Benutzer:Wiesenthal/Germanische Schicksalsvorstellungen

Über die germanischen Schicksalsvorstellungen ist nur wenig bekannt. Fast alle Quellen, die darüber Auskunft geben, stammen aus christlicher Zeit: In ihnen ist christliches, heidnisch-germanisches, aber auch heidnisch-antikes Gedankengut auf eine Weise miteinander vermischt, dass man die jeweiligen Anteile nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Das komplexe Thema wurde in der Wissenschaft an Hand sehr unterschiedlicher Quellen aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachtet, die zu einer Vielzahl an Meinungen führten, die in Kern- wie Nebenpunkten teilweise weit auseinander stehen und nur wenig untereinander ausgeglichen wurden. Eine Zusammenschau wie diese vermittelt deswegen ein stimmigeres und vollständigeres Bild der Wissenschaft, als es tatsächlich der Fall ist.
Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass die Germanen daran glaubten, ein unabänderliches Schicksal zu haben, das von einer Schicksalsmacht, möglicherweise in Gestalt dreier Schicksalsfrauen, bei Geburt bestimmt wurde. Offenbar hatten auch die germanischen Götter ein durch eine Schicksalsmacht bestimmtes Schicksal, das sich zu erfüllen hatte. Ob die Germanen aber an diese Schicksalsmacht auch in religiösem Sinne glaubten, kann nicht entschieden werden.
Quellen
Vorgeschichtliche Zeit und Antike
Die antiken Autoren berichten nichts über das Schicksalsverständnis der Germanen. Sie belegen aber, wie sehr die Germanen an Vorzeichen und Lose glaubten. Nach Meinung des römischen Schriftsteller Tacitus sogar mehr als alle anderen Völker.[1] Auf diese Weise versuchten die Germanen herauszufinden, ob ihnen für eine bestimmte Angelegenheit ein günstiges Geschick beschieden sei oder nicht. Vorzeichen konnten zum Beispiel darüber entscheiden, ob die Germanen eine Schlacht schlugen, wie Caesar im 1. Jahrhundert vor Christus bezeugt:
- „Quod apud Germanos ea consuetudo esset,
- ut matres familiae eorum sortibus vaticinationibusque declararent,
- utrum proelium committi ex usu esset necne;
- eas ita dicere: non esse fas Germanos superare,
- si ante novam lunam proelio contendissent.“
- – Caesar, Der Gallische Krieg, I 50
- „Bei den Germanen herrsche der Brauch,
- dass ihre Ehefrauen durch Losorakel klärten,
- ob es ratsam sei, eine Schlacht zu liefern oder nicht;
- diese hätten behauptet, das Schicksal versage den Germanen den Sieg,
- wenn sie sich vor Neumond auf einen Kampf einließen.“
- Übersetzung von Otto Schönberger
Über die Vorstellung der Germanen, welche Macht oder welcher Wille sich in diesen Zeichen äußerte, ist nichts überliefert. Man kann darin einen Beleg von Schicksalsvorstellungen sehen, wenn man davon ausgeht, dass die Germanen die Zeichen befragten, weil sie an ein im voraus bestimmtes Schicksal glaubten.[2] Doch ist das nicht zwingend, weil man darin auch den Versuch sehen kann, den Willen der Götter oder eines Gottes zu ermitteln.[3] Es ist dabei aber schon fraglich, ob die Germanen in diesen Angelegenheiten überhaupt eine scharfe Trennung vornahmen.
Die einzigen Quellen, die ansonsten noch Auskunft über die heidnisch-germanischen Schicksalvorstellungen in vorgeschichtlicher Zeit geben könnten, sind einige germanische Wörter mit der Bedeutung „Schicksal“, die die Sprachwissenschaft erschlossen hat. Durch sie versuchte man mit Hilfe der Etymologie zu germanischen Schicksalskonzepten vorzudringen, doch erwiesen sich die darauf aufgetürmten Ideengebäude als wacklig oder haltlos. Aus diesen Begriffen kann man insgesamt nicht mehr herauslesen, als dass die Germanen eine Vielzahl an Schicksalswörtern besaßen, deren Nebenbedeutungen erkennen lassen, dass sie unter Schicksal offenbar ein einschneidendes, (meist) negatives Ereignis verstanden.
Altnordisch | Althochdeutsch | Angelsächsisch | Altsächsisch | Germanisch | Bedeutung | Indogermanische Wurzel |
---|---|---|---|---|---|---|
mjötuðr | *mezzot? | me(o)tod, me(o)tud | metod, metud | *metoduz | Schicksal, Zumesser (Gott) | *med- „messen“ |
ørlög | urlag, urliugi | orlæg, orleg(e) | *uzlagaz, uzlagam | Schicksal, Krieg/Kampf, Gesetz? | *legh- „legen, liegen“ | |
skap | giscap, giscaf | gesceap, gesceaf | (gi)skap, giskaft | Schicksal, Beschaffenheit | *skap- „schneiden, spalten“ | |
urðr | wurt | wyrd | wurd | *wurdiz | Schicksal, Tod | *uert- „drehen, wenden“ |
Heidenmission
Die ältesten Auseinandersetzungen mit germanischen Schicksalsvorstellungen stammen von christlichen Missionaren des Frühmittelalters, die noch gegen lebendiges germanisches Heidentum kämpften. Ihre Darstellungen sind naturgemäß nicht daran interessiert, heidnische Vorstellungen für die Nachwelt zu bewahren, sondern ihnen ging es darum, die Überlegenheit des Christentums zu verdeutlichen.
Im 8. Jahrhundert verglich beispielsweise der angelsächsische Mönch Beda Venerabilis im Rahmen vom Wissen über das Jenseits das Leben eines Menschen mit der Dauer, die ein Spatz an einem kalten Wintertag braucht, um durch einen beheizten Saal zu fliegen.[6] Mit Hilfe dieses Vergleichs stellte er im weiteren Zusammenhang die heidnische Auffassung über die Zeit nach dem Tod in ein kaltes, trostloses Licht, während der Christ auf die Heilsgewissheit Gottes vertrauen könne.
Eine weitere Berührungsfläche der Christen mit germanischen Schicksalsvorstellungen zeigt sich durch die Thematisierung des Schicksals in christlichen Werken und Lehren jener Zeit, wofür sie den heidnischen Schicksalswortschatz übernahmen. Es lag daher für die ältere Forschung die Annahme nahe, dass auf diese Weise auch heidnisches Gedankengut übernommen wurde. Insbesondere dort, wo die alten Schicksalswörter häufig gebraucht wurden, wie zum Beispiel in der altsächsischen Evangelienharmonie Heliand oder in der Prädestinationslehre des sächsischen Mönchs Gottschalk von Orbais im 9. Jahrhundert. Doch nach eingehender Untersuchung der Kontexte und Intentionen der Verfasser stellte sich genau das Gegenteil heraus.
Die heidnisch-germanische Schicksalslehre war offenbar nicht so ausgeformt gewesen, dass sie als ernsthafte Gefahr des christlichen Gottesbilds eingestuft wurde. Auf diese Weise konnten die heidnisch-germanischen Schicksalsbegriffe genauso wie andere Sakralbegriffe der Germanen (beispielsweise „Gott“ oder „weihen“) übernommen werden, um den Heiden den Übergang vom Heiden- zum Christentum zu erleichtern.[7] Bei der Übernahme der alten Schicksalswörter entleerten die Christen die Begriffe jedoch ihres heidnischen Inhalts und füllten sie mit christlichen Ideen neu auf, im Falle des angelsächsischen Schicksalsbegriffs wyrd sogar mit gelehrten Vorstellungen der heidnisch-antiken Fortuna. Der Heliand vermittelt dementsprechend kein heidnisches Gedankengut, Schicksal hat darin keinen religiösen Eigenwert. Gott ersetzt im Heliand weder eine heidnische Schicksalsmacht, noch stellt er sich auf ihre Stufe. Schicksal wird deswegen nicht als die Wirkebene Gottes beschrieben, sondern es ist nur eine Auswirkung im Einzelfall. Der Dichter des Heliand schildert Schicksal stets im begrenzten Rahmen der natürlichen Ordnung, während Gott dagegen übernatürlich und unbegrenzt ist. Deutlich wird das zum Beispiel in der Totenerweckung des Jünglings zu Naïn.[8] Die Lehre Gottschalks beruhte ebenso nicht auf heidnischen Gedanken, sondern lediglich auf einer konsequenten Weiterentwicklung der augustinischen Prädestinationslehre.[9]
Der Christengott wurde für die Heiden nicht zuletzt auch deswegen attraktiv, weil er über dem Schicksal stand.[10] Er hatte die metudaes maecti, die „Schicksalsmacht“, die Macht das Schicksal zuzuweisen. Als Herr über das Schicksal gebot er über eine Macht, gegen die sich nach heidnischer Auffassung (siehe Edda) nichts ausrichten ließ.
Heldendichtung
Tiefere Einblicke in die Schicksalsvorstellungen westgermanischer Völker erlaubt erst die frühmittelalterliche Heldendichtung, zum Beispiel im angelsächsischen Epos Beowulf (8. Jahrhundert) oder im althochdeutschen Hildebrandlied (9. Jahrhundert). Obwohl diese Sagenstoffe sich bereits in heidnischer Zeit formten, haben sie zur Zeit ihrer Niederschrift schon christliche und antike Vorstellungen aufgenommen und verarbeitet. Zwar werden auch hier die heidnischen Schicksalsbegriffe verwendet, doch können die einzelnen Kontexte, in denen das Schicksal eine Rolle spielt, auch aus antiken oder christlichen Traditionen stammen. Da man nicht weiß, welche Schicksalskonzepte die Germanen hatten, lässt sich deswegen nicht mehr feststellen, welche Schicksalsvorstellungen in der Heldendichtung auf heidnisch-germanischen Vorstellungen beruhen und welche nicht. Dass dem Helden beispielsweise ein Schicksal geweissagt ist, das sich erfüllt, ganz gleich was immer dagegen unternommen wird, lässt sich christlich durch göttliche Vorsehung erklären oder antik aus der Aeneas-Tradition.[11] Niemand kommt aber deswegen auf den Gedanken, zu sagen, dass in der Heldendichtung gar keine heidnischen Schicksalsvorstellungen mehr enthalten sind.
Das Schicksal in der Heldendichtung entwickelt sich aus dem Gegenspiel der äußeren Anlässe und der inneren Natur des Helden. Es hat dadurch zwei Gesichter, von denen je nach Gewichtung das eine oder das andere mehr hervortritt. Zum einen kann der Schicksalsbegriff bei unglaublichen Glücksfällen oder erschütternden Fährnissen transzendieren, so dass das Schicksal, wie der Eingriff einer höheren Macht erscheint, womit das Schicksal personifiziert wird. Zum anderen kann der Schicksalbegriff auch immanenter werden, so dass das Schicksal aus der persönlichen Eigenart einer Person oder ihrer Sippe entsteht, zum Beispiel durch ein ihr angeborenes Glück oder Heil. Schicksal folgt somit aus den starken Banden der Sippengemeinschaft, da sie als Schicksalsgemeinschaft in Sieg und Niederlage, in Glück und Unglück unbedingte Solidarität fordert. Das heißt, was einem Sippenmitglied geschieht, ist allen anderen geschehen. Kollideren dabei Sippengefühl und persönliches Ehrgefühl eines Helden miteinander, kommt es zu einem tragischen Konflikt, der ein furchtbares und nicht mehr abwendbares Schicksal in Gang setzt.[12] Motor der Schicksalsverwirklichung sind somit in der Heldendichtung Leid und Ehre.[13] Es ist dabei ein wesentliches Merkmal, dass ein Angriff auf die Ehre als schicksalshafter Eingriff aufgefasst wird, gegen den es kein Ausweichen gibt.[14]
Ein Beispiel hierfür findet sich im Hildebrandlied. Hildebrand trifft darin auf seinen Sohn Hadubrand, der den Vater seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat und überzeugt von dessen Tod ist. Hildebrand erkennt seinen Sohn und will ihn von einem Zweikampf mit ihm abhalten, doch Hadubrand will nicht glauben, seinem Vater gegenüberzustehen und verhöhnt den Vater. Der Angriff auf die Ehre des Vaters macht den Kampf zwischen beiden unvermeidlich. Wichtig für den Vollzug des Schicksals ist, dass der Held das Einsetzen des Verhängnisses erkennt und bestätigt.[14] Voll Schmerz und Bitterkeit stellt Hildebrand dazu fest:
- „Welaga nu, waltant got, quad Hiltibrant, – wewurt skihit!
- ih wallota sumaro enti wintro – sehstic ur lante,
- dar man mih eo scerita – in folc sceotantero.
- so man mir at burc ęnigeru – banun ni gifasta.
- nu scal mih suasat chind – suertu hauwan,
- breton mit sinu billiu, – eddo ih imo ti banin werdan.“
- – Hildebrandlied
- „Wohlan, nun walte Gott, sagte Hildebrand, Unheil [wörtlich: Weh-Schicksal] geschieht:
- Ich wanderte sechzig Sommer und Winter außer Landes;
- wo man mich immer in das Heer der Kämpfer einordnete.
- Wenn man mir an jedweder Burg den Tod nicht beibringen konnte:
- Nun soll mich das eigene Kind mit dem Schwerte schlagen,
- niederschmettern mit der Klinge, oder aber ich werde ihm zum Töter.“
- Übersetzung von Arnd Großmann
Der christliche Einfluss ist hier unschwer durch die Anrufung Gottes zu erkennen, wobei diese formaler Natur bleibt, da Gott nichts gegen das Schicksal ausrichtet.
Die heidnischen Schicksalswörter kommen im deutschen Sprachraum schon in althochdeutscher, spätestens in mittelhochdeutscher Zeit außer Gebrauch und treten danach nicht wieder in Erscheinung.[15] Andere Begriffe, wie gelücke „Glück“, die in mittelhochdeutscher Zeit Träger von Schicksalsideen sein können, verkörpern keine heidnischen Ideen mehr, sondern nur noch christliche. In den hochmittelalterlichen Heldendichtungen des Nibelungenlieds oder der Gudrunsage spielt der heidnische Schicksalsbegriff schon keine Rolle mehr.[16]
Edda
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Die einzige heidnische Quelle, die Auskunft über germanische Schicksalsvorstellungen gibt, sind die Lieder der Lieder-Edda, soweit sie noch aus der heidnischen Spätzeit Islands stammen. Hier ragt insbesondere das Schöpfungsgedicht, die Völuspá, heraus, das wohl kurz vor dem Übertritt Islands zum Christentum entstand, und noch überwiegend von heidnischen Vorstellungen geprägt ist.
Dabei nimmt der Schicksalsbegriff in der Völuspá großen Raum ein. Es heißt dort, dass die beiden ersten Menschen, Ask und Embla, vor ihrer Menschwerdung noch schicksalslos (ørlöglausa) waren.[17] Zwar schufen sie dann die Götter als Menschen, doch ihr Schicksal teilten ihnen die Nornen zu (siehe weiter unten). Ihnen war aufgetragen, das Schicksal (ørlög) der Menschen bei Geburt zu bestimmen.[18] Aber nicht nur die Menschen haben ein unabwendbares Schicksal, sondern auch die Götter. Baldurs Tod ist vorherbestimmt (ørlög), kann aber nicht verhindert werden.[19] Das selbe gilt für den Untergang der Götter in den Ragnarök.[20] Ragnarök, das bedeutet übersetzt ‚das Schicksal der Götter‘.[21] Mit Anbruch dieser Zeit nimmt das zugemessene Schicksal (mjötuðr kyndisk) seinen Lauf.[22]
Schon in der älteren Forschung zu Zeiten Jacob Grimms erkannte man, dass die Göttermacht offenbar einer Schicksalsmacht unterworfen war, da die Götter wie die Menschen nicht in der Lage sind, ihr Schicksal zu ändern (siehe germanischer Schicksalsglaube).[23][9][24][25][26]
Isländersagas
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Heidnisch-nordische Schicksalsvorstellungen enthalten auch die isländischen Sagas, die ab dem 12. Jahrhundert niedergeschrieben wurden.
Die Gísla saga berichtet beispielsweise von Gisli, der mit seinem Bruder und seinen beiden Schwägern den Blutsbund schließen will, aber eine böse Vorahnung hat, dass der Bund nicht zustande kommen werde. Die vier fallen sodann auf die Knie und rufen die Götter zu Zeugen ihres Bundes an, doch unversehens weigert sich im letzten Augenblick einer der beiden Schwäger, mit dem anderen den Blutsbund einzugehen. Da zieht auch Gisli seine Hand zurück und spricht: „Nun ist es verlaufen, wie mir ahnte, und mir scheint, hier hat das Schicksal sein Hand im Spiele.“[27]
Entgegen früherer Annahmen stellte der in den Isländer Sagas oft beschriebene Glaube des Helden an seine eigene Macht und Stärke, meist ausgedrückt durch die Formel trua á mátt sinn ok megin, keine Quelle heidnischer Schicksalsauffassungen dar, sondern diente den christlichen Autoren Islands ab dem 13. Jahrhundert dazu, ihren heidnischen Helden (die ja Teil ihrer eigenen Familien- oder lokalen Geschichte waren) eine Brücke vom Heidentum zum Christentum zu schlagen.[28] Zum Beispiel erklärt der Norweger Arnljot seinem König Olaf lapidar: „Ich glaube an meine eigene Macht und Kraft.“[27] Man vertraut dabei nur sich selbst und nicht auf die alten Götter oder andere übermenschliche Kräfte, die ja dem Christentum unterlegen waren. In dieser Haltung ist zwar der Fatalismus ein Wesenszug, doch durch die Abgrenzung zur vorchristlichen Vergangenheit entwickelt sich daraus ein eigener Mythos über den Schicksalsglauben der heidnischen Vorfahren.[9]
Schicksalsmacht
Das menschliche Denken setzt voraus, dass es eine höhere Macht geben muss, die das Schicksal bestimmt (Schicksalsmacht). Diese Macht kann man personifizieren, in dem man ihr eine Wesensnatur verleiht oder man erkennt darin das Wirken einer unpersönlichen Macht, die sich als Naturgesetz wie zum Beispiel das indische Karma äußert. Wie sich die Germanen die Schicksalsmacht vorstellten, kann nur in Ansätzen nachvollzogen werden. Wahrscheinlich veränderten sich diese Vorstellungen im Laufe der Zeit und es gibt auch Hinweise, dass die Germanen sich die Schicksalsmacht nicht einheitlich vorstellten. Die Idee, dass es noch eine Macht über den Göttern gibt, scheint jedoch schon auf die Indogermanen zurückzugehen.
Indogermanischer Vergleich
Mehrere Völker, die aus den Indogermanen hervorgingen, stellten sich eine Macht vor, die das Schicksal festlegte. Ein Teil stellte sich diese personifiziert vor, der andere Teil personifizierte sie nicht. Häufig wird die Schicksalmacht wie in der nordischen Mythologie als mächtiger beschrieben als die Götter. Vergleichbares kennt man auch aus vielen anderen Kulturen.[10][29] Ungewöhnlich ist das nicht, da die polytheistischen Götter (und damit auch die germanischen Götter) nicht über Welt stehen, sondern Teil der Welt sind, in der sie die bestehende Weltordnung repräsentieren. Als Teil der Welt sind sie somit wie alle anderen Teile der Welt dem Weltgesetz unterworfen.
Volk | Begriff | Wörtliche Bedeutung | Macht | Beschreibung | Älteste Nachweise |
---|---|---|---|---|---|
Inder | rta(m) | unpersönlich | Die rechte Ordnung. | ||
karma | Wirken, Tat | unpersönlich | Universales Gesetz, wonach jede Tat eine der Tat entsprechende Folge hat. | 6. Jh. v. Chr. | |
samsara | beständiges Wandern | unpersönlich | Kreislauf der Wiedergeburten. | 6. Jh. v. Chr. | |
Iraner | Zurvan | Zeit | personifiziert | Schöpfergott im Zurvanismus. Vater Ahura Mazdas und Angra Mainyus. Personifikation von Zeit und Ewigkeit: bestimmt alles, verordnet alles, ordnet alles im Voraus. | 4. Jh. v. Chr. |
Griechen | Moira | Anteil, der jedem zugeteilt ist | personifiziert | Bei Homer sind die Götter gegenüber den Moiren ohne Macht. | 9. Jh. v. Chr. |
Römer | Fatum | Spruch des Schicksals | unpersönlich | Unausweichlich, alles regierend. |
Götter als Schicksalmacht
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Für die Menschen, die sich mit ihren Anliegen an die Götter wenden, sind schon die Götter so mächtig wie eine Schicksalsmacht. Für den Menschen macht der Gott Odin Schicksal, aber auch Odin hat ein Schicksal.[30]
Die drei Schicksalsfrauen
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Historisch am greifbarsten ist noch eine urgermanische Vorstellung, wonach die Schicksalsmacht durch eine Frauendreiheit personifiziert wurde. In späterer Zeit wies man den Frauen eigene Namen zu, ursprünglich trugen sie offenbar aber keine Eigennamen. Diese heidnische Vorstellung war so tief verwurzelt, dass sie die Christianisierung überlebte und bis in heutige Zeit in der Sagenwelt und in den Legenden und Kulten christlicher Volksheiliger fortwirkt.
In der nordischen Mythologie nennt man diese drei Frauen Nornen. In der Völuspá heißen sie Urðr ‚Schicksal, wörtlich: geworden‘, Verdandi ‚Werdend‘ und Skuld ‚Gesollt‘. Ihre Namen stehen vereinfacht für die drei Zeitformen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.[31] Dieses Namenskonzept stammt jedoch nicht aus heidnischer Zeit, sondern erst aus dem Hochmittelalter und wurde von den griechischen Moiren und den römischen Parzen entlehnt.[31][32][33] Die Übernahme ging aber nicht soweit, dass auch alle Inhalte übertragen wurden. Beispielsweise wird das Schicksal von den Nornen im Gegensatz zu den Moiren und Parzen weder gesponnen noch gewoben.[31]
Auf Entlehnung der Namen deutet, dass Verdandi in der nordischen Mythologie ansonsten nicht erwähnt wird[34] und Skuld nur als Name einer Walküre überliefert ist.[35] Selbst der Name der Urd, von dem man lange Zeit glaubte, er sei bereits gemeingermanisch, scheint ebenso nur eine Schöpfung des Hochmittelalters zu sein. Da altnordisch urd und angelsächsisch wyrd beide auf germanisch *wurdiz zurückgehen und beide Wörter zur Personifizierung einer Schicksalsmacht gebraucht wurden, hatte man in der Forschung eine gemeingermanische Schicksalsgöttin postuliert, der man eine wesentliche Rolle im heidnischen Schicksalsgedanken übertrug.[36] Nach Durchleuchtung der Textzusammenhänge, in denen wyrd gebraucht wurde, stellte sich heraus, dass das alte heidnische Schicksalswort von den Christen aufgegriffen wurde, aber sein Inhalt mit christlichen Vorstellungen des aus der Antike übernommenen Schicksalskonzepts der Fortuna fatalis neu ausfüllt wurde.[37] Die angelsächsische Personifikation der Wyrd als Schicksalmacht war demnach eine christliche Schöpfung. Hingegen taucht Urðr in der nordischen Literatur meist im Zusammenhang mit der Quelle Urðrbrunnr auf, die man für gewöhnlich nach der Norne als Urdbrunnen bezeichnet. Da aber die Quelle häufiger als die Norne genannt wird, folgt daraus, dass der Name der Quelle auf die Norne überging und nicht umgekehrt. Demnach ist der Quellenname urðrbrunnr nicht als „Brunnen der Urd“, sondern als „Quelle des Schicksals“ zu übersetzen.[31][33][38]
Beschrieben werden die Nornen als drei Mädchen (meyjar), also Jungfrauen, deren Heimat die Quelle des Schicksals (urðar brunni) am Weltenbaum Yggdrasil ist. Ihre wesentliche Aufgabe besteht darin, bei Geburt den Menschen das Schicksal zuzuweisen. Vermutlich sind in den Nornen zwei verschiedene Frauendreiheiten zusammengeflossen, nämlich die Frauen, die bei Geburt das bereits bestimmte Schicksal vorhersagen und Muttergottheiten in ihrer Rolle als Schicksalsfrauen.
Das Konzept einer Dreiheit von Schicksalsfrauen reicht sicher bis in gemeingermanische Zeit zurück. Auch die westgermanischen Matronen, die chthontische Muttergottheiten darstellen, wurden im römerzeitlichen Kult als Dreiheit verehrt und besaßen Züge von Schicksalsfrauen besaßen.[31][39][40][41] Diese Frauentrias überlebte den Untergang des römischen Reiches und die christliche Mission und tritt bis heute im Volksglauben im Vorstellungskomplex der drei heiligen Frauen auf.[42] Bischof Burchard von Worms stellte Frauen im 11. Jahrhundert beispielsweise folgende Beichtfrage: „Hast du geglaubt, was einige zu glauben pflegen, daß jene, die im Volksglauben Parcae [Parzen, also die Schicksalsfrauen] heißen, wirklich bestehen und bei der Geburt eines Menschen ihn zu dem bestimmen können, was sie wollen [...]?“
Der, der das Schicksal zumisst
Die wortwörliche Bedeutung des germanischen Schicksalsbegriffs *metoduz „der Schicksalszumesser“ weist darauf hin, dass die Germanen möglicherweise noch eine andere Personifikation der Schicksalsmacht kannten, die allerdings außer der Wortbedeutung und dem daraus folgenden Wortgebrauch keine weiteren Spuren hinterlassen hätte. Es könnte sich dabei aber um eine sehr alte Vorstellung handeln, zumindest ist der Begriff recht alt.[43]
Die Etymologie von *metoduz. Germanisch *metoduz leitet man von indogermanisch *med- „messen“[43][44] ab. Es ist erhalten in altnordisch mjötuðr, angelsächsisch meotod und altsächsisch metud. In allen drei Sprachen bedeutete es „Schicksal“. Seine wortwörtliche Bedeutung hat man früher oft mit „das (Zu)Gemessene“ wiedergegeben.[45] Die Christen verwendeten das Wort manchmal aber auch im Sinne von „Schicksalsmacht“ und bezeichneten damit Gott oder die Macht Gottes.[43] Zum Beispiel drückt ein christlicher Hymnus im England des 7. Jahrhunderts durch den Begriff metudaes maecti „Gottes Macht“ aus. Daraus folgt, dass Gott der meotod ist, der das Schicksal zuweist.[10] Zudem hat das Wort in allen drei Sprachen ein männliches Geschlecht, auch in der unpersonalen Bedeutung als „Schicksal“. *Metoduz meint deswegen offenbar eine männlich gedachte „Zumesser-Macht“, also „den, der das Schicksal zumisst“.[43][44][46][47][48] |
Natürlich gibt es auch Mutmaßungen darüber, welche mythologische Gestalt sind hinter diesem Schicksalszumesser verbergen könnte. Vereinzelt ist man in der Forschung der Ansicht, dass damit der nordische Riese Mimir gemeint ist, da er eng mit der Weissagung des Schicksals verbunden ist und sein Name auch auf dieselbe indogermanische Wurzel *med- wie *metoduz zurückgeführt werden kann.[49]
Unpersönliche Schicksalsmacht
Durchaus möglich ist, dass die Germanen sich die Schicksalsmacht ursprünglich unpersönlich vorstellten. Ein Teil der (zumeist älteren) Forschung stützt sich hierfür auf die Wortetymologie des germanischen Begriffs *uzlagam „Schicksal, Krieg, Kampf“ (siehe Etymologie). Des Weiteren lassen die hochmittelalterlichen, isländischen Sagas eine Tendenz zur Entpersonifizierung der Schicksalsmacht erkennen. Doch hat die Forschungsgeschichte des Schicksalsbegriffs *wurdiz gezeigt, dass man ein rekonstruiertes Schicksalskonzept nicht allein auf einer Wortetymologie aufbauen sollte (siehe unten), zum anderen ist der zeitliche und kulturelle Abstand zwischen den hochmittelalterlichen Sagas und dem Urgermanentum zu groß, um beides unmittelbar miteinander in Zusammenhang bringen zu können. Letztlich gibt es keine sicheren Quellen, die Anhaltspunkte dafür liefern, dass die heidnischen Germanen sich die Schicksalsmacht unpersönlich vorgestellt haben.[47]
B A U S T E L L E Die Etymologie von *uzlagam. Das germanische Neutrum *uzlagam „Schicksal, Geschick“ setzt sich zusammen aus der Vorsilbe *uz „(her)aus“ und dem Hauptwort *lagam „Lage“,[50] das von indogermanisch *legh- „legen“ abstammt. Wortwörtlich bedeutet *uzlagam somit „das Ausgelegte“. Seine Nebenbedeutung war „Krieg“, was im altsächsischen schließlich sogar zur Hauptbedeutung wurde. In manchen indogermanischen Folgesprachen nahmen Wörter um den Wortstamm von *legh- jedoch die Bedeutung „Gesetz“ an, so in lateinisch lex, angelsächsisch lagu (das sich zu englisch law weiterentwickelte), mittelniederdeutsch lach und altnordisch lög.[51] Neumann übersetzt das Wort deswegen nahe an dieser Bedeutungsentwicklung als „das Festgelegte, das Festgesetzte“.[52] Einige Forscher interpretieren die Vorsilbe uz „(her)aus“ jedoch im Sinne von „erstes, ursprüngliches“ und deuten *uzlagam als „Urgesetz“ (Kauffmann),[53] „oberstes Gesetz“[54] oder „höchste Bestimmung“ (Gehl).[55] Nach einem anderen Deutungsansatz könnte das Wort die Bedeutung von „Schicksal“ angenommen haben wegen der beim Losen ausgelegten Stäbchen, die Tacitus in der Germania beschreibt (von Kienle).[56] Letztlich ist man sich in der Forschung über die Bedeutung des Worts noch nicht einig geworden. |
Wesen des Schicksals
Die Inhalte der germanischen Schicksalsidee sind wegen der Quellenlage (siehe Einleitung) kaum greifbar. Die nachstehenden Grundzüge können jedoch mit mehr oder weniger sicherer Wahrscheinlichkeit als heidnisch-germanisch angesehen werden.
Unter Schicksal verstand (und versteht) man das Verhängnis eines Menschen, das ihm unabwendbar von einer höheren Macht auferlegt wird und sein Leben entscheidend bestimmt, ohne dass man erkennen könnte, warum ihm das geschieht.
Dabei handelt es sich um Geschehnisse die einschneidend wie Wendepunkte in das Leben eines Menschen eingreifen. Dies kann man auch in der Etymologie des Schicksalbegriffs der *wurdiz sehen, die wörtlich „das gerade Werdende“ bedeutet, der aus einem indogermanischen Wortstamm mit der Bedeutung „drehen, sich wenden“ abgeleitet ist (siehe Etymologie von *wurdiz).
Schicksal verwirklicht sich dabei wie ein Naturgesetz, so dass nur das geschieht, was letztlich geschehen muss, weil schon feststand, was zu geschehen hat.[46] Deutlich wird das durch viele Äußerungen in den alten Texten wie zum Beispiel im Beowulf:
“Gæð a wyrd swa hio scel.”
„Schicksal geht immer so, wie es muss.“
Diese Idee findet man in der Nähe des Schicksalsbegriffs *uzlagam zur Bedeutung „Gesetz“.
Der Vollzug des Schicksals wird (zumindest in der Heldendichtung) vom Schicksalseigner erkannt und als Schicksal erfahren. Dabei geht es nicht um eine rationale Folgerichtigkeit, sondern um eine, die emotional so empfunden wird.[14]
Dabei muss Schicksal nicht zwangläufig nur negativ sein, sondern kann sich auch in einer positiv erfahrenen Auswirkung auf das Leben äußern. Es ist grunsätzlich nach beiden Seiten offen.
„Die Nornen bestimmen das Gute und das Schlechte,
Mir haben sie großes Leid gebracht.“
Dennoch spricht man vom Schicksal meist im Zusammenhang mit negativen Erfahrungen, wie schon allein die Nebenbedeutungen der Schicksalsbegriffe *wurdiz und *uzlagam, die auch „Tod“ oder „Krieg“ bedeuten konnten, entnehmen kann.
Wesentlich ist für die Schicksalsidee, dass man die Verwirklichung des Schicksals nicht verhindern kann.[57] Der menschliche Wille kann durchaus dagegenstehen und sich dagegenstemmen,[29] doch empiehlt es sich, möglichst im Einklang mit dem eigenen Schicksal zu sein.[58] Verwirklicht sich unabwendbares Schicksal, ist das kein Zufall.[57]
Eine weitere wesentliche Schicksalsidee besteht darin, dass jedem Menschen bei (oder kurz nach) Geburt ein Schicksal zugewiesen wird.[29] In der Völuspá betont der Dichter, dass die ersten beiden Menschen, Ask und Embla, bevor sie zu Menschen wurden, noch ohne Schicksal waren. Die Götter schufen zwar nach ihm die ersten Menschen, doch das Schicksal der Menschen bestimmten die Nornen.
- „þær lög lögðo
- þær líf kuro
- alda bornom
- – Völuspá, Vers 20
- „Sie [die Nornen] legten Bestimmungen fest,
- sie wählten das Leben
- den Menschenkindern.“
- Übersetzung von N.N.
Sein künftiges Schicksal kann man durch Vorzeichen oder Losen erfahren. [B A U S T E L L E]
Schicksalsglaube
Etwa in der Zeit des Dritten Reichs (1933–1945) wurde in der Wissenschaft die Frage heiß diskutiert, ob die Germanen so an das Schicksal geglaubt hatten wie an ihre Götter (germanischer Schicksalsglaube). Überwiegend in Deutschland erschienen damals eine Reihe von Arbeiten zu diesem Thema (unter anderem Hans Naumann, Walter Baetke, Walther Gehl, Werner Wirth),[59] die aber nicht alle im Zeichen des Nationalismus standen.
Da aus der Völuspá hervorgeht, dass auch die Götter ein Schicksal haben, das sie nicht abwenden können und gegen das sie wie die Menschen machtlos sind, folgerte man im Umkehrschluss, dass es (zumindest) in der nordischen Mythologie eine Macht gab, die über den Göttern stand. Auf der Suche nach dieser Supermacht stellte man fest, dass die wichtigste der drei Nornen, Urd (altnordisch Urðr) eine Entsprechung in der altenglischen Wyrd hat, die nicht nur sprachlicher, sondern auch inhaltlicher Natur ist. Altnordisch urðr und angelsächsisch wyrd konnten sowohl als Abstrakta für das Schicksal als auch personifiziert für eine weiblich gedachte Schicksalsmacht stehen. Aus diesem Grund schien der Beweis erbracht, dass Urd/Wyrd auf eine Schicksalsgöttin aus urgermanischer Zeit zurückging. Überwiegend gingen die Forscher davon aus, dass die Germanen an diese Schicksalsmacht religiös geglaubt haben.
Aus dem vergeblichen Kampf der Götter gegen ihren Untergang (altnordisch ragnarökr) und zahlreichen vergleichbaren Schilderungen aus den Heldenepen und isländischen Sagas, leitete dann Hans Naumann als germanische Grundhaltung den heroischen Pessimismus ab. Der Germane ergibt sich danach nicht tatenlos seinem unabwendbaren Schicksal, sondern stemmt sich mit aller Macht dagegen und geht so heldenhaft in den ihm vorbestimmten Tod.[60] Diese Ideen fanden auch Beifall unter den Nationalsozialisten, die sie für ihre Zwecke wirkungsvoll einzusetzen wussten. Hermann Göring verglich beispielsweise den so schicksalshaften wie heldenhaften Untergang der Burgunden im Nibelungenlied mit dem Untergang der 6. deutschen Armee in der Schlacht von Stalingrad, von dem man noch in 1.000 Jahren mit heiligem Schauer sprechen werde.[61]
In den fünfziger und sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunders erschienen zwar nur wenige Arbeiten zum Thema, jedoch stellten sie das bisherige Bild der Wissenschaft auf den Kopf (Eduard Neumann, Ladislaus Mittner, Gerd Wolfgang Weber). Nach näherer Untersuchung der christlichen Einflüsse auf die vorhandenen Quellen, stellte sich heraus, dass sie bei den Heldenliedern und Sagas, die tiefere Einblicke in die mittelalterliche Schicksalswelt erlauben, nicht abschätzbar sind.[62] Auch stellte sich zur großen Überraschung heraus, dass es die urgermanische Schicksalsgöttin Urd/Wyrd nicht gegeben hatte. Wyrd erwies sich als eine rein christliche Schöpfung, die vom Verständnis der antiken Fortuna bestimmt war (Gerd Wolfgang Weber).[9][63] Auch stammten die Namen aller drei Nornen erst aus dem Hochmittelalter (siehe oben).
Doch haben die drei Nornen eine volkskundliche Entsprechung in drei namenlosen Schicksalsfrauen, die im germanischen Raum weit verbreitet sind. Darüber hinaus zeigen die Edda-Literatur und die Sagas eine Tendenz zu einer religiösen Auffassung des Schicksals.[9] Letztlich lässt sich nach heutigem Stand der Wissenschaft ein germanischer Schicksalsglaube weder belegen noch ausschließen.
Die Etymologie von *wurdiz. Das germanische Femininum *wurðiz „Schicksal, Geschick“ setzt sich zusammen aus *wurð und einem i-Suffix und bedeutet wortwörtlich „das soeben Werdende“, womit zugleich „das ewige Werden“ ausgedrückt wird.[44] *Wurð leitet sich ab vom germanischen Verb *werþan „werden“, das wiederum von indogermanisch *uer(t)- „(um)drehen, wenden“ abstammt. Werden bedeutete demnach ursprünglich „(sich) drehen, wenden“, woraus sich die Bedeutung „sich zu etwas wenden, zu etwas werden“ entwickelte. Daraus schließt man, dass in *wurðiz noch die Vorstellung mitschwingt, dass die Zeit in wiederkehrenden Zyklen voranschreitet. Das heißt, dass die Zukunft wieder in die Vergangenheit mündet, vergleichbar der Drehung des Schicksalrads.[64]
Im Angelsächsischen bezeichnete man in heidnischer Zeit mit wyrd unbestimmt die Erfahrung eines folgenschweren Geschehens, das man selbst nicht bewirkt hatte. Gleichzeitig konnte wyrd aber auch ohne negative Wertung genutzt werden, um ein Geschehen oder Ereignis auszudrücken.[65] In christlicher Zeit stand wyrd dann überwiegend für ein Geschehen als Ausdruck des ununterbrochenen Wandlungsprozesses der Schöpfung nach dem göttlichen Heilsplan.[66] Erst ab mittelalterlicher Zeit wurde angelsächsisch wyrd und altnordisch urðr auch personal verwendet. In der westnordischen Mythologie ist die Norne Urðr (Urd) eine der drei Nornen, die das Schicksal verkörpern (siehe Abschnitt: Die Schicksalsmacht). In England hingegen bezeichnete Wyrd auch eine Personifikation des Schicksals, es kam aber nicht zu einer Identifikation mit einem Figurentyp der germanischen Mythologie.[67] |
Literatur
In der Reihenfolge des Erscheinungsjahrs.
- Friedrich Kauffmann: Über den Schicksalsglauben der Germanen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Bd. 50. 1926, S. 361–408.
- Mathilde von Kienle: Der Schicksalsbegriff im Altdeutschen. In: Wörter und Sachen, 15, 1933, S. 81-111.
- Hans Naumann: Germanischer Schicksalsglaube. Verlag Eugen Diederichs, Jena 1934.
- Walter Baetke: Germanischer Schicksalsglaube. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 10. 1934, S. 226–236.
- Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 2: Religion der Nordgermanen. Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin, Leipzig 1937.
- Walther Gehl: Der germanische Schicksalsglaube. Junker und Dünnhaupt Verlag, Berlin 1939.
- Werner Wirth: Der Schicksalsglaube in den Isländersagas. In: Veröffentlichungen des Orientalischen Seminars der Universität Tübingen, 11. Stuttgart 1940.
- Eduard Neumann: Das Schicksal in der Edda, Bd. 1: Der Schicksalsbegriff in der Edda. Verlag W. Schmitz, Gießen 1955.
- Ladislao Mittner: Wurd: Das Sakrale in der altgermanischen Epik. Verlag Francke, Bern 1955.
- Johannes Rathofer: Der Heliand. Theologischer Sinn als tektonische Form. Vorbereitung und Grundlegung der Interpretation. Böhlau Verlag, Köln–Graz 1962. In: William Foerste (Hrsg.): Niederdeutsche Studien, Bd. 9. Böhlau Verlag, Köln–Wien 1962, S. 129–169 (Schicksalsbegriff im Heliand.) PDF Online.
- Willy Sanders: Glück. Zur Herkunft und Bedeutungsentwicklung eines mittelalterlichen Schicksalsbegriffs. Böhlau Verlag, Köln–Graz 1965. In: William Foerste (Hrsg.): Niederdeutsche Studien, Bd. 9. Böhlau Verlag, Köln–Wien 1965. PDF Online.
- Åke Viktor Ström: Scandinavian Belief in Fate In: Fatalistic Beliefs. Stockholm 1967, S. 65–71 (oder 63–88).
- Gerd Wolfgang Weber: Wyrd – Studien zum Schicksalsbegriff der altenglischen und altnordischen Literatur. Verlag Gehlen, Bad Homburg – Berlin – Zürich 1969.
- Albrecht Hagenlocher: Schicksal im Heliand. Verwendung und Bedeutung der nominalen Bezeichnungen. Böhlau Verlag, Köln–Wien 1975. In: Jan Goossens (Hrsg.): Niederdeutsche Studien, Bd. 21. Münster/Westf. 1975. PDF Online.
- Åke Viktor Ström, Haralds Biezais: Germanische und Baltische Religion. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1975, ISBN 978-3-170-01157-1, S. 249–260.
- Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe – Early Scandinavian and Celtic Religions. Manchester University Press, 1988, ISBN 978-0-7190-2579-2. In Auszügen Online.
- Mogens Brönsted: Dichtung und Schicksal. Eine Studie über ästhetische Determination. Verlag des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Innsbruck, Innsbruck 1989, ISBN 978-3-851-24132-7, S. 173–176.
- Wolfgang Meid: Die germanische Religion im Zeugnis der Sprache. In: Band 5 von Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 1992, S. 490 f.
- Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6. Online, S. 8–10.
- Anthony Winterbourne: When the Norns Have Spoken. Fairleigh Dickinson University Press, Madison 2004, ISBN 978-1-611-47296-7.
- Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. 3. Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-520-36803-4.
Einzelnachweise
- ↑ Tacitus, Germania, 10
- ↑ Walter Baetke: Germanischer Schicksalsglaube. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 10. 1934, S. 226
- ↑ René L. M. Derolez: De Godsdienst der Germanen. 1959, deutsch: Götter und Mythen der Germanen, übersetzt von Julie von Wattenwyl, Verlag Suchier & Englisch, 1974, S. 218 f.
- ↑ orlag bedeutete im Altsächsischen nicht mehr Schicksal, sondern nur noch Krieg.
- ↑ gaskapam bedeutete im Germanischen noch nicht Schicksal.
- ↑ Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum, II 13
- ↑ Vergleiche Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 132 f., der diesen Gedanken für das altenglische wyrd entwickelt: Die Weiterverwendung von wyrd durch christliche Autoren beweist, dass wyrd keine heidnische Schicksalsmacht bezeichnete, sondern ein Begriff ohne konkrete heidnisch-religiöse Vorbelastung war.
- ↑ Albert Hagenlocher: Schicksal im Heliand. 1975, S. 218–220
- ↑ a b c d e Rudolf Simek: Schicksalsglaube, RGA 27, S. 9
- ↑ a b c Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen – Ritual, Magie, Kult, Mythus. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3-451-04145-6, S. 112
- ↑ Hermann Reichert: Held, Heldendichtung und Heldensage. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde – Bd. 14. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York, 1999, S. 269
- ↑ Mogens Brönsted: Dichtung und Schicksal. Eine Studie über ästhetische Determination. Verlag des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Innsbruck, Innsbruck 1989, S. 174 f.
- ↑ Willy Sanders: Glück. 1975, S. 38
- ↑ a b c Mogens Brönsted: Dichtung und Schicksal. Eine Studie über ästhetische Determination. Verlag des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Innsbruck, Innsbruck 1989, S. 173
- ↑ Willy Sanders: Glück. 1975, S. 36
- ↑ Willy Sanders: Glück. 1975, S. 42, 45
- ↑ Lieder-Edda: Völuspá 17
- ↑ Lieder-Edda: Völuspá 20
- ↑ Lieder-Edda: Völuspá 31 f.
- ↑ Lieder-Edda: Völuspá 44 f.
- ↑ Lieder-Edda: Völuspá 44
- ↑ Lieder-Edda: Völuspá 46
- ↑ Jacob Grimm: Deutsche Mythologie, 3 Bände. 4. Auflage. 1875–1878. Neuauflage Marix Verlag, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-86539-143-8, S. 636 [alt: Band 1+2, S. 714]
- ↑ Bernhard Maier: Die Religion der Germanen – Götter, Mythen, Weltbild. Verlag Beck, München 2003, ISBN 978-3-406-50280-4, S. 62 f.
- ↑ Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen – Ritual, Magie, Kult, Mythus. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3-451-04145-6, S. 113 f.
- ↑ Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe, 1988, S. 163 ff.
- ↑ a b Walter Baetke: Germanischer Schicksalsglaube. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 10. 1934, S. 228
- ↑ Simek, 2006, S. 272
- ↑ a b c Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 251
- ↑ Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 2, 1937, § 145
- ↑ a b c d e Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, 2006, S. 307 „Nornen“
- ↑ Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 150
- ↑ a b Bernhard Maier: Die Religion der Germanen – Götter, Mythen, Weltbild. Verlag Beck, München 2003, ISBN 978-3-406-50280-4, S. 62
- ↑ Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, 2006, S. 465 „Verdandi“
- ↑ Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, 2006, S. 387 „Skuld“
- ↑ So noch beispielsweise Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 2, 1937, § 314.
- ↑ Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 65 f., 126, 132, 148, 155. Im Ergebnis gleich und sich dabei auf Weber stützend: Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, 2006, S. 494 „Wyrd“
- ↑ Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 151 f.
- ↑ Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 1, 1937, § 132 weist die Matronen auch als Schicksalsgöttinnen aus und vergleicht sie mit den Disir und teilweise mit den Nornen.
- ↑ Vergleiche auch Rudolf Simek: Schicksalsglaube, 2004, S. 9 der es dort als möglich ansieht, dass die drei Schicksalsgöttinnen älteren Datums sind.
- ↑ Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 153 spricht sich wegen nordischer? Volkssagen und -glauben eindeutig dafür aus, dass die drei Schicksalsfrauen auf alten Vorstellungen beruhen.
- ↑ Vergleiche Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 1, 1937, § 132, der ein Fortleben der Matronen in den drei Marien für möglich hält.
- ↑ a b c d Rudolf Simek: Schicksalsglaube, RGA 27, S. 10
- ↑ a b c Wolfgang Meid: Die germanische Religion im Zeugnis der Sprache. In: Heinrich Beck, Detlev Ellmers, Kurt Schier (Hrsg.): Germanische Religionsgeschichte – Quellen und Quellenprobleme – Ergänzungsband Nr. 5 zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-110-12872-7, S. 491
- ↑ Walter Baetke: Germanischer Schicksalsglaube. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 10. 1934, S. 70. Weitere Beispiele bei Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 249, FN 6
- ↑ a b Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 249
- ↑ a b Rudolf Simek: Schicksalsglaube, RGA 27, S. 9 f.
- ↑ Jan de Vries: Altnordisches Etymologisches Wörterbuch. 2. Auflage. Brill Archive, 1957, Bd. 1, S. 390.
- ↑ Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 254
- ↑ Gerhard Köbler: Germanisches Wörterbuch. 3. Auflage. 2003
- ↑ Vergleichendes Wörterbuch der indogermanischen Sprachen. 1894, Band 3, S. 424 f.
- ↑ Eduard Neumann: Das Schicksal in der Edda. 1955, Bd. 1, S. 38 f.
- ↑ Friedrich Kauffmann: Über den Schicksalsglauben der Germanen, 1926, S. 382
- ↑ Anthony Winterbourne: When the Norns Have Spoken, 2004, S. 90 f.
- ↑ Walther Gehl: Der germanische Schicksalsglaube, 1939, S. 23. Ihm zustimmend: Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 249.
- ↑ Mathilde von Kienle: Der Schicksalsbegriff im Altdeutschen. In: Wörter und Sachen 15, 1933, S. 81-111. – Walther Gehl: Der germanische Schicksalsglaube, 1939, S. 23. – Günter Kellermann: Studien zu den Gottesbezeichnungen der angelsächsischen Dichtung. Dissertation, Münster 1954, S. 232
- ↑ a b Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 250
- ↑ Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 255
- ↑ Übersicht bei Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 249
- ↑ Bernhard Maier: Die Religion der Germanen – Götter, Mythen, Weltbild. Verlag Beck, München 2003, ISBN 978-3-406-50280-4, S. 149 – Hans Naumann: Germanischer Schicksalsglaube. Jena 1934.
- ↑ Bernhard Maier: Die Religion der Germanen, 2003, S. 149 f.
- ↑ Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6, S. 8 f. – Heinrich Reichert: Held, Heldendichtung und Heldensage, § 2-6. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 14. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-11-016423-7, S. 269
- ↑ Gerd Wolfgang Weber: Wyrd. Studien zum Schicksalsbegriff der altenglischen und altnordischen Literatur. 1969.
- ↑ Wolfgang Meid: Die germanische Religion im Zeugnis der Sprache. In: Heinrich Beck, Detlev Ellmers, Kurt Schier (Hrsg.): Germanische Religionsgeschichte – Quellen und Quellenprobleme – Ergänzungsband Nr. 5 zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-110-12872-7, S. 490 f.
- ↑ Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 132 f.
- ↑ Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 146
- ↑ Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 145