg auf einen gemeinsamen Rahmentext einigen. Österreich verzichtete auf seine Forderung, der Türkei als Alternative zur Vollmitgliedschaft ein anderes Modell anzubieten, was die Türkei vehement abgelehnt hatte. Letztlich blieb es bei dem Satz: "Gemeinsames Ziel der Verhandlungen ist die Mitgliedschaft". Als Kompromiss wird nun am Ende der Beitrittsverhandlungen, nach 10 bis 15 Jahren, nicht nur geprüft, ob die Türkei die Beitrittskriterien erfüllt, sondern auch ob die Europäische Union deren Aufnahme wirtschaftlich und politisch verkraften kann. Damit sind die Hürden für die Aufnahme so hoch wie noch nie zuvor für einen Kandidaten. Da die Türkei diesen Bedingungen umgehend zustimmte, konnten die Beitrittsverhandlungen wie vorgesehen formell noch am 3 Oktober beginnen. Gleichzeitig wurden jene mit Kroatien wieder aufgenommen.

Geopolitische Aspekte eines Beitritts der Türkei zur EU

Die geopolitische Bedeutung der Türkei ist unzweifelhaft groß (sei es in Zentralasien wie dem Nahen Osten), doch ergibt sich daraus eine schwer kalkulierbare Situation mit positiven wie negativen Aspekten. Während die USA lange Zeit vor allem nur die positiven Seiten sahen, ist Europa derzeit skeptisch.

Ein Beitritt der Türkei würde viele noch zu lösende Konflikte in den Aufgabenbereich der EU-Politik stellen. Die Konflikte in den Nachbarstaaten, auf welche sie derzeit nahezu keinen Einfluss nimmt, könnten im Europäischem Tagesgeschäft eine stärkere Rolle spielen. Dies bringt die notwendige Absicherung der Grenzen vor einem Übergreifen der Krisen in den Europäischen Raum mit sich. Diese Absicherung wird aber jetzt schon über die Mitgliedschaft der Türkei durch die NATO gewährleistet.

Die Mitgliedschaft bringt für die Türkei auf der militärischen Ebene einen Autonomieverlust mit sich. Mit einem von der EU abhängigen Militär wäre es ihr nicht mehr möglich, die regionalen Begebenheiten selbst zu interpretieren und sich beispielsweise autonom für eine Aktivität zu entscheiden oder dagegen. So würde sie Souveränität abgeben müssen. Eine militärisch enger an Europa gebundene Türkei würde evtl. für die USA weiter an Attraktivität gegenüber dem Irak verlieren.

Die EU müsste ihre Interessen neu abwägen und in den Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien eingreifen, in dessen Zuge sie auf Russland Acht geben muss. Damit würde sie jedoch letztendlich auf eine Ebene mit den USA steigen, da ihr Einfluss bis in den Mittleren Osten reichen würde. Dies ist auch der Grund, warum die USA einen Türkeibeitritt befürworten. Sie könnte von den guten Beziehungen zur EU und von deren Lage profitieren, ob im militärischen oder im energiepolitischen Sinne.

Der Einfluss, den ein Türkeibeitritt auf die Energiepolitik der EU nehmen könnte, ist nicht ermessbar. Die Energieprobleme in Europa, z.B. in Italien oder Griechenland, ließen sich leichter lösen. Gelder aus dem Strukturfonds der EU könnten die Infrastruktur der Pipelines verbessern und Unternehmen aus dem ganzen Kontinent könnten dort investieren. Der enorme Wasservorrat der Türkei wäre bedeutend für die Union. Allerdings käme hier wiederum ein Konflikt ins Spiel, mit dem Irak und Syrien müsste über eine Lösung des Euphrat-Tigris-Streitpunktes verhandelt werden. Der Bau von Staudämmen im Rahmen des Südostanatolien-Projekts führt auf Seiten von Syrien zu der Befürchtung, dass die Türkei eines Tages das Wasser als Waffe einsetzen könnte.

Argumentation

Pro: Argumente für den türkischen Beitritt

Die Europäische Union sei in erster Linie eine Wertegemeinschaft und nicht eine Gemeinschaft, die sich auf den christlichen Glauben bezieht. Demnach spiele für die Aufnahme der Türkei einzig und allein die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien eine Rolle. Somit könne der islamische Glaube kein Ablehnungskriterium gegen den Beitritt sein, falls die Werte, die in den Kopenhagener Kriterien festgeschrieben sind, in der Türkei rechtlich und gesellschaftlich umgesetzt würden.

Zudem habe die Türkei im Gegensatz zu vielen "islamischen" Staaten eine längere Tradition der Westorientierung. Sie habe schon im Osmanischem Reich angefangen und sich verstärkt durch die Reformen in der Zeit der Republiksgründung durch Atatürk fortgesetzt. Seit 2001 führe die Türkei weitere gesetzliche Reformen durch, um den europäischen Normen gerecht zu werden.

An die Türkei bestünden seit 40 Jahren politische Zusagen für die Aufnahme in die EU. Diese Zusagen seien 1999 und 2002 erneuert worden. Daher dürfe die EU nicht einfach ihre eigenen Versprechen ignorieren. Vor diesem Hintergrund sei auch die Contra-Argumentation schwach, die Türkei liege größtenteils in Asien. Denn der Ort der Türkei habe sich in den 40 Jahren nicht geändert. Zudem sei mit Zypern bereits ein Land Mitglied, das weiter von Zentraleuropa entfernt ist als die Türkei.

Ein weiteres Argument der Befürworter ist, dass ein Beitritt zur EU die Demokratie und die Lage der Menschenrechte in der Türkei weiter stärken werde. Sie sehen darin ein wirksames Mittel, den islamischen Fundamentalismus weiter zurückzudrängen. Die erfolgreiche Integration der Türkei in die EU und die damit einhergehende Wohlstandssteigerung werde für viele islamisch geprägte Länder eine Vorbildfunktion haben. Eine demokratische und stabile Türkei werde beweisen, dass Islam und Demokratie kein Widerspruch seien.

Ohne die Aufnahme der Türkei sei es fraglich, ob die EU die weltpolitische Rolle spielen kann, die sie anstrebt. Erst durch die Aufnahme der Türkei erhalte die EU die "kritische" Größe, um auch zukünftig wirtschaftlich eine wichtige Rolle auf der Welt gegenüber Regionen wie Asien, Nord- und Südamerika zu spielen.

Mit der Türkei wüchse der Binnenmarkt der EU um weitere 70 Millionen Konsumenten. Mit dem erhofften Anstieg des Wohlstandes in der Türkei würden europäische Länder wie Deutschland durch höhere Exporte in die Türkei wirtschaftlich profitieren.

Als Argument gegen einen Beitritt der Türkei werden oft hohe Kosten für Agrarsubventionen an türkische Bauern ins Feld geführt. Dies sei aus zwei Gründen nicht einsichtig. Erstens hätten schon die osteuropäischen Bauern der ersten Erweiterungsrunde nicht die gleichen Subventionen wie die westeuropäischen Nachbarn erhalten. Zum anderen seien Agrarsubventionen ohnehin unzeitgemäß und es sei fraglich, ob sie in ihrer jetzigen Form in zehn Jahren noch existieren.

Eine stabile Türkei sei auch für die europäische Energieversorgung sehr wichtig. Über die Türkei verliefen zukünftig wichtige Öl- und Gaspipelines aus dem Kaukasus und den zentralasiatischen Turkstaaten.

Beitrittsgegner führen auch an, dass durch die Aufnahme der Türkei die Grenzen der EU verschwömmen, so dass es kein Argument mehr gebe, Staaten wie Russland, die Ukraine und Marokko die Aufnahme zu verweigern. Dieses Argument sei nicht schlüssig, da für diese Länder von der EU keine Versprechen für eine Aufnahme vorlägen, und bei jedem Beitrittsgesuch fallspezifisch entschieden werden könne.

Durch die Aufnahme der Türkei werde den alternden Gesellschaften der EU-Länder eine "Verjüngung" zugeführt, was auch zu einer Dynamisierung der EU beitragen könne. Zudem verfüge die Türkei über eine hohe Zahl von gut ausgebildeten Akademikern (2004 waren 1,6 Mio. Türken an den Universitäten des Landes eingeschrieben). Mit ihnen ließe sich der in Deutschland und anderswo in der EU abzeichnende zukünftige Fachkräftemangel reduzieren.

Es sei aber auch fraglich, ob es zu dem befürchteten Zuwandererstrom aus der Türkei nach Westeuropa kommen würde. Der Zuwandererstrom, der nach der Aufnahme Spaniens erwartet wurde, sei damals nicht eingetreten. Zudem sei die Aufnahme der Türkei erst in 10 bis 15 Jahren, mit anschließendem langen Übergangszeitraum von bis zu 7 Jahren in Bezug auf die Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit, angedacht. Des weiteren könne jeder EU-Mitgliedsstaat im Falle der Türkei die Freizügigkeit für immer ausschließen, wenn das vertraglich so vorgesehen werde. Bei so einem langem Zeitraum könne die Türkei bei einem weiterhin starken Wirtschaftswachstum die wirtschaftliche Kluft zu Westeuropa schließen. Mit dem steigenden Wohlstand werde auch der Immigrationsdruck nach Westeuropa sinken.

Die türkische Regierung zeige sich für die Lösung des "Zypernkonflikts" offen. Sie habe den Annan-Plan unterstützt, der eine Neuorganisation des zypriotischen Staates, unter Einbeziehung von Griechen und Türken, vorsah.

In Zeiten des internationales islamistischen Terrorismus sei die Aufnahme eines islamisch geprägten Staates in die EU auch ein geostrategischer Vorteil. Die geografische Lage der Türkei inmitten arabischer Staaten im Westen und weiterer islamischer Staaten im Osten biete der EU die Möglichkeit, die Türkei als vermittelnden Brückenstaat in der islamischen Welt zu nutzen. Auf diese Weise diene die Türkei dem Dialog und schwäche zudem einen potenziellen islamischen Block, da die Türkei fortan nur mehr dem laizistisch-westlichen Weltbild zur Verfügung stehen werde.

Ferner sei durch die Aufnahme der Türkei in die EU ein Wirtschaftsaufschwung dort zu erwarten, der die freiwillige Rückwanderung türkischer Gastarbeiter in die Heimat zur Folge haben könne. Auf diese Weise würde sich die Integration der verbleibenden Türken in der Herkunftsstaaten erleichtern.

Beitrittsgegner führen an das die Türkei geographisch größtenteils in Asien liegt. Aber andererseits liegt das neue EU-Mitglied Zypern zu 100% auf dem asiatischen Kontinent. Somit wurde bereits ein asiatisches Land in die EU aufgenommen.

Kontra: Argumente gegen einen türkischen Beitritt

In wirtschaftlicher Hinsicht bestünden in der Türkei erhebliche Defizite, so dass sich die Frage der Finanzierbarkeit stelle (vor allem im Hinblick auf die Agrarsubventionen). Außerdem gebe es bereits weitreichende Handelsabkommen mit der Türkei. Die Türkei habe ohnehin keine Alternative zum Handelspartner EU, da ein weiterer großer Absatzmarkt für türkische Produkte und vergleichbarer Partner im Nahbereich nicht existiere. Für die EU-Mitgliedsstaaten sei der türkische Markt aufgrund seiner vergleichsweise geringen Kaufkraft weniger bedeutend.

Ein weiterer Grund für die ablehnende Haltung ist die Frage nach der Identität der EU: Manche Beitrittsgegner befürchten, dass durch den Beitritt der "islamischen Türkei" die Identität der EU als Gemeinschaft, die durch christlich-abendländische Traditionen geprägt sei, schwinden könne und sich die gemeinsame Basis für eine weitergehende politische Integration auflöse. Außerdem bestünden immer noch weitgehende Defizite hinsichtlich der Verwirklichung der Menschenrechte sowie der Erfüllung der weiteren Kopenhagener Kriterien.

Eine Aufnahme der Türkei gegen den Willen der meisten EU-Bürger könne den Unmut über die Europäischen Union erhöhen. Gerade nach den Referenden gegen die Ratifikation der EU Verfassung scheint dies problematisch. Es könne sogar ein Desintegrationsprozess in Gang gesetzt werden, der viele Errungenschaften der heutigen Union in Frage stellen würde.

Geographisch gehört die Türkei nur mit drei Prozent ihrer Landesfläche zu Europa. Viele stellen sich in dem Zusammenhang die Frage, wo die territorialen Grenzen der EU zukünftig liegen sollten, da die Türkei zum großen Teil auf dem asiatischen Kontinent liegt. Als weiteres Beispiel wird angefügt, dass man auch Russland nicht in die EU aufnehme, weil es über die für den EU-Raum bedeutendsten Energiereserven verfüge.

Das Argument, ein Beitritt der Türkei sei Vorbild für andere "islamische" Staaten und ein Zeichen der Kooperationsbereitschaft des Westens mit diesen, ist nach Ansicht vieler Beitrittsgegner nicht schlüssig, weil die Türkei nach Eigendefiniton ein laizistischer Staat sei und zudem in der arabisch-islamischen Welt aus historischen (osmanischer Imperialismus), ethnischen (hier Türken, dort Araber) und religiösen Gründen (Türken werden wegen ihrer relativen Liberalität oft nicht als "echte Muslime" bzw. Sunniten angesehen, und auch mit den Schiiten verbindet sie nichts) isoliert sei.

Oft wird auch das Argument vorgebracht, man halte die Türkei seit 40 Jahren hin. Tatsache ist nach Ansicht der Gegner jedoch, dass es die EU als politische Europäische Union noch gar nicht solange gebe und bis 1999 immer wieder das Ansuchen der Türkei auf Mitgliedschaft zurückgewiesen worden wäre. Zudem habe die türkische Regierung selbst 1997 die Gespräche über eine Mitgliedschaft abgebrochen.

Die Türkei wäre schon jetzt mit einer Bevölkerung von 70 Millionen Menschen nach Deutschland das zweitbevölkerungsreichste Land der EU. Damit hätte die Türkei in den EU-Institutionen das gleiche Gewicht wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Während die Bevölkerung in Westeuropa abnimmt, gehen Prognosen davon aus, dass die Bevölkerung der Türkei im Jahr 2050 auf 90 Millionen angewachsen sein werde.

Für die politische Beweglichkeit der EU könnte es problematisch werden, die EU weiter zu erweitern, bevor nicht die inneren Probleme um die Abstimmungsmodi gelöst werden. Jedes Land bedeutet gegenwärtig eine weitere Vetomacht, auch in Bezug auf eine Reform der Abstimmungsmodi. Dieses Argument gilt zumindest solange, bis die Probleme mit der Ratifikation der EU Verfassung ausgeräumt worden sind.

Die Problematik einer "überalternden" Bevölkerung in Europa lasse sich durch den Beitritt auch nicht so einfach lösen, da es sich dabei um einen komplexen Sachverhalt handele. Beides - der Bevölkerungsrückgang wie die Zuwanderung - habe positive wie auch negative Aspekte und es sei fraglich, ob das erforderliche Ausmaß an Zuwanderung von der Bevölkerung überhaupt erwünscht wäre bzw. ob überhaupt die notwendigen Arbeitsplätze vorhanden wären, um das erforderliche Bruttosozialprodukt zu erwirtschaften. Zuwanderung aus der Türkei sei letztlich auch nicht zwangsläufig an eine EU-Mitgliedschaft gebunden. Sollte sie in Zukunft tatsächlich erwünscht sein, so seien die Steuerungsmöglichkeiten bei einem Nicht-EU-Mitglied größer als im Rahmen der (Personen-) Freizügigkeit, die früher oder später den Bürgern jedes neuen EU-Mitglieds gestattet werde.

Einige Kritiker eines Beitrittes räumen zwar positive Schritte von Seiten der Türkei ein. Sie argumentieren aber, das nicht nur das kurzfristige Verhalten eines Landes Maßstab sein dürfe. Selbst wenn Kultur als etwas Veränderliches verstanden werde, ist die Stabilität der gegenwärtigen Reformschritte in der Türkei umstritten, auf der einen Seite wegen starker islamistischer Kräfte und auf der anderen Seite wegen des Militärs. Auch wenn diese Gefahren für die Türkei durch ein Beitritt vermindert werden könnte, scheinen sie manchen als zu groß um damit das Projekt der EU in den nächsten Jahrzehnten zu belasten.

Der Zypernkonflikt sei noch nicht gelöst worden. Die Türkei erkennt das EU-Mitglied Zypern (griechisches Südzypern) bis heute nicht als Staat an.

Die kurdischen Regionen litten immer noch an den Folgen des Krieges der PKK mit der Türkei. Laut Aussagen der Gesellschaft für bedrohte Völker sind 2,4 Millionen Kurden zwischen 1980 und 1999 von der türkischen Armee aus ihren mehr als 3.400 zerstörten Dörfern vertrieben worden (diese Zahlen sind jedoch stark umstritten, da hier Wirtschafts- und Armutsflüchtlinge inbegriffen sind).

Die Türkei lehne auch heute noch jegliche Verantwortung für den Völkermord an den Armeniern ab.

Der türkische Staat verweigere christlichen Kirchen wie auch den Aleviten die Gleichberechtigung mit dem sunnitischen Islam. So werde diesen Religionsgemeinschaften zum Beispiel der öffentlich-rechtliche Status vorenthalten.

Standpunkt der EU-Staaten

Während die Regierungen der europäischen Staaten beschlossen haben ab dem 3. Oktober 2005 mit der Türkei Verhandlungen über den EU-Beitritt aufzunehmen, befürworten nur 35% der EU-Bürger nach einer Befragung von mehr als 23.000 Bürgern in Rahmen des Eurobarometers den Beitritt.

Dem Eurobarometer 2005 zufolge befürworten nur 10% der Österreicher und 21% der Deutschen den Beitritt. In den alten 15 Ländern der EU gibt es nur in Großbritannien eine relative Mehrheit von 45% für einen Beitritt. Sobald in Frankreich oder Österreich die zugesagten Referenden über eine Aufnahme der Türkei in die EU stattfinden und sich eine Mehrheit gegen einen Beitritt der Türkei ausspricht, wäre der Beitritt gescheitert. Weil die Referenden wahrscheinlich am Ende der Beitrittsverhandlungen stehen - so sie dann noch stattfinden oder notwendig sind - sind schon deshalb Aussagen über deren möglichen Ausgang spekulativ.

Die Standpunkte der Bevölkerung in den größten EU-Staaten:

Gründe für einen Beitritt der Türkei Gründe gegen einen Beitritt der Türkei

Kosten der türkischen Mitgliedschaft

Laut einer Studie der EU-Kommission würde die Mitgliedschaft der Türkei jährlich zwischen 16,5 und 27,5 Milliarden Euro kosten. Einer Hochrechnung der Kommission zufolge könnten bis zu 2,7 Mio. Türken nach einem Beitritt ihr Land verlassen und in anderen EU-Ländern leben und arbeiten wollen. Das entspricht etwa 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU. Übergangsfristen für die volle Freizügigkeit könnten die Einwanderer aber - ähnlich wie bei der Osterweiterung - regulieren. Das Osteuropa-Institut in München rechnet mit bis zu vier Millionen Zuwanderern.

Siehe auch